Keith

2. KAPITEL

Roland fühlte sich, als wäre er die Bastille und sie die Revolutionäre. Einen Augenblick lang war er fest überzeugt, dass er keine Chance hatte. Er versuchte an all ihre Fehler zu denken. Sie war impulsiv, anmaßend und so unberechenbar wie das Wetter. Sie handelte, ohne vorher über die Konsequenzen nachzudenken, und das würde sie früher oder später teuer bezahlen. Verdammt, sie hatte es schon teuer bezahlt. Er spürte, dass sie die Zeit in St. Claires Händen beschönigte. Aber er war klug genug, sie nicht wegen der Einzelheiten zu bedrängen. Er hätte den Dreckskerl schon vor Jahren getötet, wenn er das gewusst hätte. Er würde ihn jetzt töten, wäre der Wissenschaftler noch am Leben.

Es nützte wenig, ihre Fehler zu rekapitulieren. Die Bestie in seinem Inneren war bereits erwacht. Allein durch ihre Anwesenheit dachte er schon in Begriffen wie Mord und Vergeltung, musste er gegen die brutale Seite seines Charakters ankämpfen. Er betrachtete sie und schüttelte langsam den Kopf. Sie war so sehr, wie er einst gewesen war, in seinem sterblichen Leben. Alles, wogegen er seit Jahren ankämpfte.

Vielleicht konnte er sein Verlangen nach ihr nicht verringern, indem er sich ihre Fehler vor Augen führte. Vielleicht sollte er lieber seine eigenen zählen. Noch besser wäre, wenn er daran denken würde, was aus der anderen Frau geworden war, die er so begehrt hatte.

„Du schirmst deine Gedanken ab, Roland. Sind sie denn so vernichtend?“

„Ich schirme meine Gedanken aus Gewohnheit ab. Nimm es nicht persönlich.“

„Ich glaube, du lügst. Du möchtest nicht, dass ich etwas sehe.“

Er zuckte mit den Schultern. Wenn sie entschlossen war zu bleiben und ihn zu reizen, würde er ihr widerstehen, so gut er konnte. Für sie und für sich selbst. Er würde Distanz wahren. Niemals sollte die Bestie in seinem Innern befreit werden und über sie kommen. Das hatte sie wirklich nicht verdient.

Und wenn sie schon hier war, konnte er ja versuchen, ihr beizubringen, sich reif und vernünftig zu benehmen. Er würde ihr den Unterschied zwischen einer wahren Dame und der ungezähmten Göre zeigen, die sie jetzt war. Als würde man aus einer Kaktusblüte eine Rose machen, dachte er. Daran, dass auch er Nutznießer des Ergebnisses sein würde, wollte er nicht denken. Denn nichts konnte ihn dazu bringen, sich nach der Blüte der Rose ebenso sehr zu verzehren wie nach der stacheliger Gewächse.

Nein, dachte er, die Lektion wäre einzig und allein für sie, damit sie von Zeit zu Zeit etwas mehr Vorsicht walten ließ. Er mochte Rhiannon manchmal fast gegen seinen Willen. Wenn sie ihres Naturells wegen zu Schaden kam – so wie er einst –, wäre das schlimm für ihn.

Er runzelte die Stirn und fragte sich kurz, wie lange ihr Aufenthalt dauern würde. Sie hatte es ihm nicht gesagt. Schon gewohnheitsmäßig tauchte sie in seinem Leben auf und verschwand wieder. Sie blieb nie lange genug, dass sie mehr als ein Strohfeuer entfachte und mit ihrem zügellosen Charakter seine Sinne – und seine Vernunft – auf eine harte Probe stellte, und dann verschwand sie wieder. Sie war ein Wüstenorkan … ein Sandsturm vom Nil.

