Keith
7. KAPITEL
Jameson kam in diesen frühen Morgenstunden nicht zum Duschen. Er beobachtete sie viel zu lange, vergaß sich selbst angesichts ihrer langen Locken, die glänzten wie Satin, und der unergründlichen Facetten ihrer Augen. Immer wieder musste er sie anschauen, bis schließlich der Tag ihn mit dem Morgengrauen überraschte. Sie hatte getrunken, war in das übergroße Bett geschlüpft und fast auf der Stelle eingeschlafen; und er beobachtete sie noch immer.
Gerade noch rechtzeitig schaffte er es zum Sofa im Nebenzimmer. Am Fußende ihres Betts einzuschlafen wie ein gehorsamer Diener, der zu Füßen seiner Herrin ruhte, für die er sterben würde, war wahrscheinlich nicht so sinnvoll.
Als die Sonne wieder unterging, erhob er sich, bevor sie erwachte. Er ging ins Bad, ohne ihr auch nur im Vorübergehen einen Blick zuzuwerfen. Während das warme Wasser über seinen Körper rann, musste er sich mehrmals daran erinnern, dass er sie hasste. Und sie ihn. Er begehrte sie nur so sehr, weil er sein Blut mit ihr geteilt hatte. Und nur deshalb träumte er von ihr, obwohl der Tagesschlaf tief und traumlos sein sollte.
Als er sich dessen hinreichend versichert hatte, schlüpfte er in einen Morgenmantel aus Frottee und rieb sich das nasse Haar mit einem Handtuch ab, während er das kleine Bad verließ. An der Tür blieb er jedoch stehen, denn Angelica betrachtete mit einem vollkommen verwirrten Gesichtsausdruck und zusammengezogenen Brauen die Sammlung der Kleidungsstücke im Schrank. Heute Abend hatte ihre Haut mehr Farbe. Der Tag Ruhe schien Wunder gewirkt und sie verjüngt zu haben. Sie machte einen kräftigeren Eindruck. Die Knochen standen nicht mehr ganz so deutlich vor, ihr Gesicht wirkte nicht mehr so eckig, sondern oval, mit Wangenknochen, für die jede Schauspielerin gestorben wäre.
„Stimmt was nicht?“, fragte er und konzentrierte sich auf das Naheliegende.
Sie zuckte zusammen, als hätte seine Anwesenheit sie überrascht. Sie musste sich wirklich mit ihren neuen, geschärften Sinnen vertraut machen und lernen, wie sie sie benutzte. Denn sie hätte ihn spüren, seinen Blick auf sich fühlen müssen. Doch sie reagierte wie eine Sterbliche.
„Die … die sind alle so … normal.“
„Was hast du denn erwartet? Schwarze Satincapes mit Stehkragen und scharlachrotem Futter?“ Er warf das Handtuch im Vorbeigehen auf das Fußende des Bettes, stellte sich hinter sie und betrachtete die Kleidungsstücke über ihre Schulter hinweg.
„Natürlich nicht.“
„Na klar. Verdammt, ich kenne nur noch einen Vampir, der so ein Cape trägt, und das auch nur, weil er dramatische Auftritte liebt.“ Er ging an ihr vorbei und zog einen lila Kaschmirpullover von der Ablage. Einen von Tamaras alten. Bescheiden und demütig und reizend wie sie. Er würde der Frau passen … wenigstens von der Größe her. Und die Farbe entsprach fast der ihrer Augen, auch wenn keine von Menschen hergestellte Farbe je diesen funkelnden Amethysten gleichkommen würde. Jameson blinzelte und schüttelte sich. „Hier. Das genügt für heute Nacht.“ Er ging die Kleiderbügel durch. „Und dazu ein Paar Jeans. Was für eine Größe?“
„Größe?“
„Die Jeans“, sagte er und blieb mit einer schwarzen Levi’s in der Hand stehen. Da sie nicht antwortete, drehte er sich zu ihr um. „Also?“
„Ich … bin nicht sicher.“
Jameson sah sie stirnrunzelnd an. „Wie kann jemand seine Kleidergröße nicht wissen?“, fragte er. Dann kniff er die Augen zusammen. „Sag mir nicht, dass du zu den Frauen gehörst, die keinem Mann ihre Kleidergröße verraten.“
„Das wäre übertriebene Eitelkeit“, erwiderte sie und wich seinem Blick aus. „Es ist einfach schon eine ganze Weile her, seit ich Bluejeans getragen habe.“
Diese geheimnisvolle Frau wurde immer mysteriöser. „Und wie das, Angelica?“
Sie hob ruckartig und mit misstrauischem Blick den Kopf.
„Ich meine, was für Sachen hast du denn getragen? Vielleicht finde ich etwas, woran du gewöhnt bist.“
In dem Moment schien ihm, als würde sie im nächsten Moment lächeln. Nicht dass sie tatsächlich lächelte. Keineswegs, dennoch sah er einen Anflug von Heiterkeit in ihren Augen. „Das dürfte man vermutlich nicht im Schrank eines Vampirs finden. Jeans sind okay.“
Doch so schnell gab Jameson sich nicht geschlagen. „Als ich dich das erste Mal gesehen habe, hast du eine Art Kleid getragen. Allerdings … hatte ich da noch nicht die übernatürliche Nachtsicht. Und es war ziemlich dunkel. Ich erinnere mich, dass es schwarz und ziemlich weit war wie eine …“
„Ich geh jetzt duschen“, unterbrach sie ihn und versuchte gar nicht erst, so zu tun, als wäre es unabsichtlich geschehen. „Eigentlich ist mir herzlich egal, was ich trage. Ich will mich nur beeilen, damit wir endlich nach meinem Kind suchen können.“ Sie nahm die Jeans vom Haken, drehte sich um, ging hastig durch den Raum und schloss die Badezimmertür hinter sich.
