Keith
11. KAPITEL
Roland erwachte vor den anderen, zog das nach Mehltau riechende Heu von seinem Gesicht und bürstete es heftig von seiner Kleidung ab. Sein Schlaf war alles andere als ruhig gewesen.
Er zählte sich selbst die möglichen Gründe dafür auf: Tamaras Wut auf ihn und der Keil, den er offenbar zwischen sie und Eric getrieben hatte; Sorge um Jamesons körperliches wie seelisches Wohlergehen; die Frage, ob sich die Katze wieder erholen und welche Auswirkungen das auf ihre Besitzerin haben würde.
Aber in Wahrheit hatte keine dieser Fragen ihm den ganzen Tag über Seelenqualen bereitet. In Wahrheit waren es seine unbedachten Worte und der Schmerz, den er Rhiannon damit zugefügt hatte, die ihn quälten. Gott, könnte er doch mit dem Wissen, das er jetzt besaß, in der Zeit zurückreisen. Hätte er gewusst, dass ihr eigener Vater sie mit denselben Worten verstoßen hatte, „Du bist mein Fluch“, hätte er diesen verheerenden Vorwurf nie und nimmer wiederholt. Sicher, er musste sich von Rhiannon fernhalten, aber um nichts auf der Welt wollte er sie verletzen.
In Wahrheit lag ihm viel an ihr. Mehr als er sich selbst eingestanden hatte. Wenn sie weit weg war, oh, da war es leicht, das zu verdrängen. Mit ihrer Rückkehr war es schwieriger geworden, aber nicht unmöglich. Ihre tollkühne Art und der großspurige Charakter ermöglichten es ihm, seine Verwirrung als Ablehnung und Missbilligung zu maskieren.
Aber als er sie auf dem taunassen Waldboden gesehen hatte, wo sie hemmungslos geschluchzt und die verwundete Katze wie ein Baby in den Armen gehalten hatte, da konnte er es nicht mehr leugnen. Ihr Schmerz zerriss ihm das Herz. Plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als ihr diesen Schmerz zu nehmen.
Er schlenderte zur Seitentür und sank dabei mit den Füßen im verstreuten Heu ein. Drei Vögel flogen auf, als er unter den Balken hindurchging, auf denen sie saßen; sie schlugen panisch und lautstark in der hohen Scheune mit den Flügeln. Eine Feder schwebte an seinem Gesicht vorbei, er folgte ihrem Fall.
Er ging hinaus und trat auf das trockene Herbstgras. Der kommende Winter lag schon in der Luft, aber am Himmel war kein Wölkchen zu sehen. Drahtiges Unkraut kratzte an seinen Schuhen, als er sich von der Scheune entfernte und mit allen Sinnen nach Fremden suchte. Er hörte nur die perfekte Harmonie der Grillen, das gelegentliche Surren einer Fledermaus, die über ihm dahinflog, das unirdische Heulen des Windes, der durch eine uralte Wetterfahne auf dem Scheunendach pfiff.
Er wollte nicht, dass Rhiannon ging.
Das wusste er schon in dem Moment, als ihr die Ankündigung über die Lippen gekommen war. Mit dem Wissen, dass er sie nie wiedersehen würde, würde seine Einsamkeit keine Grenzen mehr kennen. Sicher, sie war nie eine Konstante in seinem Leben gewesen, aber er hatte immer gewusst, dass sie da war. Stets hatte ihn die Gewissheit begleitet, dass sie kommen würde, wenn er sie rief; dass sie unangemeldet auftauchte, wenn er sie am wenigsten erwartete. Sie zog ihn in einen Wirbelwind hinein, der zum Sturm anschwoll, wenn sie ihm berichtete, wie närrisch und tollkühn sie war, und verschwand dann wieder wie ein launisches Sommerlüftchen.
Er konnte sie nicht bitten zu bleiben. In ihrer Anwesenheit war seine Selbstbeherrschung dahin, sie machte ihn unvorsichtig. Er würde ihr nur immer und immer wieder wehtun, wie er schon bewiesen hatte.
Als er die Augen schloss, sah er im Geiste ihr Gesicht vor sich. Es schien vollkommen unmöglich zu sein, dass er sie je absichtlich verletzte. Einen Augenblick dachte er über die Möglichkeit nach, dass Eric recht gehabt hatte. Dass sein grobes Benehmen Rhiannon gegenüber eine Nebenwirkung der Droge gewesen war.
