Keith
13. KAPITEL
Jameson erwachte langsam, und die Gerüche der Nacht drangen nach und nach in sein Bewusstsein. Sie rissen ihn aus den himmlischen Armen, die ihn im Traum gehalten hatten. Eigentlich wollte er lieber nicht aufwachen aus diesem Traum, als ihm klar wurde, dass es sich um Angelicas Arme handelte, in denen er eingeschlafen war. Und ihre Lippen, ihr leises Stöhnen hatten seinen Tagesschlaf heimgesucht. Es machte ihn wütend, dass er im Schlaf keine Kontrolle über seine Gedanken hatte. Ginge es nach ihm, würde er nicht auf diese Weise von ihr träumen. Denn es war eine zu herbe Enttäuschung, wenn er erwachte und begriff, dass sie ihm in der Wirklichkeit niemals solche Worte ins Ohr flüstern würde wie im Traumreich.
Er lag an der kühlen Felswand. Als er wacher wurde, sich umdrehte und sie ansehen wollte, um sich zu vergewissern, dass sie in Wahrheit nicht so wunderschön war wie in seinem Traum – obwohl er wusste, dass das nicht stimmte –, lag sie nicht neben ihm. Sie war fort. Er erschrak, richtete sich hastig auf und rieb den letzten Rest von Schlaf aus den Augen.
„Gut, dass du wach bist“, sagte Roland. „Wir müssen früh los, wenn wir sie erwischen wollen, bevor sie das Kind nach White Plains schaffen können.“
Die anderen waren auch schon wach. Rhiannon richtete ihr langes Haar, Tamara kuschelte sich verschlafen in Erics Arme.
„Nicht wir“, sagte Jameson leise. „Ich.“
„Jamey …“, begann Tamara und richtete sich auf, aber er unterbrach sie.
„Nein, Tamara. Ich lasse nicht zu, dass ihr weiterhin euer Leben für mich aufs Spiel setzt. Ihr hättet sterben können. Und jetzt ist das Risiko noch größer. Die sind sicher wütend, dass wir entkommen sind, und entschlossener denn je, uns alle zu töten.“ Er sah immer wieder zum Höhleneingang, während er das sagte, entdeckte jedoch keine Spur von Angelica.
„Machst du dir Sorgen um sie?“, fragte Rhiannon.
Jameson riss den Kopf herum und sah in ihre spöttischen dunklen Augen. „Wo ist sie?“
„Sie wollte die Gegend erkunden. Wollte sich vergewissern, dass wir alle gefahrlos herauskommen können.“
„Sie sollte nicht allein da raus“, sagte Jameson und ging zum Eingang.
„Was läuft denn da zwischen euch beiden?“, fragte Tamara in einem Tonfall, als würde sie glauben, dass da wesentlich mehr war, als er zugeben wollte.
„Lass das, Tamara“, sagte er. „Zwischen Angelica und mir ist gar nichts.“
„Nur ein gemeinsames Baby“, konterte sie.
„Oh, es ist mehr als nur das Baby“, mischte Rhiannon sich mit hochgezogenen Brauen ein. „Es ist Leidenschaft. Die Luft knistert praktisch, wenn sie einander nahe sind. Und wie sie sich ansehen.“ Sie lächelte sanft. „Ich glaube, du liebst dieses Mädchen, Jameson.“
„Rhiannon“, ermahnte Roland sie, aber sie sah ihn nur lächelnd an und sandte einen wissenden Blick in Jamesons Richtung.
Jameson fühlte sich elender denn je. „Natürlich liebe ich sie nicht“, fauchte er. Da wäre er aber ein schöner Trottel, oder nicht? Er wusste nur zu genau, dass sie nichts für ihn empfand. Jedenfalls nichts, das über das Körperliche hinausging. „Ich empfinde nichts für diese Frau.“
Als er ein Geräusch am Eingang hörte, drehte er den Kopf herum. Angelica stand vor ihm, wandte sich jedoch hastig ab. Sie musste seine Worte gehört haben. Und aus einem unerfindlichen Grund sah er einen Anflug von Schmerz in ihren Augen. Lächerlich.
