Keith

3. KAPITEL

Sie nahm das schöne Auto. Nicht dass sie sich allein nicht wesentlich schneller hätte fortbewegen können. Sie fuhr lange Zeit, passierte das Dorf L’Ombre und seine verschlungenen Straßen, nahm scharfe Kurven mit halsbrecherischem Tempo und lachte dabei, bis die Asphaltspuren schließlich breiter und der Verkehr dichter wurden.

Als sie schließlich mit quietschenden Reifen am Flughafen von Paris hielt, zog sie die Schlüssel ab, ging nach hinten und öffnete den Kofferraum.

Rogers stöhnte und hielt sich den Kopf mit beiden Händen, als er sich aufrichtete. Er sah sie mit zusammengekniffenen, wütenden Augen an, bewegte sich jedoch nicht.

„Sie haben eine Spritze in Ihrer Brusttasche“, sagte sie leise. „Holen Sie sie heraus.“

Er setzte sich gerade hin und schob eine Hand in die Innentasche des Jacketts. Sie beobachtete ihn genau, und als er die Hand verkrampfte, streckte sie ihre blitzschnell aus und packte ihn am Handgelenk, bevor er auch nur die Möglichkeit bekam, sich zu rühren. Er hatte ihre Bewegung vermutlich nicht einmal gesehen.

„Das lasse ich mir nicht gefallen. Roland sagte mir, dass Ihre Droge tatsächlich funktioniert.“ Sie zog die Hand unter dem Jackett hervor. Im Vergleich zu ihrer Kraft wirkte sein kläglicher Widerstand fast lächerlich. Sie griff mit der freien Hand nach der Spritze. „Wirklich entsetzlich, diese kleine Nadel. Aber ich nehme an, immer noch besser als St. Claires frühere Methoden. Uns das Blut abzulassen, bis wir zu schwach waren, gegen ihn zu kämpfen, damit er seine sadistischen kleinen Experimente mit uns durchführen konnte.“

Plötzlich sah Curtis auf, rieb sich aber weiter das Handgelenk, wo sie ihn gerade festgehalten hatte. „Sie sind diejenige, nicht?“

„Welche meinen Sie denn, Darling? Ganz sicher keine der beiden Jungen, die er in seiner Gewalt hatte. Denen er ein wenig zu viel Blut abgezapft hat? Die er ermordet hat? Nein, von denen bin ich keine. Ganz und gar nicht, wie Sie sehen können.“

„Sie sind … Rhiannon. Sie sind entkommen. Sie haben einen der besten Wissenschaftler getötet, den das DPI je …“

Sie winkte mit einer Hand. „Wissenschaftler? Ich würde sagen, er war ein kranker kleiner Perversling. Es hat ihm Spaß gemacht, anderen Schmerzen zuzufügen.“ Sie legte den Kopf schief und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, was sie angesichts der Erinnerung an diese Schmerzen im Innersten empfand. Sie war gefoltert worden, bis sie fast den Verstand verloren hatte. Eine Unsterbliche ihres Alters empfand Schmerzen tausendmal stärker als ein Mensch und immer noch hundertmal stärker als jüngere Vampire.

„Allerdings muss ich gestehen, in jener Nacht verstand ich ihn. Ich habe genossen, was ich ihm angetan habe.“ Sie hielt ihre Stimme kalt, ihren Tonfall teilnahmslos. „Sagen Sie mir, Curtis Rogers, wurde diese Droge an menschlichen Versuchspersonen erprobt? Ich frage mich, welche Wirkung sie hätte, würde ich sie zum Beispiel Ihnen verabreichen.“

Sein Gesicht wurde aschfahl, und sie spürte seine Angst. „Die Droge hat überhaupt keine Wirkung bei Menschen.“

Sie legte den Kopf zurück und lachte, ein Laut, der ihr aus tiefster Kehle empordrang. „Oh, Sie erheitern mich wirklich. Sie wissen doch, dass ich Ihre Gedanken lesen kann. Sie haben gerade zu viel Angst, dass Sie sie verbergen könnten, und dennoch lügen Sie schamlos. Die Droge würde Sie töten, nicht wahr?“

Er schüttelte den Kopf.

Rhiannon hielt die Nadel zum Himmel und drückte den Kolben, sodass ein winziger Strahl silberne Flüssigkeit in die Luft spritzte. Curtis sprang, landete mit den Füßen auf dem Beton des Parkplatzes und war sofort zur Flucht bereit. Rhiannon packte ihn mit der Hand am Nacken und drückte zu.