Dann schüttelte er heftig den Kopf. Was spielte es schon für eine Rolle? Es änderte nichts daran, was er über sich wusste, was er wirklich war. Wie konnte er Rhiannon bitten zu bleiben, wenn er wusste, dass ihre Anwesenheit ihn den letzten Rest Selbstbeherrschung kosten würde?
Würde sie doch nur ihre unbedachte Art sein lassen, ihr wildes Temperament zügeln, ihren impulsiven Geist beruhigen. Dann könnte er ihr helfen. Sie könnte ihm helfen. Wenn er sie davon überzeugen könnte, dann vielleicht …
Nein. Rhiannon würde sich niemals ändern. Er fürchtete wirklich, dass er eines Tages die Nachricht von ihrem Tode erhalten würde. Und zweifellos würde es ein dramatischer und grässlicher Tod sein.
„Roland?“
Er drehte sich um, als er die Frauenstimme hörte, erkannte jedoch schon am fehlenden Timbre und der Höhe, dass es Tamaras Stimme war, nicht die Rhiannons.
Sie kam mit gesenktem Kopf näher und sah ihm nicht in die Augen. Als ihre Zehen seine fast berührten, blieb sie stehen, legte ihm die Arme um den Hals und drückte ihn fest. „Tut mir leid, dass ich das alles zu dir gesagt habe. Ich weiß, wie sehr du Jamey liebst.“
Er erwiderte die Umarmung und fand Trost in der körperlichen Nähe zu einem anderen lebenden Wesen. „Schon gut, Tamara. Du stehst unter Stress. Wie wir alle.“
Sie nahm die Arme weg, wich einen Schritt zurück und sah ihn endlich direkt an. „Ich habe solche Angst um ihn.“
„Wir lassen nicht zu, dass ihm ein Leid geschieht, Grünschnabel.“
Sie nickte schnell und kniff einen Moment die Augen zu. Als sie sie wieder öffnete, betrachtete sie fragend sein Gesicht. „Was ist mit dir? Ich weiß, dass du leidest. Ich sehe es dir an.“
Jetzt wandte er selbst den Blick ab und schüttelte verneinend den Kopf.
„Lüg mich nicht an, Roland. Du leidest Höllenqualen. Aber Rhiannon ebenfalls.“
Er betrachtete sie wieder. „Hat sie mit dir darüber gesprochen?“
„Natürlich nicht. Sie kann sich ja nicht einmal selbst eingestehen, dass sie leidet. Aber das tut sie. Wenn das hier vorbei ist …“
„Wenn das hier vorbei ist, geht Rhiannon ihrer Wege und ich meiner. Alles andere würde … Risiken bergen, die so groß sind, dass man nicht einmal daran denken sollte.“
Tamara seufzte ganz leise. Sie strich ihm mit der Handfläche über die Wange. „Oh Roland, wie kann jemand, der so weise ist wie du, nur so blind sein? Wenn es um die Liebe geht, ist kein Risiko zu groß.“
„Liebe?“ Er schüttelte den Kopf, als sie die Hand wegnahm. „Hier ist keine Liebe im Spiel. Deine romantischen Vorstellungen trüben dir den Blick.“
„Und deine Sturheit trübt deinen.“
„Sind alle bereit?“ Erics Worte untermalten das Quietschen des großen Scheunentors, das er öffnete.
Roland sah ins Innere, wo Rhiannon stand und sich Heu aus dem Haar klaubte. Sie setzte sich in Bewegung und riss die Autotür auf. Roland konnte nicht anders, er musste zu ihr, bevor sie einstieg. Als er den Arm ausstreckte, erstarrte sie, doch er zupfte ihr nur einen Halm Heu aus dem Haar. „Den hast du übersehen.“
Sie sah ihn mit großen und unergründlichen Augen an. Er suchte in den ebenholzfarbenen Tiefen nach einem Hinweis, der es ihm ermöglichen würde, wieder ihr Freund zu sein.
Stattdessen erblickte er eine lodernde Flammenzunge und spürte als Antwort darauf ein Feuer in seiner Seele. Sie wollte ihn immer noch. Und Gott steh ihm bei, er wollte sie auch. Sie fuhr sich über die Lippen, schluckte heftig und riss den Blick schließlich los. Als sie es sich im Auto bequem machte, schloss Roland die Augen und fluchte verhalten.