„Ich sehe keine DPI-Männer, die sich unter den Bäumen verstecken“, sagte sie leise. Ein wenig zu leise. „Ich denke, wir können raus.“
„Nächstes Mal wartest du auf mich“, fuhr Jameson sie an.
Ein rebellisches Funkeln machte ihre Augen noch anziehender. „Ach ja. Ich bin ja immer noch deine Gefangene, nicht? Vergib mir, dass ich dich nicht um Erlaubnis bat, ehe ich mich von dir entfernt habe. Wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, dass ich dir das Leben gerettet habe, hätte etwas geändert?“
„So war das nicht gemeint, Angelica!“ Aber sie hatte sich bereits umgedreht und die Höhle wieder verlassen. Weshalb war sie jetzt schon wieder so wütend?
„Gut gemacht“, sagte Rhiannon und schlug ihm auf die Schulter. „Gut gemacht.“
Er schüttelte ihre Hand ab, verließ hastig die Höhle und trat anmutig in die kühle Nacht. Der Mond war heute nicht zu sehen, er verbarg sich hinter einer dichten Wolkendecke. Und der Wind heulte und stöhnte in den Pinienzweigen. Zuerst sah Jameson sie nicht. Dann entdeckte er sie, sie stand mit dem Rücken zur Höhle und sah in den Wald. Ihr Haar bewegte sich im Wind, lange Satinfinger, die winkten und lockten. Als wollten sie einen unbedachten Wandersmann in ihre Nähe locken. Als wollten sie ihn anlocken.
Er richtete sich auf und ging zu ihr, obwohl er wusste, dass er ein williges Opfer ihrer stummen Verlockung wurde. Aber das ging ja schließlich schon die ganze Zeit so, oder nicht? Verdammt, er hatte Niederlagen nie gut eingestehen können. Er stellte sich ganz dicht hinter sie. Aber sie nahm ihn gar nicht zur Kenntnis. Sah ihn nicht einmal an. Es kam einer Offenbarung gleich, dass eine Frau ihn so durch und durch verabscheute. Eine neue Erfahrung für ihn.
„Ich habe nicht gemeint, dass du meine Erlaubnis brauchst, bevor du dich von mir entfernst, Angelica. Das weißt du. Es ist nur so, es könnte gefährlich sein, allein da rauszugehen. Ich habe mir Sorgen um deine Sicherheit gemacht. Das ist alles.“ Während er das sagte, trat er an ihre Seite. Berührte sie aber immer noch nicht, obwohl alles in ihm danach verlangte.
Sie warf ihm einen raschen Blick zu, widmete sich dann jedoch wieder der Betrachtung des Waldes. „Ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, Vampir, aber sie ist unnötig. Es ist dir vielleicht noch nicht aufgefallen, aber ich werde immer besser darin, auf mich selbst aufzupassen.“
„Das ist mir aufgefallen.“ Er ließ den Blick über den umliegenden Wald schweifen, um herauszufinden, was sie so interessant fand. Da ihm nichts Ungewöhnliches auffiel, kam er zu der Schlussfolgerung, dass sie ihn vielleicht einfach nicht ansehen wollte.