„Es hat keinen Sinn, wissen Sie. Ich bin so stark wie zwanzig erwachsene Männer, und durch die Forschungen, die Sie über meine Art betrieben haben, wissen Sie das auch. Ich bin älter und mächtiger als alle anderen, denen Sie bisher begegnet sind. Ich könnte Sie hier und jetzt töten und würde dabei nicht einmal ins Schwitzen kommen, Rogers, mein Liebling.“

Sie hielt seinen Nacken nach wie vor fest umklammert und strich mit einem Fingernagel behutsam über die kurzen Härchen dort. „Ich frage mich, wie Sie es gern hätten. Soll ich Ihnen einfach das Genick brechen? Das wäre die schnellste und barmherzigste Methode. Oder ich könnte Ihnen wirklich Ihre eigene Kreation spritzen. Eine Droge, die stark genug ist, einen Vampir zu betäuben, würde vermutlich einen Elefanten töten, von einem schmächtigen Sterblichen wie Ihnen ganz zu schweigen.“

Sie drehte ihn zu sich um und sah seine Angst. Sie konnte sie spüren, und sie konnte sie riechen. Sie schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich glaube, diese Methoden sind nicht annähernd poetisch genug, als dass sie mir gefallen würden, teuerster Curtis.“ Sie drückte den Kolben weiter, vergoss den Inhalt der Spritze auf sein Hemd und bekleckerte sein Jackett. Die leere Nadel warf sie auf den Boden. „Ich glaube, für Sie“, sie packte ihn an der Krawatte und zog ihn näher, „sind die altmodischen Methoden die besten.“

„Nein“, flüsterte er. „Um Gottes willen, nein!“

Sie ging so weit, dass sie tatsächlich mit den Zähnen über die straffe Haut seines Halses strich und sogar ein klein wenig Blut fließen ließ, das so köstlich schmeckte, dass es ihr wirklich schwerfiel, sich zu beherrschen. Doch dann zügelte sie ihren Durst mit eiserner Willenskraft und nahm den Kopf von seinem Hals.

„Oh mon cher, Sie sind köstlich. Aber Roland hat mir verboten, Sie zu töten. Ich darf Sie nur aufhalten, bis ihre Flucht …“ Sie biss sich auf die Lippen, als hätte sie beinahe ein wichtiges Geheimnis preisgegeben. „Egal. Jetzt sind sie außerhalb Ihrer Reichweite.“ Sie gab ihn frei, er stolperte rückwärts. Hob eine Hand und drückte sie auf den Hals. Als er das Blut daran sah, wurde er um ein Haar ohnmächtig, so groß war sein Unbehagen. Sie hätte es sogar mit den Augen einer Sterblichen erkennen können, aber in ihrem Vampirdasein spürte sie jeden seiner Gedanken.

„Wenn Sie den Jungen noch einmal behelligen, Monsieur, dann mache ich Ihnen mit Vergnügen den Garaus. Und ich verspreche Ihnen, selbst wenn Sie das Gegenteil behaupten, auch Sie werden das pure Vergnügen dabei empfinden. Bis zum Augenblick Ihres Todes.“

Er sah hektisch von rechts nach links und suchte Beistand. Doch er fand keinen. „Das werden Sie mir büßen!“, rief er, als er weiter von ihr entfernt war und sich sicherer fühlte. Er ging einem näher kommenden Fahrzeug entgegen. „Ich sorge dafür, dass Sie es büßen. Sie alle.“

„Ja. Ich weiß, das werden Sie versuchen. Ein letztes Wort, mein Teuerster, dann muss ich gehen. Ihr Geschmack auf meinen Lippen hat großen Appetit in mir geweckt.“

„Sie sind ein Tier!“

Sie lächelte bedächtig. „Ganz genau. Ein Raubtier, um genau zu sein. Und wenn Sie Roland noch einmal zu nahe kommen, werden Sie meine Beute. Glauben Sie mir, wenn ich Roland rächen muss, wird es kein angenehmes Erlebnis für Sie. Ich tue Ihnen weh, Curtis Rogers. Sie werden sich vor mir winden.“

Sie ließ ihn mit einem plötzlichen Ausbruch von Geschwindigkeit stehen, wohl wissend, dass es für seine Menschenaugen so aussehen musste, als wäre sie einfach verschwunden. Er würde nicht zum Schloss gehen. Jedenfalls nicht gleich. Sie dachte, sie hätte ihn davon überzeugt, dass Roland und der Junge ein Flugzeug bestiegen hatten und mit unbekanntem Ziel verschwunden waren. Er war so leicht auf sie hereingefallen. Zuerst würde er andernorts suchen. Für die Dauer der nahenden Dämmerung würden sie in Sicherheit sein. Dennoch galt es, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Rhiannon raste zu dem kleinen gemieteten Haus außerhalb von L’Ombre, um sie auszuführen, und natürlich, um ihre Katze zu holen.

Roland hatte keine Ahnung, wohin sie gegangen war oder wann sie zurückkehren würde. So war sie eben. Unstet. Sprunghaft. Unbelehrbar. So gut wie unwiderstehlich. Er stöhnte verhalten. Nicht einmal im Zorn konnte er sein Verlangen vergessen.