„Du kriegst das schon hin, alter Freund.“ Eric schlug Roland auf die Schulter; seine tiefe, vage amüsierte Stimme erklang leise und dicht neben Rolands Ohr. „Wenn du vorher nicht vollkommen überschnappst.“
Roland warf ihm einen finsteren Blick zu, ging um die Haube des Autos herum und setzte sich auf den Beifahrersitz. Er hatte nicht vor, sich neben Rhiannon auf die Rückbank zu setzen, auch wenn sein ganzer Körper sich danach sehnte, in ihrer Nähe zu sein. Er musste sich auf Jamey konzentrieren. Seine aufgewühlte Seelensuche musste warten, bis der Junge wieder in Sicherheit war.
Rhiannon verabscheute sich selbst dafür, dass sie immer noch ein so unstillbares Verlangen nach einem Mann empfand, der sie wieder und immer wieder abgewiesen hatte. Und doch hatte sie etwas in seinen Augen gesehen, etwas Neues.
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Da bildete sie sich etwas ein, mehr nicht. Der Gedanke, dass sie ihn verlassen, ihn nie wiedersehen würde, erfüllte sie mit einer so allumfassenden Trostlosigkeit, dass sie sich fragte, wie sie sie nur ertragen sollte. Jetzt schon riss ihr allein der Gedanke daran eine neue Wunde in ihr ohnehin schon blutendes Herz. Dort wurde er eins mit dem Schmerz, den sie wegen Pandora empfand, und der Sorge um sie. Sollte ihr denn gar nichts auf Erden bleiben?
Als das Benzin knapp wurde, steuerte Eric eine Tankstelle an. Er und Tamara stiegen aus, um sich die Beine zu vertreten. Roland sprang ebenfalls hinaus; Rhiannon sah ihn zu einem Münzfernsprecher gehen. Er hatte während der ganzen Fahrt kaum ein Wort zu ihr gesagt, aber sie hatte seinen Blick gespürt, und wenn sie aufschaute, sah sie direkt in seine zärtlichen Augen. Er wich ihren Blicken nicht aus. Er ließ sie tief in seine Seele sehen, damit sie verstand, was ihn umtrieb. Leider entdeckte sie nur Elend, Reue und Verwirrung. Das war ihr keine Hilfe.
Einen Augenblick später stieg er wieder in das Auto ein, drehte sich zu ihr um und legte einen Ellbogen auf die Sitzlehne. „Ich habe den Tierarzt angerufen. Er sagt, Pandora kommt durch.“
Rhiannon war verblüfft und fühlte sich vor Erleichterung fast überwältigt. „Es geht ihr gut? Sie kommt wirklich wieder auf die Beine?“
Roland nickte. „Sie hinkt vielleicht, aber ihre Genesung geht gut voran, und er konnte ihr Bein retten.“
Rhiannon schloss die Augen und ließ die Luft in einem Zug aus den Lungen entweichen. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie den zufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht. „Ich nehme an, ich bin dir zu Dank verpflichtet.“
Er schüttelte hastig den Kopf. „Du schuldest mir gar nichts. Ich wollte nur, dass der besorgte Blick aus deinen Augen verschwindet.“
Sie spürte einen Kloß in der Kehle. „Warum?“
„Warum? Was meinst du damit, warum? Weil ich dich mag, Rhiannon. Wenn ich sehe, dass du leidest, leide ich eben auch.“
Sie blinzelte die heißen Tränen, die ihr in die Augen schossen, hastig mit den Lidern weg. Um sich zu beruhigen, biss sie sich auf die Lippen und zwang sich, gleichmäßig zu atmen, nicht keuchend und abgehackt. Hatte er gesagt, dass er sie mochte? Sie wollte nicht nachhaken. Noch eine Gelegenheit, sie abzuweisen, würde sie ihm nicht geben.
Und doch erfüllte eine irre und kindische Hoffnung ihr Herz, obwohl sie sich alle Mühe gab, sie zu unterdrücken.
Tamara kam mit Eric zum Auto zurück, und weiter ging die Fahrt in die Nacht hinein. Der Morgen war aber noch in weiter Ferne, als sie in ein kleines Dörfchen im Schatten der französischen Alpen gelangten und Tamara hektisch Rhiannons Hand ergriff. „Das ist es“, sagte sie beschwörend. „Das habe ich gesehen.“
Eric erstarrte am Lenkrad. „Bist du sicher, Tamara?“
„Ja.“
Rhiannon fuhr sich über die Lippen und vergaß ihre Pein in Erwartung der Konfrontation, die offenbar hier stattfinden würde. Ein leichtes Gefühl des Unbehagens erfüllte sie mit einem Kribbeln im Nacken und ließ sie erschauern.