„Ich muss dir wie der jämmerliche Abklatsch eines Vampirs vorgekommen sein“, sagte sie in nachdenklichem Tonfall. „Ich weiß nicht, warum ich so lange gebraucht habe, wieder zu mir selbst zu finden. Doch ich versichere dir, Jameson, als Sterbliche war ich nie so bedürftig oder schwach.“
„Ich habe dich nie für schwach gehalten.“
Sie drehte sich um und sah ihm in die Augen. „Aber ich bin immer noch deine Gefangene. Sag mir, Vampir, glaubst du immer noch, dass ich die Absicht habe, unsere Tochter zu entführen und an einen Ort zu bringen, wo du sie niemals finden wirst?“
Ihre Augen waren in der Mitte blass fliederfarben und zu den Rändern hin dunkellila, funkelten jedoch in allen Schattierungen. „Ich weiß nicht“, sagte er, außerstande, sich abzuwenden. „Hast du?“
Sie stieß Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ein resignierter Laut, und wandte sich ab. „Wenn ja, warum wäre ich dann zu dir zurückgekommen? Ich hätte dich da sterben lassen und meine Tochter ganz für mich allein haben können.“
„Wenn du sie gefunden hättest“, antwortete er. „Aber wie du gesagt hast, mit mir sind deine Chancen, sie zu finden, viel größer.“
„Und du glaubst, das ist der einzige Grund, weshalb ich zurückgekommen bin.“ Sie sagte es tonlos, bestätigte es nicht, leugnete es nicht.
„Was sollte ich denn sonst glauben?“ Er lehnte sich mit einer Schulter an eine klebrige Pinie, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an. Ihr lag nichts an ihm. Sie verabscheute ihn. Das hatte sie ihm sogar schon gesagt. Es tat weh, dass sein Verlangen nach ihr sie abschreckte. Es tat mehr weh, als er sich eingestehen wollte. „Die Anziehung zwischen uns ist stark, Angelica, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du deinen hübschen Hals nur für die Chance riskiert hast, mich wiederzuhaben.“
„Du bist ein arroganter Narr.“
„So arrogant nun auch wieder nicht“, sagte er zu ihr. „Außerdem gilt das für uns beide. Das weißt du.“
Er streckte die Hände aus, strich mit den Fingern zärtlich über ihren Hals. Vielleicht … er musste sich nur sicher sein. Er schien süchtig nach Zurückweisung zu sein, was? Sie schlug seine Hand weg, aber vorher spürte er noch, wie ein leichter Schauer sie durchlief. Ja, sie wollte ihn noch. Und ja, sie fühlte sich immer noch davon abgestoßen. Er hatte seine Antwort.
„Kommt, ihr Turteltäubchen“, rief Rhiannon mit kaum verhohlenem Gelächter in der Stimme. Jameson war sicher, dass sie dieses kurze Geplänkel mitbekommen hatte. Und wurde nur noch wütender. „Wir müssen los.“
Er beugte sich dicht zu Angelica und wusste, noch ehe er etwas sagte, dass gekränkte Eitelkeit etwas Gefährliches war. „Es spielt keine Rolle, dass du dich vor meiner Berührung ekelst, Angelica, oder? Wir wissen beide, dass du dich danach verzehrst.“
„Sag mir das noch mal, wenn du mich wieder berührst und ich dir dafür die Finger abreiße, Vampir.“ Und mit diesen Worten schloss sie sich den anderen an, die schon unterwegs waren.
Keine DPI-Leute umstellten das leer stehende Haus, wo sie den Wagen geparkt hatten. Und so zwängten sie sich abermals hinein und fuhren nach Süden. Ihr Ziel war das DPI-Hauptquartier in White Plains. Sie wussten, dass die Dreckskerle Amber Lily dorthin gebracht hatten, und Jameson würde das Kind befreien, selbst wenn es ihn das Leben kostete.
Und wenn sie in Sicherheit war, würde er dorthin zurückkehren. Und die Welt sicherer für sie machen.
Sie waren allerdings noch keine zehn Meilen weit gekommen, da sahen sie einen DPI-Transporter und mehrere andere Autos mit dem altbekannten Emblem auf den Türen, die alle am Straßenrand parkten und praktisch das gesamte Örtchen Petersville säumten. Männer in Anzügen klopften an Türen und befragten Anwohner.
„Was zum Teufel ist das?“, flüsterte Jameson, der im Schritttempo durch die Hauptstraße des Orts fuhr.