In diesem Moment dachte Jameson zum ersten Mal an die Nacht zurück, in der sie ihn beinahe getötet hätte. Dachte wirklich daran zurück. Oh, er hatte schon früher daran gedacht. Viel öfter, als er zugeben wollte. Aber stets nur daran, wie sie sich angefühlt hatte, wie sie sich dicht an ihn geschmiegt hatte, während sie mit dem zierlichen Mund an seinem Hals saugte. Seine Gefühle …
Jetzt musste er sich auf etwas anderes konzentrieren. Details. Andere Sinne als die, die seine Libido geweckt hatte. Er ging zum Bett, setzte sich und spielte im Geiste alles noch einmal durch, vom ersten Augenblick an. Das verfilzte Haar. Das schmutzige Gesicht. Die eingefallenen Wangen und leeren lila Augen. Und das zerrissene schwarze … Kleid … aber war es überhaupt ein Kleid gewesen?
In den knochigen Händen hielt sie Perlen oder so etwas. Perlen, mit denen sie gespielt hatte, die sie jedoch abrupt fallen ließ, als er sie ansprach. Perlen … die sie eine nach der anderen zwischen den Fingern hielt. Eine hielt, darüberstrich und murmelte, ehe sie die nächste nahm. Und sie waren …
Mein Gott. Die Perlen eines Rosenkranzes? Und das schwarze Kleid hätte eine … Tracht sein können. Himmel, konnte das sein? War Angelica im Leben eine Art … Nonne gewesen? Im Leben, ja, bis zu dem Augenblick ihrer Verwandlung, andernfalls hätte sie die Tracht sicher nicht mehr getragen.
Sie hatte ihn einen Ketzer genannt. Von Eitelkeit gesprochen. Und sie schien so verdammt besorgt wegen Gott und Satan, Gut und Böse und Verdammnis. Endlich ergab alles einen Sinn. Jameson hob ganz langsam den Kopf und sah zur Badezimmertür. Dahinter hörte er Wasser rauschen und, kaum vernehmlich, ihren Gesang, ganz leise. „Amazing Grace.“ Dann übertönte Tamaras Föhn den Gesang.
Er saß immer noch da, völlig verwirrt angesichts dieser Erkenntnis, als sie einige Zeit später in Pullover und Jeans aus dem Bad kam. Und er war entschlossener denn je, die Wahrheit zu erfahren. Doch ein Teil von ihm versuchte, seiner Neugier einen Riegel vorzuschieben. Der Teil von ihm, der genau wusste, dass sie unter diesem Pullover nichts mehr trug. Einen BH hatte er ihr nicht gegeben, war nicht einmal sicher, ob Tamara so etwas hier überhaupt noch aufbewahrte, und selbst wenn er welche in dem Schrank gefunden hätte, hätte er unmöglich die Größe abschätzen können. Sein Blick fiel auf ihre Brüste, an denen der Kaschmirstoff klebte, weil sie noch feucht waren. Und er sah ihre Umrisse sehr deutlich darunter. Die Brustwarzen stießen gegen den Stoff, wölbten ihn leicht, eine Reaktion auf dessen raue und zugleich weiche Beschaffenheit.
Er leckte sich die Lippen.
Sie blieb auf halbem Weg durch den Raum wie erstarrt stehen und wartete. Er zwang sich, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu schauen. Und da wusste er, sie war nicht peinlich berührt von der Situation. In ihren Augen sah er nur eines: Erregung. Gier.
Wieder fuhr seine Zunge gedankenverloren über seine Lippen. Er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren, durfte sich nicht ablenken lassen. War sie … wofür er sie hielt … oder es gewesen?
Jameson räusperte sich. „Ich habe mich gefragt, Angelica … ob ich dich vielleicht mit Schwester Angelica anreden sollte?“
Sie reagierte gut auf die Frage, das musste er ihr lassen. Ein kurzes Durchatmen, ein Blinzeln, mehr verriet nicht, dass sie einen schweren Schlag erhalten hatte. „Wenn ich das Gelübde abgelegt hätte, wäre ich Schwester Mary Elizabeth geworden. Aber da es dazu nicht kam, bin ich immer noch nur Angelica.“
„Also doch kein richtiger Engel“, witzelte er. Dann sah er ihren Gesichtsausdruck und bereute es fast. „Du warst also Novizin?“
„So ähnlich.“ Sie kam näher und bürstete dabei weiter ihr glänzendes, absolut prachtvolles Haar. Eine unglaubliche Mähne. Dick und wild und lang. Das Haar einer Göttin. Oder eines Engels. Eines dunklen Engels.
„Von welchem Orden?“
Sie hörte nicht auf zu bürsten, als sie sich umdrehte. „Warum stellst du so viele Fragen über mich, Vampir? Du hasst mich und gibst mir die Schuld an allem, was passiert ist. Warum willst du das also alles wissen?“
„Du … hast mein Kind ausgetragen. Ist es da nicht ganz natürlich, dass ich neugierig bin?“
„Nichts an dir ist natürlich.“
„Und das weißt du ohne jeden Zweifel, ja? Bist du auch ganz sicher, dass du nur eine Novizin warst und nicht der allmächtige Gott?“
Ihre Augen blitzten. „Wie kannst du es wagen!“
„Also, deine Urteile fällst du jedenfalls, als wärst du Er, sosehr du es auch bestreiten magst. Ich wollte mich nur vergewissern.“
Sie entfernte sich mit schnellen, wütenden Schritten von ihm. Sie war jetzt stärker. Vielleicht etwas mehr sie selbst. Die Nahrung hatte die Form ihres Gesichts und den Glanz des Haars wiederhergestellt. Und das Leuchten ihrer Augen. Und ihren federnden Schritt.
Mit der wallenden Mähne, den blitzenden Augen, den sündig engen Jeans und dem gleichermaßen knappen Pullover konnte man sie sich eher als Playmate denn als Schwester vorstellen.
Herrgott, er wollte sie so sehr.
„Ich will jetzt los. Ich will mein Baby finden. Ich hab dich und deine Neugier satt. Was machen wir, um sie zu finden? Wo fangen wir an?“
Er fixierte sie eine ganze Weile. Jetzt, wo sie kräftiger und gesünder war, sollte es ihm eigentlich leichter fallen, sie zu hassen. Aber es gelang ihm nicht. Warum war es so schwierig?
Trotz allem, was ihn so sehr ablenkte, musste er sie endlich über die mögliche Natur ihres gemeinsamen Kindes in Kenntnis setzen. Er konnte nicht sagen, was sie wirklich erwartete, wenn sie das Kind gefunden hatten, aber sie sollte auf den Fall der Fälle vorbereitet sein.