Als sie vorhin Jamey angesehen hatte, hätte Roland schwören können, dass er so etwas wie aufrichtige Zuneigung an ihr bemerkt hatte. Aber es lag auf der Hand, dass sie etwas für den Jungen empfinden musste. Er gehörte zu den Auserwählten. Er war ein Mensch, der die beiden seltenen Eigenschaften, die alle Vampire als Menschen gehabt hatten, in sich trug – jene einzigartige Verknüpfung, die ihnen ermöglichte, verwandelt zu werden: Die Ahnenreihe, die Prinz Vlad den Pfähler einschloss, die aber, allen Theorien seines Freundes Eric Marquand zum Trotz, noch viel weiter zurückreichte, und das Antigen namens Belladonna in seinem Blut. Ein Mensch mit diesen Eigenschaften wird, auch wenn er selbst es vielleicht nicht einmal bemerkt, zum Mündel der Untoten. Vampire wachen über solche Individuen, besonders über Kinder. Sie können nicht anders. Und alle übernatürlichen Wesen spüren ihre Anwesenheit, ebenso jeden Hauch einer Gefahr für sie. Und doch werden die Auserwählten selten verwandelt oder auch nur kontaktiert. Die meisten gehen durchs Leben und erfahren nie etwas von ihrer psychischen Verbindung mit einer Gesellschaft, die sie für einen reinen Mythos halten.

Die Situation mit Jamey war einzigartig. Um ihn zu beschützen, war Roland nichts anderes übrig geblieben, als die jetzige Lage herbeizuführen. Die Leute vom DPI wussten von Jameys Eigenschaften, von seiner Verbindung nicht nur zu einem, sondern zu drei – nein, vier – Vampiren. Der Junge war von unschätzbarem Wert für sie. Sie würden vor nichts zurückschrecken, um ihn zu bekommen, ihn in einem ihrer diabolischen Labors festzuhalten und zahllose qualvolle Experimente mit seinem jungen Körper durchzuführen, während sie auf die unweigerliche Ankunft seiner Beschützer warteten.

Und obwohl das alles so war, hatte Rhiannon sich wieder einmal in Luft aufgelöst.

Aber das wusste er besser, oder nicht? Sie mochte unberechenbar sein, aber nicht treulos. Sorglos war sie nur, was ihre eigene Sicherheit betraf. Nicht die anderer. Er wollte wütend auf sie sein, aber stattdessen machte er sich Sorgen. Sie war fort, ja, aber wo steckte Rogers? Bei ihr? Sie war schon einmal von einem Mann wie ihm gefangen genommen worden. Könnte sie unvorsichtig genug sein, dass sie wieder in deren Händen landete?

Kaum war Jamey wohlbehalten und unter Aufsicht von Frederick in dem renovierten Apartment im Ostflügel untergebracht, traf Roland die Entscheidung, nach ihr zu suchen. Was ihr zweifellos missfallen würde. Sie machte gern, was sie wollte, ohne Einmischung anderer. Aber er glaubte, dass sie in Gefahr sein könnte, und diese Möglichkeit konnte er nicht außer Acht lassen.

Doch schon ehe er zur Tür kam, spürte er ihre Anwesenheit. Einen Augenblick später merkte er, dass er ein ungeheures Gefühl der Erleichterung empfand, das damit einherging. Doch das war lächerlich. So besorgt war er jetzt auch wieder nicht um sie gewesen.

Sie betrat den großen Saal durch den hohen Torbogen aus antikem Hartholz, das mit gusseisernen Bändern verstärkt wurde. An ihrer Seite stand ein Panther, schlank und so schwarz wie das Kleid aus Samt, das sie noch immer trug. Die grünen Augen des Tiers funkelten wie Smaragde, und es ließ Roland nicht aus den Augen, während es vollkommen reglos blieb und ein tiefes, kehliges Knurren von sich gab.

„Was in Gottes Namen ist das?“

„Meine Katze. Ihr Name ist Pandora, und es wäre mir recht, wenn du sie mit dem Respekt behandeln würdest, den sie verdient.“

„Rhiannon, um Himmels willen …“ Roland machte einen Schritt vorwärts, erstarrte jedoch, als die Katze sich, zum Sprung bereit, duckte und die Zähne fletschte.

„Pandora, aus!“ Nach diesem strengen Befehl entspannte sich das Tier, streckte sich träge, verfolgte aber dennoch jede Bewegung Rolands. „Roland ist ein Freund“, sagte Rhiannon leise und streichelte den großen Kopf der Katze mit ihren langen schlanken Fingern. „Komm, Roland, streichle ihr den Kopf, damit sie weiß, dass du ihr nichts Böses willst.“

Roland fluchte verhalten, sah aber an Rhiannons leuchtenden Augen, dass sie das Tier vergötterte. Diesmal wollte er sie bei Laune halten. Es war ja nicht so, dass die Katze ihm etwas antun konnte. Er ging näher zu dem Tier und streckte eine Hand aus.

Mit einer blitzschnellen Bewegung schlug Pandora ihm die Hand mit ausgefahrenen Krallen weg und gab ein kurzes wütendes Fauchen von sich.

„Pandora!“ Rhiannon gab der Katze einen Schlag auf die Nase, streckte sich, ergriff Rolands Hand und betrachtete den Kratzer, den ihm die Katze zugefügt hatte. Ein schmaler Streifen roter Blutströpfchen.