„Entweder sie haben beschlossen, als Nebenjob Kosmetik zu verkaufen“, sagte Tamara, „oder sie durchsuchen die Häuser einzeln.“
„Nach uns?“, fragte Angelica mit großen Augen.
„Nein.“ Rhiannon zog mit ihrer Bemerkung alle Blicke auf sich, nur Jameson wirkte abwesend. Er behielt die Straße und die Männer, die den Ort offensichtlich gestürmt hatten, im Auge. „Wir haben noch nie in den Häusern Sterblicher Zuflucht gesucht“, fuhr Rhiannon fort. „Wie sollten sie auf den Gedanken kommen, dass wir jetzt damit anfangen würden?“
Jameson blinzelte. Auf dem Sitz neben ihm holte Angelica zitternd Luft.
„Das Baby?“, flüsterte sie.
„Vielleicht hat dieser Wachtposten nicht gelogen, als er sagte, dass es verschwunden ist“, meinte Roland.
„Aber das ist unmöglich. Wer hätte sie nehmen sollen? Und warum, um Himmels willen?“ Angelicas Stimme stieg um eine Oktave an; Jameson wusste, wie es sich anhörte, wenn jemand in Panik geriet. „Was für ein Mensch würde ein Baby aus einem parkenden Auto entführen, während die Insassen damit beschäftigt sind, einen Reifen zu wechseln? Was für ein kranker Perversling würde …“
„Angel.“ Jameson nahm ihre Hand in seine, drückte sie, spürte ihr Zittern. Seltsam, wie er Wut und Frustration über diese Frau vergaß, wenn er sie leiden sah. „Geh nicht vom Schlimmsten aus. Wir wissen ja nicht einmal, ob es so ist. Es wäre durchaus möglich, dass sie nach uns suchen.“
„Fahr weiter, Jameson. Wir finden bald heraus, was hier los ist“, sagte Eric. Also fuhr Jameson weiter, brachte es aber nicht fertig, Angelicas Hand loszulassen. Aber noch ehe sie den Stadtrand erreichten, sah er die Straßensperre, die dort errichtet worden war. Ein rostiger Pick-up wurde angehalten und durchsucht, der Fahrer verhört.
Jameson suchte nach einem anderen Weg aus der Stadt hinaus, fand aber keinen. Wenn sie mitten auf der Straße anhielten, würde das Verdacht erregen, und wenn sie um hundertachtzig Grad wendeten, würde man sie mit Sicherheit erschießen.
Er spürte den sanften Druck der Hand, die er immer noch hielt, und als er Angelica ansah, deutete sie auf eine moderne, übergroße Blockhütte am Stadtrand. Sie stand auf einer Anhöhe mit einer langen Zufahrt und schien nicht zum Stadtgebiet zu gehören. „Dort“, sagte Angelica. „Sieht leer aus. Fahr in die Einfahrt und tu so, als ob wir dorthin gehören.“
„Und wenn sie nicht leer steht?“ Warum musste er nur immer allem widersprechen, was sie sagte?
„Sieh dir das Gerüst auf der anderen Seite an. Und das Dach, es ist nur teilweise gedeckt.“
„Sie hat recht“, wandte Eric ein. „An dem Haus wird noch gebaut. Fahr hin, Jameson, wir haben kaum eine andere Möglichkeit.“
Jameson nickte zustimmend, bog in die Zufahrt ein, hielt genau vor dem Haus und machte den Motor aus. Sie saßen stumm vor der Blockhütte, über ihnen befand sich ein großes Vordach aus Rotholz.
„Ein schönes Haus“, sagte Tamara.
„Es besteht fast nur aus Fenstern. Die törichten Sterblichen und ihre Vorliebe für Glas.“ Rhiannon schüttelte den Kopf.
„Wir sollten reingehen“, meinte Angelica mit einem besorgten Blick zu den Autos, die die Straße südlich der Stadt versperrten. „Es sieht verdächtig aus, wenn wir einfach hier sitzen bleiben.“
„Wenn wir alle gemeinsam gehen und sie sehen uns …“ Jameson biss sich auf die Lippe. Er wollte sie nicht schon wieder kritisieren.