„Wir sollten das Auto parken“, sagte Roland mit selbstbewusster und ruhiger Stimme. „Wir gehen zu Fuß weiter und suchen nach Luciens Wagen. Wir können Dorfbewohner, denen wir begegnen, nach dem schwarzen Auto fragen und ihnen Lucien und Jamey beschreiben, falls sie sie gesehen haben.“
„Oder wir fragen einfach Lucien selbst, wo er steckt. Ich bin ganz sicher, er will, dass wir ihn finden.“
Roland sah Rhiannon an. „Aber dann wäre er gewarnt.“
„Das ist er schon, Roland. Er weiß, dass wir kommen“, sagte sie langsam.
„Aber nicht, wann genau wir eintreffen.“
„Den exakten Zeitpunkt kennt er nicht, nein. Aber er weiß, es wird nachts sein. Und er dürfte allein anhand der Strecke, die wir zurücklegen mussten, damit rechnen, dass es heute Nacht sein wird. Das Überraschungsmoment ist nicht auf unserer Seite, Roland.“ Sie benetzte die Lippen und dachte wieder an Pandoras gebrochene Pfote. „Und wir brauchen es auch nicht.“
„Sie hat recht“, bekräftigte Eric. „Ich finde, wir sollten sofort anfangen, heute Nacht noch. Wenn wir uns lange mit einer Suche aufhalten, finden wir sie vielleicht nicht vor Morgengrauen. Dann müssten wir Jamey noch einen Tag in den Händen dieses Mannes lassen.“
Roland atmete ein und seufzte. „Na gut. Da Zeit der entscheidende Faktor ist, fang an, Rhiannon. Stell den Kontakt her, wenn du kannst.“
Sie verzog das Gesicht, als sie das „Wenn du kannst“ hörte, machte es sich aber auf dem Rücksitz bequem und schloss die Augen. Es ist so weit, Lucien. Wo bist du?
Sie musste es nicht noch einmal versuchen oder sich besonders konzentrieren. Es schien, als wäre er schon auf sie eingestellt und hätte nur auf ihre Nachricht gewartet, um ihr das zu zeigen.
Sehr gut. Du warst schneller, als ich erwartet hatte. Auf halber Höhe des Mont Noir liegt eine Hütte. Dort warte ich auf dich.
Sie runzelte die Stirn. Das Selbstbewusstsein, das er an den Tag legte, missfiel ihr. Geht es dem Jungen gut? Ist er in Sicherheit? Ich warne dich! Wenn du ihm etwas getan hast, wirst du es büßen.
Sie wartete, aber es kam keine Antwort mehr. Sie konzentrierte sich ganz auf ihn und versuchte es erneut. Lucien, dieses Gespräch ist noch nicht zu Ende. Ich will wissen, was mit dem Jungen ist.
Wieder keine Antwort. Rhiannon schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf. „Eine Hütte auf halber Höhe eines Berges namens Noir. Seltsamer Name.“
„Ich weiß, wo das ist“, sagte Roland. „Kommt, wir müssen zu Fuß gehen. Es führt keine Straße an diesem Steilhang hinauf.“
Eric packte Roland am Arm, bevor der zur Tür hinauskonnte. „Wir sollten nicht da oben festsitzen, wenn es Tag wird, Roland. Haben wir noch genügend Zeit?“
Roland nickte. „Drei Stunden sind ausreichend. Ich schätze, uns bleiben noch knapp vier.“ Roland sah hinter sich auf den Rücksitz, wo Rhiannon, die ahnte, was er sagen würde, schon wieder vor Wut schäumte. „Vielleicht wäre es besser, wenn einer von uns beim Wagen bleibt, falls die anderen irgendwie überwältigt werden.“
„Gute Idee“, antwortete Rhiannon hastig. „Du und Eric solltet bleiben, während Tamara und ich raufgehen und dem dreisten Sterblichen eine Lektion erteilen.“
Eric fuhr herum, doch dann begriff er ihre Motive und lächelte. „Ich würde nie zulassen, dass sich Tamara allein in Gefahr begibt. Leider geht es ihr mit mir ebenso. Das ist manchmal lästig, aber leider nicht zu ändern.“ Er sah zu Roland. „Du kannst den Mann nicht dafür hassen, dass er dich beschützen will, Rhiannon.“
„Ich kann mich selbst beschützen“, entgegnete sie mit dünner Stimme. „Und ihn auch, falls erforderlich. Wenn er mich nur ein bisschen kennt, müsste er das wissen.“
„Bei deiner Tollkühnheit und Wut wegen der Katze stürmst du vermutlich ohne zu zögern in jede Falle, die dir der teuflische Dreckskerl gestellt hat, Rhiannon.“ Roland warf ihr einen Blick zu, der mehr als Zorn ausdrückte. „Ich wollte dich, wenn möglich, nur vor einem allzu frühen Dahinscheiden bewahren.“
Sie neigte den Kopf zur Seite. „Da du mich andauernd daran erinnerst, wie töricht ich bin, kann ich gar nicht anders, als ein Mindestmaß an Vorsicht walten zu lassen. Du machst dir umsonst Sorgen.“
„Ich mache mir Sorgen um dich!“ Die Worte kamen wie eine Explosion der Wut heraus, während Roland aus dem Auto sprang und die Tür zuschlug. Rhiannon stieg aus, schlug die Tür ebenfalls zu, drehte sich zu ihm um und überlegte sich eine bissige Antwort.