„Roland, Darling, du ignorierst mich.“

Er hatte alles andere getan, hätte es jedoch nie zugegeben. Stattdessen sah er aus den Augenwinkeln auf sie hinab und nickte heftig. „Exakt.“

Sie seufzte ergeben. „Ich nehme an, wenn du dich weigerst, über unsere Beziehung zu reden …“

„Wir haben keine Beziehung, Rhiannon.“

„Dann unterhalten wir uns eben nur über den Jungen.“ Sie fuhr einfach fort, als wäre sie nie unterbrochen worden. Auch das gehörte zu ihren unerträglichen Angewohnheiten. Im Gespräch mit Rhiannon sagte man entweder das, was sie hören wollte, oder man wurde ignoriert. Unerträglich!

„Was ist mit dem Jungen?“

„Wo ist er, Roland? Ist er in Sicherheit?“

Er spürte, wie er sich ein wenig entspannte, da sie jetzt über ein unverfängliches Thema sprachen. „Anfangs lebten er und seine Mutter im Schloss.“

„In dieser Ruine?“

Roland erstarrte. „Im Ostflügel, Rhiannon. Der ist bewohnbar.“

„Vielleicht für einen Mönch. Weiter.“

Er zog ein finsteres Gesicht, sprach jedoch weiter. Er verspürte keinen Wunsch, sich auf verbale Scharmützel einzulassen. „Dann wurde Kathy krank.“

„Kein Wunder, in der zugigen Bude.“

Diesmal überhörte Roland ihren Spott einfach. „Es war Krebs, Rhiannon. Sie starb vor acht Monaten.“

Rhiannon fasste sich mit der Hand an den Hals und atmete erschrocken ein. „Dann ist der Junge allein?“

„Nicht ganz. Er hat mich und natürlich Frederick.“

„Frederick?“ Sie legte den Kopf ein wenig schief. „Dieser Bär von einem Mann, den du schlafend auf den Straßen New Yorks gefunden hast? Roland, kann man ihm den Jungen anvertrauen?“

Roland nickte ohne Vorbehalte. Frederick war nicht gerade der Hellste, hatte aber ein Herz aus Gold. Und er vergötterte Jamey. „Ja. Würde ich ihm nicht vertrauen, wäre er nicht in meinem Haus. Jamey braucht jemanden, der in den Stunden zwischen Schule und Sonnenuntergang auf ihn aufpasst.“

Sie schlenderte weiter an seiner Seite und strich sich mit den langen Fingern über die Stirn wie eine Zigeunerwahrsagerin vor einer Sitzung. „Mmm, du hast ihn zweifellos in einer Privatschule untergebracht.“

„Er war dagegen. Meinte, er wäre kein Snob und wollte auch keiner werden.“ Roland schüttelte den Kopf. „Er besitzt enorme Willenskraft. Jedenfalls ist er dort als James O’Brien untergebracht. Das war das Beste, was mir zu Jamey Bryant eingefallen ist.“

„Und wo steckt dein Junge jetzt? Schläft er ruhig und friedlich in seinem Bett in deinem Château?“

„Er hatte heute Abend ein Fußballspiel. Müsste jeden Moment eintreffen.“ Er sah nach vorn zu der hohen Mauer aus grauem Stein, die Schloss Courtemanche umgab, und dem Tor in der Mitte.

„Du hast Frederick auch ein Auto gegeben? Kann er denn fahren?“

Er folgte stirnrunzelnd der Richtung ihres Blicks. „Verdammt noch mal.“ Er ergriff Rhiannons Arm und zog sie in die Deckung eines Gebüschs am Rand der schmalen Straße.

„Was machst du denn?“

„Pst, Rhiannon.“ Roland bewegte sich langsam, näherte sich lautlos dem Tor und betrachtete den Cadillac, der unmittelbar davorstand. „Dieses Auto dürfte nicht hier sein.“

„Es ist nicht …“ Sie biss sich auf die Lippen und sah mit zusammengekniffenen Augen zu dem dunklen Fahrzeug. „Es sitzt ein Mann am Steuer.“

Roland nickte. Er tastete bereits den Geist des Eindringlings ab, doch dieser blieb ihm verschlossen. In die meisten Menschen konnte man so leicht hinein, dass es ein Kinderspiel war, ihre Gedanken zu lesen. Aber der hier riegelte seinen Verstand absichtlich ab, dessen war Roland ganz sicher. Trotz seines übernatürlichen Sehvermögens konnte er in der Dunkelheit nichts erkennen. Der harte Knoten in seinem Magen war der einzige Beleg dafür, dass Curtis Rogers in dem Wagen saß, beobachtete und wartete … bis Jamey kam.