„Bevor wir anfangen“, sagte er deshalb betont langsam, „gibt es da etwas … und ich bin nicht sicher, ob du dir Gedanken darüber gemacht hast. Etwas, worauf du dich vorbereiten musst, Angelica.“
Sie runzelte die Stirn. „Du machst mir Angst, Vampir. Was immer es ist, sag es mir, damit wir uns auf den Weg machen können.“
Jameson wich ihrem Blick aus. Er machte sich schon seit Tagen Gedanken über den möglichen Zustand des Kindes. Anfangs war es ein schwerer Schlag für ihn gewesen. Aber er befand sich unter Freunden. Leuten, die ihn gernhatten, es ihm behutsam erklärten und für ihn da sein würden, was auch immer geschah.
Für sie wäre es bestimmt viel schlimmer. Sie war allein, abgesehen von einem Mann, den sie mit jedem Atemzug mehr verabscheute.
Er wappnete sich und sah ihr jetzt in die Augen. Sie funkelten wie Amethyste im Kerzenlicht. Atemberaubend. „Bis heute hat noch nie eine Vampirin ein Kind geboren. Keine … von der ich wüsste, jedenfalls.“ Sie blinzelte. Mehr nicht. „Angelica, wir wissen nicht, was uns erwartet … wenn wir unser Baby finden.“
„Was … uns erwartet?“
„Ob sie sterblich ist … oder unsterblich. Oder eine Mischung aus beidem. Ob …“
„Nein.“ Sie wich stolpernd zwei Schritte zurück, dann hielt sie sich an einer Stuhllehne fest und krallte die Finger in den Stoffbezug.
„Ich hoffe bei Gott, dass sie ein normales Kind ist, Angelica, aber das wissen wir erst, wenn wir sie sehen. Es wäre tragisch, wenn …“
„Deine Art“, flüsterte sie, „die werden nie älter?“
Wieder bestätigte sich seine Vermutung, dass sie nichts über ihre Gattung wusste. „Nein. Unsere Art wird nie älter.“
„Sie wäre ihr Leben lang im Körper eines Säuglings gefangen?“ Angelica schüttelte den Kopf hastig von einer Seite zur anderen. „Nein, das wäre zu grässlich. Es kann nicht sein.“
„Es muss auch nicht so sein. Ich wollte … dich nur warnen. Für den Fall …“
Sie hob den Kopf und sah ihn mit ihren großen, klaren, wild dreinblickenden Augen an. „Gott wird das nicht zulassen. Nicht sie. Es ist genug … heiliger Jesus, es ist genug, dass er mich so bestraft hat. Aber nicht mein Baby. Sie ist ein normales kleines Mädchen, bestimmt. Ich weiß es.“
Hatte er sie für schwach gehalten? Körperlich vielleicht. Aber in keiner anderen Hinsicht. Das bestätigte sich nun. Im Augenblick sah sie wie ein Racheengel aus. Und er nickte zustimmend. „Du hast recht. Mit ihr ist alles in Ordnung. Ganz sicher. Ich habe mir umsonst Sorgen gemacht.“
In dem kurzen Moment dieses Blickkontaktes geschah etwas zwischen ihnen. Eine Verbindung wurde hergestellt. Ihre Seelen berührten sich, fanden zueinander. Dann wandte sie sich ab, und das Gefühl verschwand.
„Hast du einen Plan?“, fragte sie ihn.
„Nur für den Anfang. Diese Frau, die sich mit meiner Freundin Tamara in Verbindung setzte und ihr von dem Kind erzählte … Hilary Garner. Sie arbeitet für das DPI, aber offenbar ertrug sie es nicht, dass die ein Kind auf diese Weise benutzen. Ich habe ihre Adresse. Heute Abend gehen wir zu ihr, reden mit ihr. Sie weiß vielleicht, wohin sie das Baby gebracht haben … und vielleicht verrät sie es uns sogar.“
„Und wenn nicht?“
Jameson knirschte mit den Zähnen. „Dann überzeugen wir sie.“
Hoffnung erfüllte mein Herz, als wir uns dem Gebäude näherten, in dem diese Frau wohnte. Mit jeder Faser meines Körpers versuchte ich, Kontakt zu meinem Baby herzustellen, wollte meine Tochter erspüren, doch nichts geschah. Dennoch klammerte ich mich an die Hoffnung. Diese Frau musste etwas wissen. Und sie würde uns helfen. Das war gewiss die ganze Zeit ihre Absicht gewesen, sonst hätte sie nie Jamesons Freundin informiert. Jameson …
Er entsprach so gar nicht meinen Erwartungen. Er hatte mich von diesem schrecklichen Ort gerettet. Zugelassen, dass ich mich an seinem Körper labte. Sogar … seltsamerweise … versucht, mich zu trösten, als mich beim Anblick dieser grässlichen Särge das nackte Grauen überkam. Und er schien so fest entschlossen wie ich, unser Kind zu retten.
Unser Kind. Es war nicht richtig, sie so zu nennen. „Sie braucht einen Namen“, flüsterte ich halb zu mir selbst.
Jameson drehte sich fragend zu mir um, dann begriff er. „Ja, den braucht sie. Schwebt dir schon etwas vor?“
Ich legte den Kopf schief. „Wenn ich allein war, an die Wand meiner Zelle gekettet oder in der Kiste gefangen, während ich darauf wartete, dass es den Wachen beliebte, mich herauszulassen, redete ich mit ihr. Ich sang ihr vor und hielt mir den Bauch, als würde ich sie in den Armen wiegen. Ich nannte sie Lily. So sehe ich sie, makellos wie eine perfekte Lilie. Und Amber, weil sie ein Mysterium ist, so alt wie die Zeit selbst. Das Kind einer Jungfr…“ Ich biss mir auf die Lippe. Aber es war zu spät. Mit meiner losen Zunge hatte ich wieder eines meiner Geheimnisse ausgeplaudert.
„Das Kind einer Jungfrau?“ Seine Augen wurden groß vor Fassungslosigkeit. Und dann lächelte er. „Das ist fast … heilig. Das erste von einer Vampirin geborene Kind … wird von einer Jungfrau zur Welt gebracht.“
„An dem, was die mit mir gemacht haben, ist nichts heilig“, sagte ich und wünschte mir wieder, ich würde lernen, endlich den Mund zu halten und nicht jeden Gedanken vor diesem Mann auszusprechen.