Aber plötzlich strich er ihr mit einer Hand durchs Haar und umfing zärtlich ihren Nacken. „Bleib in meiner Nähe, Rhiannon. Und sei vorsichtig. Bitte, um Gottes willen, sei vorsichtig.“
Wieder hatte sie diesen albernen Kloß im Hals, diesmal so groß, dass sie fast daran erstickte. Und sie hörte sich wie ein gehorsames Schulmädchen antworten: „Das bin ich, Roland.“
Sie schüttelte sich.
Eine Sekunde später gingen sie alle vier durch die schmalen verwinkelten Gassen des Dorfes in Richtung des Berges, der am Rand aufragte. Ein dunkler, wuchtiger Schatten, der über den umliegenden Hügeln aufragte wie ein zorniger Gott über armen Sündern. Die Felswände aus dunklem Granit schienen vollkommen kahl zu sein, der Gipfel war von Nebel umflort.
Für Sterbliche wäre es ein schwieriger Aufstieg gewesen. Roland verzog das Gesicht, als er sich vorstellte, wie Jamey möglicherweise mit Gewalt gezwungen worden war, den zerklüfteten Steilhang zu erklimmen. Er musste erschöpft gewesen sein, bis sie den Gipfel erreichten. Vermutlich fror er und hatte Hunger. Angst. Trauerte um Pandora, wenn er ihr Schicksal kannte. Das arme Kind konnte ja nicht ahnen, dass die Katze gefunden worden war und sich wieder erholen würde.
Er verfluchte sich einen Moment dafür, dass er den Vater des Kindes nicht schon vor langer Zeit ausfindig gemacht hatte, dann konzentrierte er sich wieder auf die bevorstehenden Aufgaben. Jameson retten. Und Rhiannon beschützen. Er kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass er mit einem Mal von Furcht um die beiden erfüllt war. Denn Rhiannon allein schien der Mittelpunkt von Luciens Besessenheit zu sein. Sie hatte er angegriffen, ihr Blut sollte in seinen Adern fließen. Mit ihr konnte er telepathischen Kontakt aufnehmen und sie umgekehrt hören. Dieser Mann war kein gewöhnlicher Mensch. Und sein Interesse an Rhiannon, das spürte Roland längst, hatte eine viel größere Bedeutung, als ihnen allen bisher klar war.
Der Hang stieg am Ende der Wiese steil an. Drastischer hätte der Wechsel von der üppigen und duftenden Vegetation, die sie umgab, nicht sein können. Die umliegenden Hügel wiesen, wenigstens in den unteren Regionen, das Grün von Vegetation auf, von Bäumen und Sträuchern. Nicht so Mont Noir. Ein angemessener Ort für den grimmigen Kampf, der ihnen bevorstand, dachte Roland.
Es dauerte nicht lange, da hatten sie selbst den Bereich überwunden, wo sich noch vereinzelte karge Grasbüschel in Spalten zwischen den Felsen hielten, und bahnten sich ihren Weg über fast nackten Stein.