„Tut mir leid, Roland. Weißt du, sie will mich unbedingt beschützen, und du hast die Stimme gegen mich erhoben.“ Dann hob sie seine Hand, führte sie an die Lippen und strich, selbst ganz katzenartig, mit der feuchten Zunge über das Mal, von den Knöcheln bis zum Handgelenk. Die erotische Energie dieser Berührung schoss wie ein Feuer durch sie hindurch, sodass sie ihre Augen schloss, und auch auf Roland verfehlte sie ihre Wirkung nicht. Flammenzungen loderten in seinen Lenden empor. Er verzog das Gesicht, so stark war seine Empfindung.

„Komm, Darling“, flüsterte sie. „Zeig Pandora, wie nahe wir uns stehen. Das dürfte sie beruhigen. Ich weiß es. Komm, nimm mich in die Arme. Nur dies eine Mal. Um die Katze zu beruhigen.“

„Rhiannon, ich finde nicht …“

„Warum muss ich mich für jede kleinste Berührung von dir so sehr anstrengen?“ Sie schüttelte den Kopf und sah wieder zu der Katze, die abermals bedrohlich fauchte. „Du wirst schon nicht an meinen Küssen sterben, Roland, auch wenn sie giftig sein mögen. Unsere Umarmung dürfte Pandora beruhigen. Sie hält Rogers aus dem Schloss fern, wenn wir tagsüber schlafen. Sie ist bestens abgerichtet, das kann ich dir versichern. Und jetzt nimm mich bitte in die Arme. Drück mich an dich. Küss meine Lippen. Einen weiteren Beweis braucht sie nicht, das verspreche ich dir.“

Roland näherte sich ihr fast gegen seinen Willen. Er legte die Arme um Rhiannons schlanke Taille, worauf sie augenblicklich die Hüften an ihn presste. Wogen des Verlangens rasten durch seine Adern. Sie schlang ihm die täuschend zierlichen Arme um den Nacken. Ihr Geruch war nicht mit dem von Menschen vergleichbar. Eine exotische Mischung des übernatürlichen Blutes, das unter ihrer Haut floss, der duftenden Säfte ihrer Erregung, die ihr Innerstes feucht machten, des Hennas, mit dem sie immer noch ihr Haar spülte, und des geheimnisvollen Weihrauchs, den sie regelmäßig verbrannte.

Ein sterblicher Mann hätte das alles nicht bemerkt. Noch hätte er die subtile Veränderung des Lichts bemerkt, das sich in ihren schwarzen Augen brach, und gewusst, dass es den Anbeginn jener übermächtigen Wollust bedeutete, die nur Unsterbliche verspüren und begreifen können. Sie grenzt an Gewalt, diese Lust. Sie wird eins mit dem Blutdurst, bis die beiden miteinander verschmelzen und ununterscheidbar werden.

Er zog sie an sich, bis ihre drallen Brüste fest gegen seinen Brustkorb drückten. Ihre aufgerichteten kleinen Brustwarzen – zwanzigmal empfindlicher als die einer sterblichen Frau – bohrten sich trotz des Kleides, das sie trug, und seines Hemds in seine Haut.

Er sah ihr ins Gesicht und ließ den Blick einen Moment auf den geöffneten Lippen verweilen. Noch konnte er den Hauch seines eigenen Blutes auf ihrer Zunge wittern. Langsam ergab er sich dem Wahnsinn, den nur sie in ihm entfachen konnte. Er senkte den Kopf, bis sein Gesicht, seine Lippen über ihre glatte Wange glitten. Er rieb sich am Wangenknochen entlang, dann an ihrer edlen Stirn. Mit den Lippen knabberte er an dem schmalen, geraden Nasenrücken hinab und tänzelte dann über den schmalen Streifen zarten Fleischs zwischen Nase und Oberlippe.

Sie gab ein leises Geräusch von sich, ein tiefes, kehliges Schnurren, und legte den Kopf leicht in den Nacken, damit sie die Lippen seinen entgegenstrecken konnte. Roland, der keinerlei Zurückhaltung mehr kannte, akzeptierte ihren Mund wie ein Verhungernder seinen ersten Krümel Essen. Er krallte die Finger in ihr Haar und ließ die Zunge in ihren Mund gleiten. Ihr Geschmack war berauschend, ein Aphrodisiakum. Roland pochte vor Verlangen.

Sie spürte seine Erregung, drängte sich mit den Hüften an ihn und hauchte seinen Namen als leisen, tiefen Seufzer.