Rhiannon flüsterte: „Aber ich spüre den Jungen nicht.“ Sie schüttelte frustriert den Kopf. „Ist das Rogers?“

„Ich weiß nicht, aber falls er es sein sollte und er wirklich Rache will, dann ist Jameson in Gefahr.“

Rhiannon atmete zischend aus. „Du glaubst, dieser Rogers würde den Jungen nur töten, um dich zu treffen?“

Roland schüttelte den Kopf. „Vermutlich würde er ihn entführen und dann abwarten, bis ich zu ihm komme. Aber wenn Rogers den Jungen in seiner Gewalt hätte, würde er nicht zögern, Tests mit ihm durchzuführen, Experimente, um mehr über die Verbindung zwischen den Auserwählten und den Untoten herauszufinden.“

„Ich kenne das DPI und seine Vorliebe für … Experimente.“

Roland warf Rhiannon einen Seitenblick zu und verspürte erneut Abscheu bei dem Gedanken, was ihr in den Händen des DPI zugestoßen sein musste. Er verspürte den aufrichtigen Wunsch, sie davor zu beschützen, wie er gezwungen war, Jameson zu beschützen. Er wusste, dass das albern war. Rhiannon würde sich nie und nimmer beschützen lassen, von keinem. Darüber hinaus war es so: Wäre sie ständig bei ihm und würde ihn in ein derartiges Gefühlschaos stürzen, dann müsste sie wirklich beschützt werden, aber nicht von ihm, sondern vor ihm.

„Wo ist der Junge? Es ist spät.“

Roland schüttelte den Kopf, machte seinen Geist frei von allen Ablenkungen und konzentrierte sich wieder auf das Naheliegende. „Wenn sie gewinnen, gehen sie meistens unterwegs noch einen Happen essen. Da kann es manchmal recht spät werden.“ Während er das sagte, suchte Roland mit seinem Geist nach Jamey. Es war wie ein Schlag, als er ihn fand und feststellte, dass sich der Junge aus der anderen Richtung auf der Straße näherte und keine Ahnung von der Gefahr hatte, die ihn erwartete.

Der Mann im Auto sah den Jungen auch, denn die Tür ging auf, und er stieg aus. Jamey kam näher, und noch bevor Roland sich für eine Vorgehensweise entscheiden konnte, sprang Rhiannon auf die Füße und rannte auf den Mann zu.

„Oh, Gott sei Dank, endlich habe ich jemanden gefunden!“

Der Mann drehte sich mit einem argwöhnischen Blick in den stechenden Augen um. Jetzt konnte Roland sein Gesicht deutlich sehen. Curtis Rogers hatte sich in den vergangenen zwei Jahren kaum verändert. Das blonde Haar hing ihm immer noch ungekämmt und zu lang in die Stirn. Die hellen Brauen und blassen Augen verliehen ihm das Aussehen eines Schwächlings, und Roland wusste, dass er genau das auch war. Doch da ihm die Ressourcen und das stets innovative Arsenal an Waffen und Drogen des DPI zur Verfügung standen, musste man ihn als Gegner durchaus ernst nehmen.

Und gerade jetzt stand Rhiannon in seiner Reichweite.

„Wer zum Teufel sind Sie?“

„Nur eine Frau, die Hilfe braucht. Mein Auto ist ein paar Meilen die Straße runter liegen geblieben. Ich laufe schon seit einer Ewigkeit durch die Gegend und …“ Sie ging weiter und stellte dabei ein recht überzeugendes knappes Hinken zur Schau. „Sie müssen mich einfach mitnehmen.“

Wenn du zu ihm ins Auto steigst, Rhiannon, zerre ich dich eigenhändig wieder raus! Roland ließ sie seine Gedanken deutlich sehen, und auch seine Wut. Hatte die Frau keinen Verstand? Wenn sie getötet wurde, würde er …

Ganz ruhig, Roland! Du bist so ein Spielverderber!