Roland rutschte einmal mit dem Fuß ab. Er fing sich wieder, streckte die Hand nach hinten aus und half Rhiannon. Sie warf ihm keinen erbosten, sondern einen verwirrten Blick zu. Warum verwirrte es sie so sehr, dass er ihr helfen wollte? Schließlich half Eric Tamara auf dieselbe Weise.
Sie waren vier dunkle Gestalten, die mitten in der Nacht eine schwarze Felswand erklommen. Von unten konnte die Welt sie nicht sehen. Der Wind heulte um sie herum und bedrängte sie, als wollte er sie in die Tiefe stürzen. Mit jedem weiteren Schritt wurde die Luft kälter und dünner.
Schließlich erreichten sie eine ebene Fläche, wo Roland in der Ferne sah, wie sich Rauch himmelwärts kräuselte. Er zeigte zu der hellgrauen Säule und ging zu einer Gruppe von Felsen und Findlingen. Der Rauch schien irgendwo dahinter aufzusteigen. Obwohl das Gelände hier eben und viel sicherer war, ließ er Rhiannons Hand nicht los. Er rechnete halb damit, dass sie sie wegziehen würde. Als sie es nicht tat, fragte er sich sofort, warum.
Sie sputeten sich, liefen über unebenes steiniges Gelände, gingen um die Felsgruppe herum, die ihnen den Weg versperrte, und standen vor einer rötlichen Blockhütte. Schmale Fenster leuchteten über einer ausladenden Holztür wie Augen über einem breiten Grinsen. Aus dieser Entfernung sahen die Spitzenvorhänge aus wie Wimpern. So gemütlich, diese schützende Zuflucht in der Höhe, so unschuldig. Das perfekte, unauffällige Versteck für etwas durch und durch Böses.
Rhiannon, die immer noch seine Hand hielt, stand an seiner Seite und betrachtete das malerische kleine Häuschen. Er studierte das gelbe Laternenlicht hinter den Fenstern und spürte, wie sie erschauerte.
Er drückte ihre Hand instinktiv. Und genauso instinktiv, glaubte er, drückte sie seine. Es dauerte keine Sekunde, dann sahen sie einander an. Suchende Augen, tausend Fragen in beiden. Und nicht eine einzige Antwort.
Roland schluckte. Er ließ die Hand los und legte den Arm um ihre Schultern, dann gingen sie zu der Hütte. Sie entzog sich ihm nicht. Eric und Tamara gingen an ihrer Seite, bis sie vor der Tür standen.
„Ich bin sicher, dass er das Betäubungsmittel nicht hat“, sagte Rhiannon leise, während sie nach der geschwungenen Metallklinke der Tür griff. Sie drückte die Klinke nach unten und stieß die Tür auf.
Diese schwang ohne ein Geräusch nach innen. Roland sah sich misstrauisch um und trat vor ihr ein. An der Wand gegenüber knisterte und prasselte anheimelnd ein Kaminfeuer. In einem Plüschsessel konnte man gerade noch Luciens Hinterkopf sehen.
„Hereinspaziert, hereinspaziert“, sagte er, ohne sich umzudrehen oder in irgendeiner Weise zu bewegen. „Rhiannon hat recht. Ich habe das Betäubungsmittel nicht. Und das ist auch keine Falle. Es ist eine Sitzung. Zum beiderseitigen Vorteil, möchte ich hoffen.“
Roland ging weiter hinein und sah sich um. Er suchte mit allen Sinnen nach weiteren Anwesenden, entdeckte jedoch keine. Rhiannon kam an seine Seite, doch er merkte, dass sie nur Augen für Lucien hatte. Hass und Wut loderten darin; Roland berührte sie am Arm, um sie zu beruhigen.
Sie ging weiter, packte die Rückenlehne des Sessels und kippte ihn um. Lucien rollte mit großen Augen auf den Boden. Aber als sie sich über ihn beugte, lächelte er süffisant.