Roland schob sie von sich und wich zurück, auch wenn es ihn mehr Anstrengung kostete, als hätte er sein ganzes Schloss über den Kopf gehoben. Die Lust in ihm rauschte laut in seinen Ohren, doch er wagte nicht, ihr zu erliegen. Nein. Es wäre zu leicht, mit Rhiannon jegliche Vernunft über Bord zu werfen. Er könnte sich hinreißen lassen zu einer zügellosen Reise der Leidenschaft. Er könnte vergessen, was wichtig war …

Er könnte den Jungen im Ostflügel vergessen, der sich abermals auf einen Kampf vorbereiten musste, den nicht einmal ein Erwachsener durchmachen sollte. Er könnte den winzigen cimetière im Wald jenseits der Schlossmauer vergessen. Die fünf Gräber, so alt, dass sie längst verschwunden wären, hätte er sie nicht gehegt und gepflegt und die Grabsteine alle paar Jahre durch immer kunstvollere und teurere Stücke ersetzt. Dort lagen seine Mutter, sein Vater und seine drei teuren Brüder unter der kalten Erde, die einst über seinen Wunsch, ein Ritter zu werden, gelacht hatten. In Wahrheit, das wusste er inzwischen, hatten sie nur Angst gehabt, ihr jüngster Bruder könnte in einen blutigen Kampf verwickelt werden. Sie hatten ihn geliebt. Und er hatte ihre Liebe mit Hass und Verrat vergolten und zuletzt mit Abwendung. Nein, das würde er sich niemals verzeihen.

Am wichtigsten war, dass er nie die Bestie vergaß, die in ihm wohnte. Sie hatte schon in den Tiefen seiner schwarzen Seele gelebt, als er noch ein gewöhnlicher Sterblicher war. Und er musste sie im Zaum halten, denn wenn er ihr jetzt freien Lauf ließ, würde sie nicht wiedergutzumachende Verwüstungen anrichten.

Rhiannon machte ihn sorglos. Sie brachte den impulsiven, verantwortungslosen Mann ans Licht, der er einst gewesen war. Der töricht genug gewesen war, der Bestie freien Lauf zu lassen. Manchmal brachte sie ihn dazu, dass er das Tier in sich wieder befreien wollte. Dass er ihm die Kontrolle überlassen wollte. Sie erfüllte ihn mit einem Verlangen, neben dem alles andere zur Bedeutungslosigkeit verblasste.

„Roland, Darling? Was ist denn?“ Rhiannon stand jetzt allein, ein Meter trennte die beiden voneinander. Sie wirkte gefasst, aber er spürte ihre Verwirrung, die unerfüllte Leidenschaft, die sie quälte. „Hör jetzt nicht auf“, flüsterte sie. „Wir müssen Pandora überzeugen …“

Roland schüttelte sich. Er verspürte nichts anderes als Lust auf sie. Er wollte keine Gefährtin, schon gar keine, die so unbeherrscht und explosiv wie sie war. Allein ihre Gegenwart stellte eine Bedrohung für seine geistige Gesundheit dar.

Er spürte, wie die riesige Katze den schweren seidigen Körper an sein Bein drückte, zuerst den Kopf, dann den Hals, während sie sich langsam und genüsslich an Rolands Schenkel rieb.

„Ich glaube, die Katze ist überzeugt, Rhiannon.“ Roland ließ die Hand sinken und kraulte der Raubkatze den Kopf. Sie krümmte sich seiner Berührung entgegen und schnurrte wie ein Automotor.

„Pandora, du Verräterin! Ich habe dir gesagt, du sollst noch eine Weile warten, bis du Freundschaft schließt!“

Rolands Brauen schnellten in die Höhe. „Du meinst, sie brauchte gar keine Überzeugung, nur deine Anweisung?“

Rhiannon schob die Unterlippe, die so prall und feucht aussah wie eine reife Pflaume, ein klein wenig weiter vor als die Oberlippe. „Manchmal muss ich jede Menge Anstrengung auf mich nehmen, damit du dich auf mich einlässt, Dummkopf.“

„Und die Katze?“

Rhiannon zuckte mit den Schultern. „Die habe ich noch nicht durchschaut. Ich weiß nur, dass ich sie lesen kann und sie mich. Wir sind auf einer Ebene verbunden, die keiner von uns verstehen kann. Ich muss nicht mit ihr sprechen, sondern ihr nur im Geiste Nachrichten schicken. Keine Worte, wohlgemerkt. Nur Bilder. Und sie gehorcht mir rückhaltlos.“

„Also hat sie mich nur angefaucht, weil du ihr es gesagt hast?“

Sie zuckte mit den Schultern und bemühte sich um eine Unschuldsmiene, was ihr jedoch nicht gelang. „Wie ich ihr sagen werde, dass sie Jamey beschützen soll, während wir schlafen. Kein Sterblicher wird einen Fuß in dieses Schloss setzen, solange Pandora es bewacht. Und wenn, überlebt er es nicht.“

„Und wenn sie den Jungen als kleine Zwischenmahlzeit verspeist?“

„Das würde sie ebenso wenig machen wie du, Liebster.“

Diese Bemerkung tat weh, aber Roland beachtete die Spitze nicht. „Bist du sicher?“

„Glaubst du, ich würde das Kind, das du so offenkundig bewunderst, einer Gefahr aussetzen?“

Er schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nein. Das glaube ich nicht.“

„Du glaubst es nicht.“ Sie schleuderte das Haar über die Schultern und ging zu der verfallenen Steintreppe, die an der runden Burgmauer hinaufführte. „Komm, Pandora. Ich stelle dich unseren neuen Freunden vor.“

Als sie die Treppe hinaufging und die große Raubkatze sich sputete, ihr zu folgen, sondierte Roland ihre Gedanken. Er sah, wie sie sich Jamey und Frederick vorstellte, wie sie sich vorstellte, dass sie sie umarmte und die Sterblichen die Katze mit den Händen streichelten. Er hatte seine Vorbehalte, zweifelte jedoch nicht an ihrem Tun.