„Es ist dunkel, Jameson“, erklärte Rhiannon. „Der Mond hinter Wolken verborgen. Die können kaum die Hand vor Augen sehen, geschweige denn von da unten Leute zählen.“ Und da sie neben einer der Hecktüren saß, öffnete sie die Tür und stieg aus. Roland und Tamara folgten, dann stieg Eric vorn auf der Beifahrerseite aus und hielt Angelica die Hand hin. Immer ein Kavalier, dachte Jameson recht ungnädig. Aber auch er stieg aus. Sie gingen zu den breiten Stufen der vorderen Veranda und wollten das Haus durch eine verglaste Schiebetür betreten, die allerdings abgeschlossen war. Aber das Schloss, das ein Vampir nicht knacken konnte, hatten die Sterblichen noch nicht erfunden.
Im Inneren sahen sie einen großen gemauerten offenen Kamin, eine Bar aus poliertem Hartholz, Teppichböden, Dreier-und Zweiersofa und Sessel, die an feiste Teddybären erinnerten.
„Ein wunderschönes Haus.“ Tamara ließ sich in einen der Sessel sinken. Das Ding schien sie zu umarmen. „Ob die Rohrleitungen schon fertig sind? Was würde ich nicht alles für ein schönes heißes Bad geben.“
Jameson erstarrte. „So lange bleiben wir nicht.“ Tamara hob den Kopf mit hochgezogenen Brauen. „Wie meinst du das, Jamey? Wir können schlecht weiterfahren, wenn sie die Straße sperren.“
„Du weißt verdammt gut, dass ihr das könnt“, sagte er. „Ihr geht einfach in den Wald und um sie herum. Leiht euch südlich der Stadt ein neues Fahrzeug und fahrt weiter.“
Roland neigte den Kopf zur Seite. Eric runzelte die Stirn. „Was ist mit dir?“
„Ich bleibe“, sagte er. „Ich bleibe lange genug, dass ich herausfinden kann, wonach sie suchen. Und wenn es nicht unsere Tochter ist, dann reise ich genauso weiter wie ihr.“
„Und kehrst nach White Plains zurück?“, fragte Eric.
Er nickte nur.
Tamara stand auf, ging hin und her, strich mit einer Hand über eine Überwurfdecke, die auf der Rückenlehne des Sofas lag. „Wir bleiben alle“, sagte sie, obwohl sie genau zu wissen schien, dass er widersprechen würde. „Und dann brechen wir gemeinsam auf.“
„Tam …“
„Jameson hat recht.“ Das war Angelica, und alle drehten sich überrascht zu ihr um. „Ihr seid seine Freunde, wärt aber bei dieser Suche schon einmal fast ums Leben gekommen. Ich weiß, ihr wollt uns helfen. Aber bedenkt, was es für Jameson bedeuten würde, sollte tatsächlich einer von euch getötet werden. Überlegt euch, wie er sich fühlen würde.“
Eric nickte zähneknirschend. Roland senkte den Kopf. Selbst Rhiannon wirkte resigniert.
„Ihr habt heute Nacht noch Zeit genug, von hier zu verschwinden“, sagte Jameson. „Ich will nicht, dass ihr in dieser Stadt festsitzt, wo es von DPI-Agenten nur so wimmelt. Ich bleibe auch nicht länger hier, als ich muss.“
Er sah, wie Tamara feuchte Augen bekam. Aber sie nickte. „Na gut. Ich … ich denke, an deiner Stelle würde ich das genauso sehen.“
„Du weißt verdammt gut, dass es so ist.“ Er wandte sich an Angelica und wusste, dass ihm der schwerste Kampf noch bevorstand.
„Denk nicht mal dran“, sagte sie.