„Ich werde dich jetzt töten, Dreckskerl“, sagte sie langsam. „Und ich lasse mir Zeit damit. Bist du bereit?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe nichts anderes vor.“
Sie streckte die Hände nach ihm aus, aber Roland hielt ihr die Arme von hinten fest. „Warte, Rhiannon.“ Er sah auf den Mann hinunter, der darauf wartete, dass er fortfuhr. „Lucien, wo ist der Junge?“
Die buschigen Brauen wurden in die Höhe gezogen. „Wenn ich das sage, kann sie mich jederzeit ermorden. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich meinen einzigen Vorteil aus der Hand geben würde, oder?“
Rhiannon zog an ihm, aber Roland hielt sie fest. Zu seiner Überraschung sprang Tamara vor, packte Lucien an der Vorderseite seines Strickpullovers und zerrte ihn hoch, obwohl sie dazu die Arme bis über den Kopf strecken musste. Es war eindrucksvoll und seltsam, mit anzusehen, wie eine so zierliche Person diese Kraft aufbieten konnte. „Wenn Sie uns nicht sagen, wo er ist, töte ich Sie trotzdem, also haben Sie keine andere Wahl.“
Wieder zuckten die dunklen Brauen. „Ihr unsterblichen Frauen seid so impulsiv.“ Er befreite den Pullover aus ihrem Griff, trat zurück und strich das Gewebe glatt. „Ich habe einen Vorschlag zu machen. Den könntet ihr alle euch wenigstens anhören, bevor ihr euch entscheidet.“
Eric war verschwunden. Er durchsuchte die Hütte, um auszuschließen, dass noch jemand hier war, Jamey mit eingeschlossen. Dann stieß er zu Roland. „Jameson ist nicht hier.“
„Nein. Er ist nicht hier. Wenn ihr wissen wollt, wo er ist, müsst ihr euch anhören, was ich zu sagen habe.“
Rhiannon sah über die Schulter zu Roland, und ihr Blick verriet ihm, dass er sie jetzt gefahrlos loslassen konnte. Er ließ ihre Arme los, nickte ihr kurz zu und konzentrierte sich wieder auf Lucien. „Sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben, Monsieur. Aber denken Sie daran, wenn uns nicht gefällt, was Sie sagen, leben Sie nicht mehr lange genug, um den Satz zu Ende zu sprechen.“
Eric stellte sich dicht neben Tamara. „Und am besten erzählen Sie uns als Erstes von Jamey. Wo ist er? Ist er in Sicherheit?“
Lucien richtete sich auf, obwohl er sie schon alle überragte und vor Muskelpaketen fast platzte. „Der Junge erfreut sich bester Gesundheit, und das dürfte vermutlich auch so bleiben … wenn ihr kooperiert. Aber seinen Aufenthaltsort kann ich leider momentan noch nicht preisgeben.“
Tamara holte zitternd Luft. „Sagen Sie uns, was Sie wollen, Lucien. Hören wir auf mit den Spielchen und kommen zur Sache.“
„Eine Frau, die so wie ich denkt. Das gefällt mir.“ Lucien ging unbekümmert an ihnen vorbei und stellte seinen Sessel wieder auf. Er setzte sich darauf und bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, dass sie sich ebenfalls setzen sollten.
Rhiannon wählte den Schaukelstuhl am Kamin und zog ihn direkt vor Lucien. Sie setzte sich, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. „Wir wissen alle, was du willst, Lucien. Die dunkle Gabe. Unsterblichkeit. Aber ich glaube, dir ist nicht klar, wie töricht es ist, darum zu bitten.“
„Warum töricht?“ Er beugte sich vor. „Sehnt sich nicht jeder Mensch im Grunde seines Herzens nach dem ewigen Leben? Ist das denn nicht seit Anbeginn der Zeiten so?“
„Weißt du, wie die Verwandlung bewerkstelligt wird?“
Er nickte. „Du trinkst mein Blut. Dann ich deines. Wenn unser Blut sich vermischt, werde ich einer von euch.“
„Sie werden nie einer von uns“, fuhr Tamara ihn an.
Rhiannons Augen schienen die Luft zwischen ihnen zu durchbohren. „Und was sollte mich daran hindern, dich leer zu saugen, wenn ich die Zähne erst einmal in deinen Hals geschlagen habe, du Narr?“
Er lächelte starren Blickes. „Bei meinem Anwalt liegt ein Brief mit dem Aufenthaltsort des Jungen. Der Brief ist an Curtis Rogers vom DPI adressiert. Mein Anwalt hat Anweisungen, ihn morgen Abend um Mitternacht an Rogers zu faxen.“
Rhiannon blinzelte, Luciens Grinsen wurde breiter.
„Andererseits, wenn du mich verwandelst, holde Rhiannon, ohne dass etwas schiefgeht, nenne ich dir den Aufenthaltsort des Jungen und lasse dir genügend Zeit, dass du vorher dort bist.“
Roland sah zum ersten Mal Unsicherheit in Rhiannons Augen. Sie unterbrach den Blickkontakt zu Lucien und schaute stattdessen zu Roland.