Sie lächelte Curtis an, während sie näher kam. „Sie lassen mich doch nicht allein hier draußen zurück, oder? Das würde ich Ihnen nie verzeihen.“

Sie schnurrte jetzt regelrecht; Roland spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Rogers ließ den Blick langsam und gründlich über ihren Körper schweifen, nahm jede Kurve in sich auf und verweilte zu lange auf der Brustspalte, die das Kleid so offenherzig zur Schau stellte.

„Ich würde Ihnen gerne helfen, schöne Frau, aber ich muss mich um dringende Angelegenheiten kümmern.“

Roland kam aus seinem Versteck. Es reichte. Wenn er das noch lange duldete … wenn Rogers ihr auch nur ein Haar krümmte …

Nein, Darling! Sie griff mit lautlosen Fingern nach seinem Verstand. Dein Jamey kommt zu nahe. Schleich dich um uns herum und halte den Jungen auf. Ich lenke den hier ab.

Wenn er merkt, dass du eine Unsterbliche bist …, wollte Roland sie warnen.

Ihr tiefes, heiseres Lachen tönte zu ihm herüber; Rogers’ Augen wurden groß. Sieh ihn dir doch an, Roland, der ist vollauf damit beschäftigt zu begutachten, dass ich eine Frau bin. Sie trat noch näher zu dem Mann hin, als wollte sie es beweisen. Sie hob die Hand und strich mit dem Fingernagel am Saum seines Revers entlang. Rogers’ Aufmerksamkeit war abgelenkt. Roland hätte um den Trottel herumtanzen können, ohne dass der es bemerkt hätte. Eifersucht stieg ihm wie Erbrochenes im Hals hoch und verdrängte die Sorge um sie. Er verschwand unter den Bäumen am Straßenrand und kam hastig wieder hervor, als er an den beiden vorbei war. Jamey näherte sich ihm und war nur noch wenige Meter entfernt.

„Jameson … hier ist Roland. Komm sofort her.“

Jamey duckte sich, ohne einen Moment zu zögern, unter die Bäume, wo Roland wartete. „Was ist los?“

Roland runzelte die Stirn, als er den anschwellenden Bluterguss unter Jameys linkem Auge und die leicht aufgeplatzte Oberlippe bemerkte. „Was in Gottes Namen ist denn mit dir passiert?“

Jamey zuckte so unbekümmert die Achseln, wie es nur Vierzehnjährige können. „Fußball ist ein rauer Sport.“ Er sah die Straße hinab, worauf der unbekümmerte Gesichtsausdruck verschwand. „Wer ist das?“

Manchmal besaß er eine Reife, die seinem Alter um Jahre voraus schien, und hütete Roland so sehr, wie dieser einst Tamara gehütet hatte. „Ich möchte dich nicht beunruhigen, Jameson, aber der Mann in dem Auto ist …“

„Rogers!“ Jamey erkannte Curtis, als der eine besser einsichtige Stelle betrat, und sprang.

Roland packte ihn an der Schulter und hielt ihn mühelos fest. „Was soll denn das werden?“

„Dieser Dreckskerl hätte mich fast getötet! Wenn ich den in die Finger kriege, dann …“

„Pass auf, was du sagst, Jameson! Bleib ruhig und tu, was ich dir sage. Einen Kampf gegen einen erwachsenen Mann kannst du nicht gewinnen.“

„Ich bin viel größer als vor zwei Jahren“, sagte Jamey mit gefährlich tiefer Stimme. „Und du weißt, dass er es verdient hat. Ich schulde es ihm.“ Ein unversöhnliches Feuer loderte in seinen schokoladenbraunen Augen.

Roland spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Herrgott, dabei kam Jamesons Reaktion ihm so bekannt vor. Die Wut, der Zorn … Roland war in diesem Alter kein bisschen anders gewesen. Und das hätte beinahe seinen Untergang bedeutet. Andere waren dadurch zugrunde gegangen. Zu viele andere.