„Nein. Sicher nicht.“ Er schwieg einen Moment. „Ich weiß, wie es war, Angelica“, fuhr er dann fort. „Mich haben sie auch festgehalten. Mehr als einmal.“
„Du weißt vielleicht, was Gefangenschaft bedeutet, Vampir. Aber du kannst nicht wissen, wie es ist, wenn deine Feinde dir dein eigenes Kind gleich nach der Geburt wegnehmen. Während sie dir sagen, dass du es nie wiedersehen wirst.“ Da traten mir Tränen in die Augen. Dieser psychische Schmerz war immer noch so stark. Er umfasste meine ganze Seele wie ein Schraubstock, falls ich denn tatsächlich noch eine hatte.
„Nein. Das kann ich nicht wissen. Es muss dich fast umgebracht haben.“
„Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten mir das Herz rausgeschnitten.“ Ich wandte das Gesicht ab, damit er meine Tränen nicht sehen konnte.
„Mir kannst du alles sagen, Angelica. Nichts muss zwischen uns stehen.“
Ich sah ihn an und wusste, dass es stimmte. Irgendwie waren wir miteinander verbunden. Durch das Blut und unser gemeinsames Kind. Und sosehr wir einander verachteten, dieses Band ließ sich nicht so leicht durchtrennen. Vielleicht gar nicht.
„Ich stand unter Drogen. War geschwächt. Ich hätte ihr helfen müssen … aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht bewegen. Wie in einem Albtraum. Ich versuchte ununterbrochen, endlich aufzuwachen, schaffte es aber nicht. Es war schrecklich.“
Ich senkte den Kopf und spürte, wie er die Hand zärtlich auf meine legte. Seine Berührung spendete Wärme und Trost. Das überraschte mich. „Wir finden sie“, sagte er mit fester und überzeugter Stimme. „Amber Lily wird nichts geschehen.“
Einen Moment fühlte ich mich getröstet. Von einem Mann getröstet, von dem ich wusste, dass er ein Monster war. Ein Dämon. Ein Gräuel für Gott.
Doch dann zeigte sich seine wahre Natur wieder. „Und wenn wir sie haben und sie in Sicherheit ist, dann werden sie es büßen. Ich töte sie. Einen nach dem anderen … alle. Für das, was sie getan haben, verdienen sie etwas Schlimmeres als den Tod.“
„Nur Gott kann entscheiden, wer den Tod verdient, Jameson.“
„Gott ist zu langsam.“ Die Wut in seinen Augen machte mir Angst. Ich sah sie in den schwarzen Tigerstreifen, die das samtene Braun unterbrachen, eine pechschwarze Flamme, in der unversöhnlicher Hass loderte. „Mein ist die Rache, spricht der Vampir.“ Er brachte den Wagen zum Stillstand und sah zu den zahlreichen erleuchteten Fenstern des Apartmenthauses hinauf. „Und sie beginnt mit dieser Frau, wenn sie mir nicht sagt, was ich wissen will.“
Hilary Garners Apartment war verwüstet worden. Gründlich und ohne Rücksicht. Jameson kannte die Taktik des DPI und wusste, sie führten ihre Durchsuchungen so gründlich und sorgfältig durch, dass das Opfer nicht einmal etwas davon merkte. Diesmal war es anders. Sie mussten sehr, sehr wütend auf diese Frau sein.
Waren es jedenfalls gewesen. Sie war nicht hier, und Jameson fragte sich, ob sie überhaupt noch lebte. Das DPI kannte keine Gnade für Mitarbeiter, die aussteigen wollten. Oder die Organisation verrieten.
Er hörte Angelica stöhnen, fuhr herum und sah, wie sie ein Foto in einem silbernen Rahmen betrachtete. Hilary Garner und eine Freundin, die Arm in Arm in die Kamera lächelten. „Was ist?“
„Diese Frau“, sagte sie und zeigte hin. „Sie war bei der Geburt dabei. Sie … ich sah in ihren Augen, dass sie litt … Sie beugte sich über mich und verriet mir, dass das Baby ein Mädchen ist.“
„Hat diese Dreckskerle aber nicht daran gehindert, sie wegzubringen.“
„Ich habe sie angefleht, Amber Lily zu helfen. Und sie nickte. Nickte fast unmerklich.“
„Sie versuchte, ihre Schuld fortzuwaschen.“ Jameson fegte das Foto mit einer Armbewegung zu Boden.
Angelica sah ihn mit großen Augen an. „Sie hat dich benachrichtigt. Sie versuchte zu helfen.“
„Sie hat für die gearbeitet, Angelica. Jahrelang arbeitete sie für den Teufel persönlich. Eine gute Tat macht das nicht ungeschehen.“
„Selbst die schlimmsten Sünder können bereuen“, flüsterte sie.
„Zum Teufel mit Reue. Sie soll bezahlen. Alle sollen bezahlen. Verdammt!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, wo das Foto gestanden hatte, und das Holz zersplitterte. Tränen brannten in seinen Augen. Ebenso wie die Enttäuschung in seinen Eingeweiden. Verdammt, er war so sicher gewesen, dass sie hier etwas finden würden. Einen Hinweis. Angelica konnte vielleicht nachsichtig sein. Sie hatte vermutlich keine Ahnung, was die Dreckskerle in diesem Moment alles mit dem Baby anstellen konnten. Er dagegen wurde diese albtraumhaften Bilder nicht los.
Und dann stand sie ganz nahe bei ihm, legte den Kopf schief und sah ihm in die Augen. „Du … du weinst?“
Er wandte sich abrupt ab. Niemand, auch sie nicht, sollte sehen, wie sehr er litt.
„Das wusste ich nicht“, flüsterte sie hinter ihm. „Ich hatte keine Ahnung, dass du dich … so sehr um Amber Lily sorgst wie ich, richtig, Jameson?“
Er seufzte. „Jesus Christus, Angelica, was glaubst du, warum ich hier bin? Was denkst du denn? Natürlich sorge ich mich um sie.“ Er drehte sich wieder zu ihr um, sah sie den Kopf schütteln.