Im Augenblick hatte er genug andere Sorgen. Er konnte keine Zeit vergeuden und über ihre wahren Motive nachdenken, warum sie dem Jungen helfen wollte. Er wusste um ihre Aufrichtigkeit. Und dennoch war er verblüfft; denn so lange, wie er Rhiannon kannte, hätte er nie für möglich gehalten, dass sie einmal Gefühle für einen Sterblichen entwickeln könnte. Ihre Abenteuerlust und ständige Suche nach Aufregung gingen ihr über alles. Er hatte sie und die Risiken, die sie einging, nie verstanden.

Nein. Es wäre besser, wenn er sich über seine eigene lächerliche Reaktion auf sie Gedanken machte. Natürlich erregte sie ihn. Welcher Mann, ob sterblich oder unsterblich, könnte bei ihrer Berührung, ihrem Geruch, ihren Schwingungen ungerührt bleiben? Er widersetzte sich ihren ständigen Avancen nicht, weil er sie nicht begehrte. Ganz im Gegenteil. Er begehrte sie zu sehr … körperlich. Aber wenn man nur aus Lust kopulierte, sank man auf die Stufe eines Tieres herab.

Außerdem würde sie einfach wieder aus seinem Leben verschwinden, wenn es vorbei war.

Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte.

Und dann die ständige Angst, er könnte die Kontrolle verlieren. Diesen Drang setzte Rhiannon wie keine andere in ihm frei.

Nach einigen Augenblicken hatte sich Roland wieder im Griff und ging die abgenutzten Steinstufen hinauf. Er schlich sich durch den dunklen Flur und blieb vor der Gewölbetür zu dem Apartment stehen. Als er sie öffnete, ließ ihn der Anblick, der sich ihm bot, beinahe aufschreien.

Jamey lag auf dem Rücken am Boden, die schwarze Bestie mit den Pfoten auf seiner Brust auf ihm. Der Junge hielt den riesigen Kopf des Panthers mit den Händen und schwenkte ihn ungestüm von rechts nach links. Die Katze gab tiefe, bedrohliche Laute von sich und peitschte mit dem Schwanz. Roland erstarrte und wollte sich schon auf die Raubkatze stürzen, als er merkte, dass Jamey nicht um Hilfe rief. Er lachte!

Vor den Augen des fassungslosen Roland warf der Junge die Katze von sich auf die Seite, worauf sich Pandora auf den Rücken wälzte, reglos verharrte und den Jungen mit gedrehtem Kopf ansah. Der erhob sich und kraulte dem Tier heftig den seidigen Bauch, während die Katze den Rücken krümmte, die Augen schloss und ein lautes Schnurren von sich gab.

Roland zwang sich, den Blick von dem Schauspiel abzuwenden und Rhiannon anzusehen, die neben Frederick stand. Sie schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. „Sehen Sie, sie ist nur ein etwas zu groß geratenes Kätzchen.“ Sie kam durch das Zimmer zu Roland. „Seltsam, ich dachte, ich müsste sie miteinander bekannt machen … ihnen Zeit lassen, damit sie sich aneinander gewöhnen können. Aber es ist, als hätte sie Jamey in dem Moment erkannt, als sie ihn sah.“ Sie richtete den stechenden Blick ihrer dunklen Augen auf Frederick. „Aber Sie sollten vorsichtiger mit ihr umgehen, Freddy. Bei Ihnen ist sie vielleicht nicht ganz so zartfühlend.“

Frederick leckte sich die wulstigen Lippen, trat langsam vor, und sein Hinken war ausgeprägter denn je. „Pandora“, rief er mit seiner Baritonstimme. Er näherte sich den beiden auf dem Teppichboden langsam. „Pandora, komm her, Kätzchen.“

Die Katze blickte auf und drehte sich gemächlich auf den Bauch. Sie blieb mit ausgestreckten Pfoten und erhobenem Kopf so reglos wie eine Sphinx liegen und sah Frederick an. Der schaute zu Rhiannon. „Kann ich sie streicheln?“

Rhiannon nickte, richtete den Blick selbst auf den Panther und sandte ihm lautlos geistige Botschaften. Frederick streckte die Hand aus, berührte zärtlich Pandoras Kopf und streichelte ihn langsam. Damit machte er weiter, bis die Katze erneut ihr tiefes Schnurren von sich gab. Sie machte die glänzenden Augen zu und drückte den Kopf in Fredericks Hand.