„Das stimmt, Jameson. Aber …“

Jameys Gegenwehr ließ plötzlich nach. „Wer ist denn das?“ Seine Augen wurden groß; Roland folgte seinem Blick und sah, wie Rhiannon Curtis Rogers’ Haar verspielt zerzauste.

Roland verspürte ein wütendes Kribbeln im Bauch. „Eine Freundin von mir. Ihr Name ist Rhiannon. Ich glaube, sie denkt, dass sie Rogers ablenkt, damit du dich unbemerkt ins Schloss schleichen kannst.“

Jamey schluckte. „Sie sieht atemberaubend aus.“

Roland sah sie nur noch einen Moment an. Das Mondlicht strich wie eine liebkosende Hand über die seidenweiche Haut ihrer Schultern. „Ja“, sagte er dann leise. Und schüttelte sich. „Ja. Offenbar findet Rogers das auch.“

Rogers legte eine Hand auf Rhiannons bloße Schulter und strich langsam an ihrem Arm hinab. Roland fühlte, wie eine Wut, die er bislang selten erlebt hatte, durch seine Adern strömte. Einen Moment lang verspürte er den dringenden Wunsch, den kalten Griff eines Schwerts in Händen zu halten. Doch dann rief er sich ins Gedächtnis zurück, dass diese Zeiten vorbei waren.

„Komm, Jamey, bevor sie beschließt zu …“ Er verstummte, ehe er die Bemerkung zu Ende sprechen konnte.

Jamey blickte zu ihm auf und sah dann wieder zu Rhiannon; plötzliches Verständnis leuchtete in seinen Augen. Er sagte nichts, sondern nickte nur und folgte Roland in den Wald und zu der hohen Burgmauer. Er legte Roland einen Arm um die Schultern und Roland ihm, dann sprangen sie mühelos über die hohe Mauer und landeten mit einem Poltern auf der anderen Seite. Jamey stolperte bei der Landung. Er schüttelte verlegen den Kopf, stand auf und strich sich Staub von den Jeans. „Eines Tages kriege ich den Bogen schon raus.“

Roland hörte Rhiannons tiefes Lachen durch die Nacht hallen.

„Ist sie … wie du?“ Jamey hatte noch nie das Wort „Vampir“ benutzt, aber Roland war sich sicher, dass er Bescheid wusste. Der Junge war zu intelligent, um nicht eigene Schlussfolgerungen zu ziehen, und mit seinen Schlussfolgerungen lag er meistens richtig. Roland sah ihn an und nickte nur.

„Sie sollte doch nicht da draußen bei Curtis sein“, sagte Jamey.

„Da hast du recht. Geh rein und warte im großen Saal auf mich.“ Roland sah zum Tor, während er das sagte. Als Jamey weder antwortete noch gehorchte, warf Roland ihm einen stechenden Blick zu.

Jamey schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin kein kleines Kind mehr und habe es satt, dass andere Leute meine Kämpfe für mich ausfechten.“

Roland hätte ihn fast angebrüllt, doch er machte nur die Augen zu und schüttelte den Kopf. Einen Moment hätte er schwören können, dass er sein Ebenbild vor sich sah und an dem Tag, bevor er sein Elternhaus für immer verlassen hatte, mit seinem Vater stritt. Vierzehn. Ja, so alt war er auch gewesen. Und gerade mal zwei Jahre später …

Er verdrängte die Erinnerung an das blutige Schlachtfeld.

„Es gibt keinen Kampf zu kämpfen“, sagte er ruhig. „Bitte geh einfach rein, damit ich Rhiannon holen kann. Gott allein weiß, in welche Schwierigkeiten sie ohne Beistand wieder gerät.“

Jamey trat ungebührlich heftig nach einem Kieselstein und strich sich mit einer Hand durch das Haar. „Warum kann er uns nicht einfach in Ruhe lassen?“

„Weil er noch atmet.“ Rhiannons Stimme erschreckte Jamey. Er drehte überrascht den Kopf. Roland machte nur langsam kehrt und sah ihr entgegen. Er hatte gehört, wie sie nach ihrem Sprung über die Mauer gelandet war.