„Aber ich dachte … ich dachte …“
„Ich weiß, was du dachtest. Du dachtest, ich wäre ein Ungeheuer. Ein Tier ohne Gefühle oder Empfindungen. Überraschung, Angel, ich würde meinen rechten Arm dafür opfern, um Amber vor diesen Dreckskerlen zu retten. Ich bin in jeder Hinsicht so menschlich wie vorher, Angelica, und du auch, ob du es einsiehst oder nicht. Die Unterschiede sind rein körperlicher Natur, nicht seelischer. Verdammt, wenn überhaupt, dann empfinde ich noch tiefer als vorher. Und du auch. Du weißt verdammt gut, dass das stimmt.“
Sie schüttelte langsam den Kopf, schien in sich gekehrt. Jameson seufzte tief. Die Versuche, sie zu überzeugen, waren niederschmetternd für ihn. Sie war so schlimm wie alle anderen.
„Du leidest“, flüsterte sie und erforschte sein Gesicht mit überraschten und staunenden Blicken.
Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, als die Qual unerträglich wurde. „Ich will sie nur in den Armen halten. Ich will nur sicher sein, dass sie unversehrt ist und … und …“
Seine Stimme brach, er schämte sich. Als er sie wieder anschaute, rannen Tränen wie Sturzbäche aus diesen lila Augen. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Ja … ich weiß … und ich habe keine Ahnung, warum ich dachte …“
„Verschwinden wir schleunigst von hier“, sagte er.
„Liebst du sie?“, fragte sie, hob eine Hand und berührte sein Gesicht.
„Ich liebe sie mehr als mein eigenes Leben, Angel. Ich würde hier und jetzt für sie sterben, wenn ich wüsste, dass sie dadurch in Sicherheit ist. Und ich weiß, ich werde sie noch mehr lieben, wenn ich sie sehe, wenn ich sie erst in den Armen halten kann.“
Seine Tränen flossen und benetzten ihre Hand. „Ja. Ja, das wirst du. Oh Jameson, sie ist so wunderschön. Ihr Haar ist dicht wie Satin und dunkel wie die Schwingen eines Raben.“
Wie deins, dachte er, nahm eine Strähne und rieb sie zwischen den Fingern.
„Und ihre Augen sind schwarz wie die Mitternacht. So groß und unschuldig …“
Sie gab ein ersticktes Schluchzen von sich und verzog das Gesicht; ihr ganzer Körper zitterte, als er sie an sich zog. Diese … diese Sorge und lähmende Angst um das kleine Mädchen verbanden sie miteinander. Und die würden sie immer teilen, was auch geschah.
Er drückte sie an sich, streichelte sanft ihren Rücken, strich ihr über das Haar. „Alles wird gut, Angel. Wir finden sie. Ich sag dir, ich hab noch nicht mal angefangen.“
„Ach je, ist das nicht rührend?“
Jameson erstarrte. Die tiefe Stimme kam von der Tür; sie fuhren beide herum und starrten in das Gesicht eines Mannes, der eine Waffe auf sie gerichtet hatte. Eine Waffe, die, wie Jameson wusste, den größten Vorteil des DPI enthielt. Die eigens entwickelte Droge, die selbst den kräftigsten Vampir hilflos machte.
Blitzschnell stieß Jameson Angelica hinter sich. Er tat es instinktiv und ohne nachzudenken. Es war selbstverständlich. Jeder Mann beschützte die Mutter seiner Kinder.
„Sie haben keine Verwendung für uns“, sagte Jameson ruhig zu dem Mann. „Von uns haben Sie schon, was Sie wollen. Riskieren Sie Ihr Leben nicht umsonst.“
„Sehe ich wie ein Narr aus?“ Der Mann lächelte verhalten. „Und jetzt raus mit der Sprache, Bryant. Wo ist das Kind?“
Jamesons Blut gefror. „Was zum Teufel meinen Sie damit, wo ist das Kind? Sie sind doch diejenigen, die …“ Er verstummte und kniff die Augen zusammen. „Sie wissen nicht, wo sie ist?“
„Lassen Sie die Spielchen. Wir beobachten diese Wohnung schon seit Tagen, falls Garner zurückkehren sollte, auch wenn ich nicht glauben kann, dass sie so dumm ist. Also, wo ist sie? Wo versteckt sie dieses Kind?“
Er spürte Angelicas Blicke auf sich. Verspürte eine Art von törichter Hoffnung in der Brust. „Das Kind“, sagte er leise, „ist an einem Ort, wo Sie es nie in die Finger bekommen. Von hundert Vampiren bewacht. Tausend bis Ende der Woche. Sagen Sie Ihrem Boss, er soll aufgeben. Es ist vorbei. Wir haben gewonnen.“
Der Mann runzelte die Stirn. „Sie lügen.“
Jameson zuckte mit den Schultern.
„Los, Sie begleiten mich. Wir kriegen die Wahrheit so oder so aus euch verlogenem Pack heraus.“ Er sah an Jameson vorbei zu Angelica und lächelte ein wenig. „Es wird mir allergrößten Spaß machen, verschiedene Methoden auszuprobieren, wie ich dich zum Reden bringen kann, Süße. Ich hab gehört, deinesgleichen können gar nicht genug kriegen. Wir finden es heraus, das schwöre ich.“
„Wenn Sie sie anfassen, reiße ich Ihnen das Herz raus“, knurrte Jameson.
Zorn loderte in den Augen des Mannes auf, er hob die Waffe und richtete sie auf Jamesons Brust.
„Nein, das ist nicht nötig“, sagte Angelica zu ihm. „Bitte … benutzen Sie dieses Ding nicht.“
„Also, das ist ein braves Hündchen. Sehen Sie, Bryant? Ihre Freundin möchte kooperieren. Vielleicht weiß sie, wann sie einen richtigen Mann vor sich hat, hm?“
Sie war zu beunruhigt, ihre Gedanken abzuschirmen. Und ihr wurde regelrecht schlecht bei dem Gedanken, dass dieses dreckige Schwein sie anfassen könnte. Und doch würde sie sich fügen. Sie musste nur lange genug überleben, dann konnte sie ihre Tochter vielleicht retten.