„Trau ihm nicht, Rhiannon. Nichts könnte ihn daran hindern, dich leer zu saugen. Du wärst sowieso geschwächt. Das weißt du.“
„Ein Risiko, das du eingehen musst, meine Teuerste, wenn du den Jungen wohlbehalten wiederhaben willst. Andererseits kannst du dich natürlich weigern und mit ansehen, wie er zum lebenden Forschungsgegenstand der skrupellosesten Wissenschaftler dieses Planeten wird.“ Er beugte sich noch weiter zu ihr. Sie wich nicht zurück. „Ich weiß, du hast am eigenen Leib erfahren, wie viel … Missvergnügen sie einem Lebewesen zufügen können.“
Tamara hielt den Atem an. Roland schloss die Augen. Was Rhiannon in jenem grässlichen Labor erlebt hatte, musste ihr bis auf den heutigen Tag Albträume verschaffen.
„Ich kann noch großzügiger sein“, sagte Lucien. „Du kannst darüber nachdenken. Komm morgen bei Sonnenuntergang wieder. Wenn wir uns einig werden, ziehen wir die Verwandlung durch und du kannst den Jungen holen, bevor das Fax rausgeht. Oder du kannst mich töten und versuchen, ihn selbst zu finden … und dir bis in alle Ewigkeit Vorwürfe machen, wenn du es nicht schaffst. Es ist deine Entscheidung!“
Rhiannon blinzelte langsam. „Anscheinend haben wir wirklich keine andere Wahl.“
„Eines noch, Rhiannon. Morgen Abend kommst du allein zu mir. Denen da traue ich nicht über den Weg. Du kommst allein, oder das Geschäft ist geplatzt.“
Roland war, als würde ihm ein Messer in die Brust gebohrt werden. „Auf gar keinen Fall“, sagte er mit leiser Stimme. „Das lasse ich nicht zu.“
Rhiannon tat so, als hätte er gar nichts gesagt. „Ich hoffe, die Zeit reicht, Lucien. Die Gabe der endlosen Nacht wird nicht so leicht weitergegeben, wie du zu glauben scheinst. Dazu gehört ein Ritual.“
Roland runzelte die Stirn und fragte sich, was sie da redete.
„Rituale sind mir gleichgültig. Ich will nur das Blut.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Na ja, wenn du nicht das gesamte Spektrum der Kräfte möchtest, könnten wir wohl auf die Meditation verzichten …“
Lucien runzelte die Stirn und leckte sich die Lippen. „Wie lange dauert denn dieses … Ritual?“
„Mehrere Stunden.“
Er legte den Kopf schief. „Du brauchst nicht mehr als dreißig Minuten, damit du vor Rogers bei dem Jungen bist.“
Rhiannon zog die Brauen hoch. Roland glaubte, dass er der Einzige war, der den Triumph in ihren Augen sah. „Dann haben wir genügend Zeit.“
„Rhiannon, das kannst du nicht machen“, rief Tamara.
„Ich muss, Kleines“, antwortete Rhiannon leise. „Denk an Jamey.“ Sie drehte sich um und warf Tamara einen stechenden Blick zu. „Denk an Jamey.“
Tamara wandte sich ab. „Ja … das mache ich.“
Rhiannon schleuderte das Haar über die Schultern, während sie mit einer geschmeidigen Bewegung aufstand. „Dann bis morgen Abend. Du weißt natürlich, dass du bis dahin fasten musst. Kein Essen, kein Trinken. Andernfalls überschreitest du die Schwelle nicht und wirst sterben.“
Roland runzelte wieder die Stirn. Das war vollkommener Mumpitz.
„Und du darfst heute Nacht nicht schlafen und morgen auch nicht“, fuhr sie fort und ging zur Tür. „Wenn die Umstände nicht exakt richtig sind, stirbst du. Hast du das verstanden?“
Warum erzählte sie solchen Blödsinn?
„Dir scheint viel am Leben des Mannes zu liegen, den du so sehr hasst, Rhiannon.“ In Luciens Stimme schwang ein Anflug von Misstrauen mit.
„Ich würde dich auf der Stelle töten, wenn ich könnte, Lucien. Um das Leben des Jungen mache ich mir Sorgen. Wenn du stirbst, bevor du mir sagen kannst, wo er ist, fällt er diesen Teufeln in die Hände. Und das kann ich nicht zulassen.“