Er holte tief Luft. „Ich kann allein rausfinden, was wir wissen müssen“, sagte er. „Es ist nicht nötig, dass wir beide das Risiko eingehen. Geh mit ihnen. Wir treffen uns in White Plains.“
„Und wenn Amber Lily hier ist? Was dann, Jameson? Du gehst vielleicht an ihr vorbei und merkst es nicht einmal. Nein. Nein, wenn du willst, dass ich gehe, musst du mich fesseln und knebeln. Andernfalls bleibe ich.“
„Angelica …“
„Ich bin ihre Mutter“, sagte sie und sah ihn mit so viel Entschlossenheit und Feuer in den Augen an, dass er sich geschlagen gab. „Es ist mein Recht, hier zu sein. Und hier bleibe ich.“
Er schloss die Augen und senkte den Kopf.
Da kam Tamara zu ihm und nahm ihn fest in die Arme. „Ich liebe dich, Jamey. Sei vorsichtig. Bitte.“
Er umarmte sie ebenfalls. Danach verabschiedete er sich nacheinander von allen. Ihm fiel nicht zum ersten Mal auf, dass sie Angelica ebenso ungern im Stich zu lassen schienen wie ihn. Sie hatte so etwas Liebes an sich. Wuchs einem ans Herz, ehe man richtig wusste, wie einem geschah. Offenbar war er nicht der Einzige, den ihre Magie verzauberte.
Schließlich schlichen die anderen zur Hintertür hinaus und verschwanden im Schutz des Waldes. Jameson sah ihnen nach, dann ging er auf und ab. Er brauchte einen Plan. Er brauchte einen soliden, narrensicheren Plan, wie er herausfinden konnte, was in diesem gottverdammten Kaff vor sich ging, ohne gesehen zu werden. Und ohne Angelica in Gefahr zu bringen.
Aber ihm fiel einfach nichts ein.
Sie saß auf dem Sofa und zupfte geistesabwesend an der Überwurfdecke darauf. Und er sah sie nicht gern an, denn er wollte sie so sehr, dass es ihm Schmerzen bereitete.
Und so ging er in den Raum, der nach seiner Fertigstellung vermutlich einmal die Küche sein würde. Derzeit bestand er nur aus kahlen weißen Wänden mit Löchern in regelmäßigen Abständen, die für die Armaturen sein sollten. In der Mitte des Raums stand eine Leiter, über der ein Malerkittel an einer Sprosse hing.
Schon bevor Angelica im Raum war, wusste er, dass sie ihm gefolgt war, spürte ihre Nähe.
„Wir können nicht einfach hier rumsitzen“, begann sie zu sprechen. „Wir müssen herausfinden, wonach sie suchen.“
„Und was schlägst du vor, wie wir das machen sollen, Angelica? Zu einem von ihnen hingehen und ihn fragen?“
„Nicht zu einem von ihnen, sondern zu einem Stadtbewohner. Das dürfte eine recht einfache Mission sein.“ Sie hielt die Überwurfdecke in den Händen, die sie sich jetzt über den Kopf zog und wie einen Schal trug, der ihr Haar verbarg.
„Du gehst da nicht raus.“ Es klang wie ein Befehl.