„Na gut.“ Jameson wirkte entspannt. „Wir kommen freiwillig mit. Sie können die Waffe wegstecken.“ Und er ging einen Schritt auf den Mann zu. Der Bursche sah zuerst überrascht, dann hämisch drein. Er winkte mit dem Lauf der Waffe, Jameson setzte sich in Bewegung.
Nein! Angelicas Gedanke ertönte klar und deutlich in seinem Verstand. Jameson, geh nicht da rüber. Er erschießt dich!
Ganz ruhig, Angel, antwortete er wortlos. Er wusste genau, dass der Dreckskerl ihn gnadenlos umlegen würde. Er wollte, dass Angelica überlebte. Und er würde nie zulassen, dass dieses Schwein sie in die Finger bekam. Dieses Tier wird dir kein Haar krümmen. Vertrau mir. Ich muss nur noch etwas näher hin.
Er spürte ihre Überraschung. Sie hatten zum ersten Mal auf diese Weise kommuniziert. Wahrscheinlich hatte sie das bisher nicht für möglich gehalten. Nun wusste sie, dass es funktionierte.
Jameson ging noch ein paar Schritte … und dann sprang er in einer atemberaubenden Geschwindigkeit auf den Mann zu, entwand ihm mit einer Hand die Waffe und schlug ihm mit der anderen fest ins Gesicht. Am Ende stand er über seinem Angreifer. Er sah auf den hilflosen Mann hinab und richtete die Waffe auf ihn, wohl wissend, dass die Droge darin für einen Sterblichen tödlich war.
Angelica hielt ihn jedoch ganz plötzlich am Arm fest. „Du musst ihn nicht töten. Er ist keine Gefahr mehr für uns.“
Jameson schluckte. „Du hast recht, ich muss ihn nicht töten. Ich töte ihn, weil ich es will.“
Er drückte langsam den Abzug. In diesem Moment warf Angelica sich schnell wie der Wind zwischen die beiden Männer und riss ihm die Waffe aus der Hand. Jameson war so verblüfft über ihr Vorgehen, dass er zu spät reagierte, denn ohne zu zögern schmiss sie die Waffe quer durch das Apartment zum Fenster hinaus.
„Herrgott, Angelica!“, fuhr er sie an. „Warum zum Teufel beschützt du diesen Dreckskerl? Du weißt doch, was er mit dir vorhatte.“
„Mord ist eine Sünde, Vampir, ganz gleich, wie gerechtfertigt er scheinen mag.“
„Und deiner Meinung nach bin ich ohnehin schon verflucht, was also sollte mich eine weitere Sünde auf meinem Konto scheren? Hmm?“
Er bückte sich, packte den Mann am Kragen und riss ihn vom Boden hoch.
„Nein.“ Schon wieder vereitelte Angelica sein Treiben. Sie hielt ihn an den Schultern fest. „Nein, Jameson. Ich … ich habe mich vielleicht geirrt. Was ist, wenn ich mich geirrt habe?“
Er drehte sich langsam um und sah den flehentlichen Blick in ihren Augen.
„Bitte“, flüsterte sie. „Bitte töte diesen Mann nicht, wenn es nicht sein muss.“
Tatsächlich war seine Wut plötzlich verraucht. Ihr Blick beeinflusste ihn auf eine mysteriöse Weise, sodass er diesen wertlosen Klumpen Fleisch einfach zu Boden fallen ließ. „Der ist zweifellos nicht allein hier“, sagte er. „Komm mit.“
Er stieg über den Mann hinweg, und sie rannten auf den Flur, aber nicht zu den Fahrstühlen oder zur Haupttreppe, sondern zum Lastenfahrstuhl. Er drückte auf den Knopf mit der Aufschrift „Dach“. Ein Anflug von Hoffnung überkam ihn. Nur ein klein wenig Glück und Erleichterung.
„Jameson, wohin gehen wir … was …“
„Hast du nicht gehört, was der Dreckskerl gesagt hat, Angelica? Die haben sie nicht. Die haben unser kleines Mädchen nicht.“
Er sah ihr in die Augen und erblickte dort ein Spiegelbild seiner eigenen Aufregung. „Ich habe es gehört.“
„Garner“, murmelte er und dachte nur laut. „Es muss Garner sein. Sie hat sie mitgenommen. Ich kann mir nicht vorstellen, warum, aber …“
Angelica schloss die Augen, ein leiser Seufzer kam über ihre geöffneten Lippen. „Sie hat gütige Augen, diese Hilary Garner. Sie versucht zu helfen. Ganz bestimmt tut sie ihr nichts.“
„Das sollte sie auch besser nicht.“ Die Kabine kam zum Stillstand, die Tür ging auf. Jameson ging hinaus und die kurze Treppe hinauf bis zur Dachtür. Hastig lief er über das Dach bis zum Rand und sah zur Straße hinunter. Autos parkten kunterbunt durcheinander in den unterschiedlichsten Positionen; Männer rannten in das Gebäude, während dahinter weitere Einsatzfahrzeuge mit quietschenden Reifen zum Stillstand kamen.
„Hier wimmelt es von DPI-Leuten.“
„An dieser Seite des Gebäudes führt eine Feuerleiter runter“, rief sie und zog seinen Blick auf sich. Eine Sekunde blieb er stehen und blickte sie nur an. Ihre Silhouette zeichnete sich vor dem nächtlichen Sternenhimmel ab, der Wind wehte durch ihr Haar und verwandelte es in eine glänzende ebenholzfarbene Flagge. Als sie sich umdrehte und ihn ansah, tanzte ein Teil des Sternenlichts in ihren Augen.
„Jameson? Die Feuerleiter?“
Er schüttelte sich, musste wieder klar denken. „Damit rechnen sie. Die beobachten sie bestimmt.“ Er drehte sich um und betrachtete das benachbarte Gebäude. Durch eine nicht mehr als drei Meter breite Gasse getrennt. „Wir müssen springen, Angel.“
Mit wackeligen Beinen ging sie über das Dach, stellte sich neben ihn und schaute ungläubig nach unten. „Das können wir nicht … wir stürzen ab und …“
„Du hast ja keine Ahnung, wozu du fähig bist. Für dich ist das ein einziger Sprung, weißt du. Du bist so stark. Stärker als zehn von ihnen“, sagte er und nickte zu den Männern unten.