Frederick lachte und legte dabei den kantigen blonden Kopf in den Nacken. „Danke, dass Sie sie mitgebracht haben.“

„Danke, dass Sie ihr vertraut haben“, entgegnete Rhiannon. „Rogers wird uns vermutlich heute nicht mehr stören. Ich habe ihm eingeredet, dass ihr alle das Land verlassen habt. Trotzdem hält sie ihn fern, sollte er etwas versuchen.“

„Jede Wette“, sagte Frederick leise.

„Und morgen Abend kümmern wir uns darum, dass wir Jamey an einen sicheren Ort bringen.“

„Nein.“ Jamey stand auf und sah Rhiannon und Roland an.

Roland seufzte. „Ich weiß, das ist schwierig für dich, Jameson, aber …“

„Nein. Es ist unmöglich. Ich gehe morgen nicht weg. Ich habe noch einmal Training, und dann ist das große Spiel.“ Er wandte sich an Rhiannon. „Es ist die Meisterschaft, Rhiannon. Vorher können wir nicht fortgehen.“

Roland machte den Mund auf, aber Rhiannon hielt die Hand hoch. „Dein Spiel … Fußball, nicht?“

Jamey nickte. „Ich habe die ganze Saison darauf hingearbeitet. Und das lasse ich mir von Curtis Rogers nicht nehmen. Er hat mir schon genug genommen. Wir spielen im Stadion, bei Flutlicht. Es ist das größte Spiel des Jahres.“

Rhiannon nickte. „Das Spiel, um welche Uhrzeit …“

„Übermorgen Abend, sieben Uhr.“ Hoffnung leuchtete in Jameys Augen auf.

Rhiannon dachte angestrengt nach. „Um sieben ist es schon dunkel, oder nicht?“

Roland konnte nicht mehr schweigen. „Rhiannon, in einem Stadion voller Zuschauer können wir den Jungen nicht beschützen. Denk nicht einmal daran …“

„Es ist wichtig für ihn, Roland. Das siehst du doch.“

„Ich muss morgen nach der Schule am Training teilnehmen. Wenn ich es verpasse, kann ich bei dem Spiel nicht mitmachen. Regel des Trainers.“

„Nein. Das kann ich nicht einfädeln“, sagte Rhiannon leise. „Das Training findet tagsüber statt. Da können wir nicht auf dich aufpassen.“

„Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Es ist eigentlich ganz einfach“, fuhr Rhiannon fort, als hätte er gar nichts gesagt. „Ich schreibe eine Notiz für deinen Trainer, dass du dir den Knöchel verstaucht hast und den ganzen Tag ausruhen musst, sonst kannst du nicht an dem Spiel teilnehmen. Wenn er ein ärztliches Attest verlangt, dann schreibe ich natürlich eines. Diesen Brief lasse ich zustellen, nebst einem Scheck, einer Spende für das Team, wenn du so willst. Die Summe wird so ordentlich sein, dass dich der Mann gern vom Training befreien wird. Na also, siehst du, wie einfach das ist?“

Jamey lächelte zaghaft. Dann runzelte er die Stirn. „Ich sollte Ihr Geld nicht annehmen …“

„Pah“, meinte Rhiannon mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ich habe mehr, als du dir vorstellen kannst.“ Sie sah Jamey mit tief empfundener Zuneigung in den Augen an. „Außerdem kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal bei einem Fußballspiel gewesen bin. Und damit ist es abgemacht.“

Sie ging zur Tür hinaus – mit ihrem schwarzen Samtkleid der Inbegriff von Eleganz.

Roland folgte ihr.

An der Treppe blieb sie stehen, drehte sich zu ihm um und forderte ihn regelrecht heraus, mit ihr zu streiten.

„Ich habe nicht die Absicht, zu diesem Fußballspiel zu gehen.“

Sie zuckte geziert mit den Schultern. „Wir werden dich natürlich vermissen, aber wenn das deine Entscheidung ist …“

„Jameson geht auch nicht. Das Risiko ist zu groß.“

Sie verdrehte die Augen. „Was wäre denn das Leben ohne Risiken?“

„Ich verbiete es, Rhiannon.“

„Du kannst es verbieten, sooft du willst. Jamey und ich gehen zu diesem Spiel. Und glaub mir, Darling, kein Sterblicher wird dem Jungen auch nur ein Haar krümmen, wenn ich mich in seiner Nähe aufhalte. Du vergisst, wer ich bin.“

Er schüttelte den Kopf. „Es dürften so über hundert Sterbliche anwesend sein. Man würde uns sofort erkennen. Uns als das entlarven, was wir sind. Hast du den Verstand verloren?“

Sie drehte sich nur um und ging weiter die Treppe hinunter. „So wie ich gestern Nacht im ‚Le Requin‘ entlarvt wurde? Roland, wir haben Möglichkeiten, uns zu tarnen. Etwas Make-up auf unsere blasse Haut, eine Sonnenbrille, wenn du Angst hast, man könnte das Glühen in deinen Augen sehen. Etwas Puder auf die blutroten Lippen. Weißt du, es ist wirklich kinderleicht, sie hinters Licht zu führen. Außerdem sind sie moderne Menschen. Sie würden uns nicht abkaufen, was wir sind, wenn wir es ihnen mitten ins Gesicht sagen würden.“

„Das ist Wahnsinn“, murmelte er und sah ihr nach, als sie die Treppe hinunterging. Wie sollte man den eigenen Charakter, die eigene Gewalttätigkeit maskieren? Wie konnte Roland zulassen, dass die beiden Menschen, die er am meisten beschützen wollte, sich selbst in so eine gefährliche Lage brachten?