„Die haben dich in letzter Zeit öfter gesehen als mich, Vampir. Als ich dort festgehalten wurde, kam kaum einmal jemand zu mir. Die meisten von denen würden mich auch ohne die kleine Verkleidung nicht erkennen. Ich geh zu dem kleinen Laden, den wir gesehen haben, und tu so, als würde ich etwas kaufen. So einfach ist das.“
„Nein.“
Sie kam zu ihm und legte die Hände auf seine Oberarme. „Jameson, bitte. Wir müssen etwas tun. Ich kann nicht nur hier rumsitzen, das macht mich verrückt.“
Jameson sah die Verzweiflung in ihren Augen. Verdammt, er konnte ihr nichts abschlagen, wenn sie ihn so ansah. Was stimmte nur nicht mit ihm, dass er selbst die Schmutzflecken auf ihren Wangen niedlich fand? Er seufzte schwer. „Na gut, wenn du darauf bestehst. Aber ich komme mit.“
Sie verdrehte die Augen. „Das solltest du nicht. Dich erkennt man zu leicht, Vampir“, sagte sie zu ihm. „Du hast mir selbst gesagt, wie oft du schon mit ihnen zu tun hattest.“
Aber nun gab er ihr doch noch einmal Widerworte. „Ich folge dir. Ich bleibe in den Schatten. Niemand wird mich sehen.“
„Und wenn doch, denken sie sich bestimmt nichts dabei, dass ein finsterer Fremder mitten in der Nacht eine einsame Frau verfolgt.“
„So oder gar nicht, Angel. Ich komme mit, oder du bleibst hier.“
„Während wir uns streiten, könnte unsere Tochter schon …“ Sie machte die Augen zu und sprach den Satz nicht zu Ende. „Na gut. Du hast gewonnen.“ Und sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
Er hielt sich zurück, als er ihr einen Schmutzstreifen vom Gesicht wischen wollte. Es wäre nicht klug, sie gerade jetzt zu berühren, wo sie so verwundbar aussah … und so wunderschön. „Los, geh dich waschen“, sagte er zu ihr. „So ziehst du bestimmt Aufmerksamkeit auf dich.“
Sie sah an ihrer Kleidung hinab, als hätte sie vergessen, in welchem Zustand sie sich befand. „Okay.“
Er sah ihr nach, als sie ins Bad ging, hörte auf die Geräusche, die sie machte, das Wasser, das über ihre Haut lief. Nach wenigen Minuten kam sie zurück und sah sauberer aus, aber nicht weniger besorgt.
Sie wartete gar nicht erst auf seine Erlaubnis, sondern ging an ihm vorbei durch das Wohnzimmer zu der Tür, durch die sie eingetreten waren.
„Warte, Angelica.“ Er lief ihr hinterher und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wenn du so tun willst, als ob du etwas kaufst, brauchst du Geld. Hier.“ Er drückte ihr einige Geldscheine in die warme Hand. Jameson spürte ihr Zittern. „Geh langsam“, ermahnte er sie, „und lass den Kopf unten. Sei vorsichtig, Angelica. Ich bin in der Nähe, falls du mich brauchst.“
Sie blickte ihn eine ganze Weile an, und er dachte schon, hoffte, sie wollte ihm etwas sagen. Doch dann überlegte sie es sich anders. Sie drehte sich um und ging hastig zur Tür hinaus.
Jameson drehte sich langsam im Kreis und strich sich mit den Händen durchs Haar. Ihm gefiel nicht, was er empfand. Es gefiel ihm kein bisschen, und er wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt, wo er sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, seine Tochter zu finden. Aber bald. Bald musste er ins Reine kommen mit diesem Ding, das Besitz von seiner ganzen Persönlichkeit ergriffen zu haben schien.
Bald. Vorerst musste er einem Engel folgen.
Ich wusste, er würde sein Versprechen halten und mir folgen. Ich konnte den nervtötenden Mann ganz in meiner Nähe spüren, wohin ich auch ging, obwohl ich ihn nie richtig sah. Ich blickte oft hinter mich. Ich spürte, dass er in der Nähe war. Aber er schien unsichtbar zu sein.
Der Laden war nicht weit entfernt. Ich fand ihn mühelos und dankte den Gestirnen, dass er noch geöffnet hatte. Wenn er auch so gut wie menschenleer wirkte. Es schien, als wären die meisten Stadtbewohner heute beizeiten nach Hause gegangen. Wahrscheinlich hatten die Scharen aufdringlicher Bundesagenten sie halb zu Tode geängstigt. Das Geschäft bestand aus einem einzigen großen Raum voller Krimskrams und Snacks. Eine Glocke über der Tür läutete fröhlich, als ich unter dem altmodischen, weiß-rot gestreiften Baldachin eintrat.