„Niemals.“
„Doch“, beharrte er. „Möchtest du unser bestgehütetes Geheimnis erfahren, Angel?“
Sie sah ihm ängstlich in die Augen. „Ja.“
„Die wahrhaft alten … können sogar fliegen.“
Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
„Die lachen sich tot, wenn wir diesen winzigen Sprung nicht schaffen. Komm schon, Angel, vertrau mir. Ich hab mein ganzes Leben unter Vampiren verbracht.“
Er nahm ihre Hand und führte sie zur anderen Seite. „Wir rennen jetzt los und springen. Du darfst nicht zögern, sonst bringst du uns beide in eine ziemlich hoffnungslose Lage.“
„Der Sturz wäre unser Tod.“
„Nein. Aber vermutlich hätten wir tierische Schmerzen.“
Sie zweifelte noch immer. Er drückte ihre Hand. „Unser Baby ist in Sicherheit. Es ist nicht mehr in ihren dreckigen Händen, Angelica. Ist dir bei dem Gedanken nicht zumute, als könntest du fliegen?“
Sie war noch etwas zittrig, aber ihr Mut gewann die Oberhand, und sie nickte.
„Wenn wir hier nicht rauskommen, kriegen wir sie nie zurück. Für sie, Angel. Für unsere Amber Lily.“
Angelica nickte einmal nachdrücklich. „Na gut.“
„Braves Mädchen.“ Jameson hielt ihre Hand, rannte los, und sie hielt mit ihm Schritt. Sie zauderte nicht, zögerte nicht, bot jede erdenkliche Kraftreserve auf. Gemeinsam stießen sie sich ab, und gemeinsam segelten sie in hohem Bogen durch den nächtlichen Himmel. Er spürte den Adrenalinstoß, den er jedes Mal empfunden hatte, wenn Roland ihn zwang, bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu gehen, nur um festzustellen, dass es keine Grenzen gab. Der Wind heulte um seine Ohren, wehte ihm durchs Haar. Und dann landeten sie hart auf dem angrenzenden Gebäude; er zog sie dicht an sich, damit sie nicht nach vorn fiel und sich das Gesicht aufriss.
Er hatte seine Arme um ihre Taille gelegt, ihren Körper fest an seinen gepresst, und als er sie anblickte, sah er sie … lächeln. Sie schaute mit funkelnden Augen auf. „Wir haben’s geschafft!“
„Hab ich ja gleich gesagt.“ Dieses Lächeln. Das haute ihn um. Sie lächeln zu sehen, obwohl sie kurze Zeit zuvor noch hoffnungslos gewesen war. Eine Hoffnungslosigkeit, die er geteilt hatte. Jetzt gab es Hoffnung. Echte Hoffnung, und auch diese teilten sie. Er senkte den Kopf und küsste sie. Ihre Lippen waren voll und feucht und kühl durch die Nachtluft. Und fühlten sich gut an, prall und verlockend; er sog daran, fuhr sie mit der Zunge nach, teilte sie und schob die Zunge dazwischen. Unbeschreiblich.
Die Lust traf ihn völlig unerwartet, überrollte ihn wie ein rasender Güterzug, und er spürte, dass es ihr nicht anders erging. Sie erschauerte, klammerte sich an ihn, öffnete die Lippen und neigte den Kopf nach hinten. Er beugte sich über sie, stieß ihr die Zunge tief in den Mund und dachte daran, wie er ebenso tief in ihren Körper eindringen würde.
Ein Gedanke, den er im Feuer der Leidenschaft nicht abschirmte.
Sie hörte ihn laut und deutlich und erstarrte. Dann löste sie sich ganz behutsam von ihm und wandte sich ab. Sie war außer Atem. Genau wie er.
„Ich …“ Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Herrgott, er hatte praktisch gerade eine Nonne wollüstig geküsst. Und daran gedacht, dass er noch viel mehr mit ihr anstellen wollte. Aber … „Es tut mir leid.“
„Wir müssen gehen, Vampir“, sagte sie atemlos. Ihre Stimme klang heiser und bebte. „Es dauert nicht mehr lange, und die finden uns hier.“
„Ja.“ Diesmal ließ er sie vorangehen, folgte ihr und fragte sich, was zur Hölle diese Gefühle in ihm ausgelöst hatte.
Als wir wieder auf festem Boden standen, schlichen Jameson und ich durch die Schatten der Nacht. Sehr deutlich hörte ich ihre Funkgeräte knistern, wenn sie miteinander sprachen. Während sie nach uns suchten. Offenkundig genossen wir höchste Priorität bei ihnen. Nein, das stimmte nicht ganz. Sie wollten unsere Tochter. Ein kleines Baby, das nicht einmal wusste, wie viele Leute nach ihm suchten.
Und ich würde lieber sterben, als sie denen zu überlassen.
Ich blickte zu dem Mann, der dicht neben mir stand, und mir wurde klar, dass das für ihn vermutlich ebenso galt. Er würde sein Leben geben, um das Baby zu beschützen. Er hatte es schon riskiert, mehr als einmal. Vielleicht … war er doch nicht ganz das Monster, für das ich ihn hielt.
Oder doch? Ich hatte die Wut in seinen Augen gesehen. Hatte miterlebt, wie er über einem reglosen Mann stand und ohne zu zögern bereit gewesen war, ihn zu töten. Kein Mitleid. Keine Regung. Keine Moral. Vielleicht zeigte er nur im Hinblick auf das Kind Ehre und Anstand. Vielleicht.
Er hatte mich geküsst.
Ich staunte immer noch, wie es dazu gekommen war. Schwer zu verstehen war es natürlich nicht. Wir waren beide wie in einem Rausch, von der Erkenntnis benebelt, dass sich unser Kind wahrscheinlich irgendwo in Sicherheit befand. In dem Moment hatten wir uns hinreißen lassen. Andernfalls hätte er mich nie im Leben angerührt, das stand für mich fest. Er hasste mich. Das hatte er mir deutlich zu verstehen gegeben. Gab mir sogar die Schuld an seiner ganzen misslichen Lage. Schob mir die Verantwortung für die Situation in die Schuhe, in der sich Amber Lily gerade befand. Und doch reagierte ich auf ihn wie eine Geliebte in den Klauen rasender Lust. Sosehr ich auch grübelte – den Grund dafür verstand ich einfach nicht.