Sie erreichte das untere Ende der Treppe und wartete, bis er sie eingeholt hatte. „Du hast zu lange wie ein Einsiedler gelebt, Roland. Du gönnst dir nicht den kleinsten Luxus.“

„Ich habe alles, was ich brauche.“

„Unsinn. Wenn du einige der Orte sehen könntest, wo ich gelebt habe … Landhäuser, Penthouse-Suiten in den teuersten Hotels. Ich besitze ein herrliches Apartment in New York. Wenn ich reise, dann nur in größtmöglichem Luxus. Ich besuche die Oper, das Ballett, das Theater. Roland, es gibt keine Gefahr. Nicht für uns. Wer sollte uns etwas antun können?“

„Das DPI, wie du nur zu gut weißt.“

„Ah. Da mache ich in den Jahrhunderten meiner Existenz einen kleinen Fehler, und daran klammerst du dich wie Pandora an ein Steak.“

„Eric hätten sie um ein Haar auch erwischt. Das kann passieren.“

„Eric ist jung … erst zwei Jahrhunderte alt, Roland. Du hast das Dreifache seiner Macht und Kräfte. Außerdem, was nützt ein ewiges Leben, wenn man es so verbringt?“ Sie zeigte mit der Hand in den großen Saal.

Er seufzte. Es war ein anstrengendes Unterfangen, mit ihr zu diskutieren. „Ich lebe hier, weil ich es will.“

„Nein. Ich glaube, du klammerst dich an die Vergangenheit. Du kannst deine Unsterblichkeit nicht genießen, dich nicht daran erfreuen, weil du eine falsche Vorstellung von Familienloyalität hast oder so.“

„Und ich finde, du suchst die Gefahr absichtlich, als wolltest du den Tod damit herausfordern. Warum tust du das, Rhiannon?“

Ihr Gesicht wurde augenblicklich verschlossen und ließ keine Gefühlsregung mehr erkennen. Sie verschloss selbst ihre Gedanken vor ihm und legte unverzüglich einen dichten Schleier darum. Er wusste, er hatte einen Nerv getroffen, hatte jedoch keine Ahnung, welchen.

„Selbst wenn das stimmen würde, musst du wissen, dass ich deinen Jamey nie in meine Auseinandersetzungen mit hineinziehen würde. Ich würde ihn nicht in Gefahr bringen, Roland.“

„Warum nicht? Was bedeutet er dir?“

„Was er dir bedeutet, darauf kommt es an.“ Sie senkte den Blick zu Boden, und einen Moment konnte Roland unverhüllten Schmerz in ihren Augen sehen. „Ich weiß, wie er sich fühlt. Ich kenne die Art von Schmerz, die er in seinem jungen Herzen fühlt. Der Verlust seiner Mutter …“ Sie blinzelte und verstummte, als ihre Stimme heiser wurde. Dann wandte sie sich ab, wirbelte herum und stapfte auf dem Steinboden zu der schweren Tür.

„Wohin gehst du?“ Er streckte seine geistigen Fühler nach ihr aus. Ihm schien, als hätte er eine Seite von Rhiannon erlebt, die noch niemand je zu Gesicht bekommen hatte. Er wollte mehr wissen, wollte die Ursache des Schmerzes ergründen, den er gerade gesehen hatte. Wollte ihm ein Ende machen.

„Natürlich in meine Behausung. Es dämmert schon fast.“

Er war ratlos. Dass sie das Schloss heute noch verlassen würde, damit hatte er nicht gerechnet. „Ich … ich dachte, du würdest hierbleiben.“

„Und hier schlafen? Ich nehme an, du hast irgendwo in deinem feuchten Kerker einen Ersatzsarg aus poliertem Hartholz, den ich benutzen könnte?“ Sie fand zumindest mit der Stimme zu ihrem alten Zynismus zurück.

Er antwortete nicht.

„Ich bevorzuge ein weiches Bett, Roland. Satinlaken sind mir lieber als Leichentücher. Eine flauschige Daunendecke und ein weiches Kissen unter dem Kopf. Und ich bevorzuge frische Luft und den Duft von Weihrauch.“

„Hört sich reizend an. Aber wie schützt du dich?“

„Komm irgendwann einmal in der Dämmerung zu mir, Darling, dann zeige ich es dir.“ Sie drehte sich mit einem Rauschen ihres Samtkleids um, schritt zur Tür, und weg war sie.