„Hallo“, sagte eine freundliche Männerstimme, ich sah erstaunt auf. Aber es war nur der Mann hinter dem Tresen, dessen Augen freundlich dreinblickten. Sein Kopf glänzte rosa, ohne ein einziges Haar, und er trug eine rechteckige Brille tief auf der Nase. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Haben Sie Ansichtskarten?“, fragte ich und versuchte, mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. Im Laden roch es nach frischem Kaffee und Pfefferminzplätzchen.
„Na klar.“ Er kam um den Tresen und führte mich zu einem Drehständer voller Post-und Ansichtskarten. „Suchen Sie was Bestimmtes?“
„Das weiß ich, wenn ich es sehe“, presste ich hervor. Und blätterte die Postkarten durch, als wäre ich auf der Suche nach der richtigen.
„Sie sind also Touristin. Sie kommen mir auch nicht bekannt vor.“
„Nur auf der Durchreise.“ Ich nahm eine Karte, die Bäume, Berge und blauen Himmel zeigte. „Anscheinend habe ich mir einen schlechten Tag für meinen Besuch ausgesucht. Wegen der Straßensperren und Männer, die die Stadt absuchen. Ist jemand aus dem Gefängnis ausgebrochen oder so?“
Der Mann schüttelte den Kopf und gluckste wie eine Henne, als ich ihm die Karte gab und er zur Registrierkasse ging. „Eine Schande ist das. Ich weiß nicht, was aus der Welt noch werden soll.“ Er drückte Tasten, die Kasse klingelte. Die Schublade ging auf. Ich gab ihm einen Dollarschein.
„Was ist denn passiert?“, hakte ich nach.
Er schüttelte wieder den Kopf. „Entführung“, sagte er. „Ein junges Paar war auf dem Weg nach Norden und hatte einen Platten. Sie stiegen aus, wechselten den Reifen, und als sie wieder einsteigen wollten, war ihre kleine Tochter verschwunden. Jemand hat sie einfach aus dem Auto geholt.“
Mir blieb die Luft weg. Mein Gott, konnte es stimmen, was der Wachtposten gesagt hatte? Das DPI hatte mir mein Baby gestohlen, und dann war es ihnen gestohlen worden … aber von wem?
„Ich weiß“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Eine schreckliche Sache. Unglaublich, dass das ausgerechnet hier in Petersville passieren musste. So was ist hier noch nie vorgekommen. Die verdammten Perverslinge gehören erschossen.“
Ich atmete tief durch und versuchte zu sprechen. „Was unternehmen sie denn, um das Baby zu finden?“
„Also, die haben südlich der Stadt eine Straßensperre errichtet. Überprüfen jedes Fahrzeug, das da durchkommt. Suchtrupps durchkämmen den Wald, und Agenten gehen von Tür zu Tür und stellen Fragen. Ich persönlich glaub ja nicht, dass das was nützt. Wenn so einer ein Kind in die Finger kriegt … also, dann finden sie es selten. Jedenfalls lebend.“
Ich stützte mich am Tresen ab, damit meine Knie nicht einknickten. „Lebend?“
„Die Typen haben’s normalerweise auf etwas ältere Kinder abgesehen. Kann mir gar nicht vorstellen, was einer mit so einem kleinen Wurm will. Kranke Dreckskerle.“ Er holte das Wechselgeld heraus und machte die Schublade zu. „Hier, Miss.“
Ich streckte die Hand aus und nahm die kalten Münzen. „Danke“, murmelte ich und wollte gehen.
„Vergessen Sie Ihre Postkarte nicht“, rief er, und ich drehte mich wieder um. Die Karte lag noch auf dem Tresen. Ich hob sie auf, wusste aber, dass meine Hände heftig zitterten. „Schöne Reise noch“, rief er mir nach, als ich das Geschäft verließ. Ich nickte nur und ging hinaus.