Was sein Urteil über mich anging, dem stimmte ich weitgehend zu. Ich war so närrisch gewesen. So durch und durch närrisch. Und er hatte recht, ich trug die alleinige Schuld daran, dass sie uns unser Baby genommen hatten. Doch damals kannte ich die Schrecken noch nicht, die ich heute kannte.
Ich wusste nur, ich hätte auf ihn hören sollen, damals, als er dem Tode nahe auf dem Boden lag und mich beschwor, nicht mit dem DPI-Agenten zu gehen. Ich hätte auf ihn hören sollen.
Mittlerweile standen wir in einer Gasse und beobachteten die Männer, die das Gebäude umstellt hatten. Das schwarze Auto des Vampirs wartete wie eine Spinne nur wenige Meter von uns entfernt. Aber diese Männer waren zu nah am Auto. Sie starrten zu dem Gebäude und warteten wahrscheinlich darauf, dass wir herauskamen. Uns hatten sie die Rücken zugewandt.
Wir schaffen es zum Auto, hörte ich ihn sagen. Dann wurde mir klar, dass er es gar nicht gesagt hatte. Diese stumme Form der Kommunikation machte mich immer noch schwindelig. Er nahm meine Hand, was allmählich zur Gewohnheit für ihn zu werden schien, und führte mich weiter. Dann öffnete er die Fahrertür, die auf unserer Seite lag, und ich duckte mich und kroch über den Fahrersitz auf meinen. Dort hielt ich den Kopf unten.
Jameson saß im Handumdrehen neben mir und zog die Tür sehr behutsam zu. Dann drehte er den Zündschlüssel um.
Die Männer wirbelten herum. Jameson legte den Gang ein, das Auto setzte sich in Bewegung. Dann eröffneten die Männer das Feuer auf uns. Eine derart grässliche Szene hatte ich noch nie erlebt. Männer, die auf uns schossen. Aus den schwarzen Mündungen loderte Feuer in die Nacht. Das Fenster neben mir zersplitterte, ich hörte Jameson fluchen, als er das Lenkrad heftig herumriss. Nur Sekunden später sprangen andere Motoren an, nahmen Fahrzeuge die Verfolgung auf.
Aber die Verfolgungsjagd war nicht meine Hauptsorge. Schreckliche Schmerzen schnitten wie eine rot glühende Klinge durch meinen Verstand und breiteten sich in meinem ganzen Körper aus. Solche Schmerzen hatte ich noch nie erlebt. Die Wehen hatten mir so zugesetzt, ja, aber da hatten sie mich unter Drogen gesetzt. Die Schmerzen wirkten fern. Jetzt waren sie nahe und unmittelbar. Und doch waren es nicht meine eigenen. Nicht meine.
„Keine Bange“, versuchte er mich zu beruhigen und steuerte das Auto mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. „Die holen uns nicht ein. Dieses Auto fährt wie der Teufel, und ich habe einen Vorteil. Ich kann ohne Scheinwerfer fahren.“ Er sah mich an und versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. Doch als sich unsere Blicke begegneten, sah ich die Qual in seinen Augen. „Angelica?“
„Sag mir, Vampir“, bat ich leise, „kann uns nur die Sonne töten? Oder können das auch Kugeln?“ Und dabei legte ich die Hand an seine Seite und spürte das Blut, das meine Handfläche nässte.
„Darüber machen wir uns später Gedanken.“ Er sprach mit zusammengebissenen Zähnen; seine Haut wirkte leichenblass, Zorn funkelte in seinen Augen. „Zuerst müssen wir zusehen, dass wir hier wegkommen.“ Er bog so schnell um eine Ecke, dass ich gegen ihn geschleudert wurde. Ich schrie auf, als seine Schmerzen schlimmer wurden, da sah er mich stechend an.
„Angelica? Du bist doch nicht auch verletzt, oder?“
„Nein“, flüsterte ich und betrachtete entsetzt das Blut, das eine Lache um seinen Sitz herum bildete. „Nein, ich spüre deine Schmerzen, Vampir. Wie meine eigenen. Warum? Ist das normal?“
Er schüttelte langsam den Kopf und knirschte mit den Zähnen. „Ich weiß nicht.“
„Du wirst schwächer! Du verblutest, nicht?“
„Drück auf die Wunde“, wies er mich an, nahm meine Hand und drückte die Handfläche auf die blutende Verletzung. „Lass sie nicht weiterbluten, Angelica. Wir können im Handumdrehen verbluten. Das ist tödlich für uns.“ Noch eine Ecke, und ich befolgte seine Anweisungen, aber meine Hand zitterte, und ich fürchtete, dass ich kaum dazu beitrug, die Blutung zu stillen. Doch die Schmerzen ließen nach. Dann kippte sein Kopf zur Seite, und er machte die Augen zu.
„Bleib wach, verdammt!“, befahl ich ihm mit schroffer Stimme, während ich das Lenkrad hielt, als seine Hände nach unten fielen. „Stirb mir ja nicht weg. Halt durch!“
Ich glaube nicht, dass er mich hörte. Er lag einfach nur da, und die Schmerzen wurden immer weniger. Ich steuerte das Auto von der Straße, zog ihn hinter dem Lenkrad hervor und fuhr selbst weiter. Wir hatten das Haus am Meer schon fast wieder erreicht. Aber ich hatte Angst. Schreckliche Angst, dass er sterben und mich allein in dieser schlimmen Lage zurücklassen würde. Und obwohl er mich als seine Gefangene bezeichnet hatte, musste ich feststellen, dass ich keine Freude empfand bei dem Gedanken, dass er sterben könnte, sondern vielmehr ein entsetzliches Grauen. In gewisser Weise war ich von ihm abhängig geworden. Und ich brauchte seine Hilfe. Das stimmte. Doch das alles schien nicht der Grund für meine Verzweiflung zu sein.
Ich wollte einfach nicht, dass dieser Mann, dieses Rätsel, das ich noch nicht einmal ansatzweise verstand, jetzt starb. Er sollte mich nicht verlassen. Noch nicht. Und nicht so.
Und dieses Gefühl machte mir fast so viel Angst wie das Blut, das aus seiner Wunde floss.