Jemand anders offenbar auch. Eine hochgewachsene, knorrige Gestalt löste sich aus den Schatten und baute sich genau zwischen Rhiannon und Jamey auf. Sie blieb mit hochgezogenen Brauen stehen.

„Schon gut, Frederick. Sie ist eine Freundin.“

Rhiannons geringschätziger Blick kreuzte sich mit dem argwöhnischen Fredericks. Rhiannon ging noch einen Schritt weiter. „Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Freddy?“

Er runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Dann nickte er lächelnd. „Rhia…, Rhian…“

„Rhiannon“, half sie ihm.

Frederick runzelte die Stirn, da er sich offenbar an eine geringfügig andere Version ihres sich in ständiger Veränderung befindlichen Namens erinnerte. Roland trat dazu und überwand die Entfernung zwischen ihnen mit Jamey an der Seite. Er hoffte, man würde seinem Gesicht nicht ansehen, wie erleichtert er war, dass sie es heil und unversehrt geschafft hatte.

„Was hast du mit Rogers gemacht?“

Rhiannon beachtete Rolands Frage nicht und ließ ihren dunklen Blick auf Jamey verweilen, der sie seinerseits ansah, als bestünde sie aus Schokolade.

„Hallo, Jameson. Ich habe schon viel von dir gehört.“ Sie hob die Hand, während sie das sagte; Jamey ergriff sie augenblicklich, senkte dann jedoch den Kopf, als wüsste er nicht so recht, was er jetzt machen sollte.

„Schön, Sie, ähem, kennenzulernen.“ Er ließ ihre Hand los, nachdem er sie kurz gedrückt hatte.

„Rhiannon …“

Sie sah Roland in die Augen. „Hast du Angst, dass ich ihn getötet habe? Wären wir nicht alle besser dran, wenn ich es getan hätte?“

„Das auf jeden Fall“, antwortete Jamey leise.

Roland schüttelte den Kopf. „Töten ist niemals gerechtfertigt, Jameson. Nichts wird dadurch besser, im Gegenteil – es kann den Täter ebenso zerstören wie das Opfer. Mehr noch als das. Das Opfer behält wenigstens seine Seele. Die des Täters dagegen geht Stück für Stück zugrunde.“

Rhiannon verdrehte die Augen, worauf Jameson sie fast anlächelte. Sie bemerkte es und schenkte ihm ihr unwiderstehliches verhaltenes Lächeln, ehe sie sich wieder an Roland wandte. „Also, wenn du zu gütigen Herzens bist, den Mann zu töten, was schlägst du dann vor? Er hat Jameys Aufenthaltsort offensichtlich herausgefunden. Wir können nicht einfach hier sitzen und warten, bis er den Jungen holen kommt.“

„Ich bin kein Junge“, sagte Jamey.

„Ich denke, Jameson sollte eine Weile in die Staaten gehen, etwas Zeit mit Eric und Tamara verbringen. Dort ist es sicherer für ihn.“ Roland sah den Jungen an, um festzustellen, was er von dem Vorschlag hielt.

Jamey stellte sich breitbeinig hin und hob das Kinn. „Ich laufe nicht vor ihm davon.“

Rhiannons gütiger Blick überschüttete Jamey mit Bewunderung. Er spürte es und richtete sich noch höher auf. Roland fühlte sich überstimmt. „Was hast du mit Rogers angestellt?“, fragte er wieder.

Sie schlug die Augen nieder. „Ich hatte sein lüsternes Grapschen satt. Der Trottel hat versucht, mir die Zunge ins Ohr zu stecken.“

Jamey kicherte heftig und schüttelte den Kopf, sodass sich seine langen schwarzen Locken im Rhythmus des Lachens bewegten. Rhiannon sah ihn lächelnd an, während Roland sie mit finsteren Blicken musterte.

„Rhiannon, du hast die Frage nicht beantwortet.“

Sie zuckte kaum merklich die Schultern. „Monsieur Rogers macht ein Nickerchen. Ich glaube, er hat in letzter Zeit zu viel gearbeitet.“

„Rhiannon …“ Rolands Stimme hatte einen ungeduldigen Unterton angenommen, aber sie schien so damit beschäftigt zu sein, heimliche Blicke mit Jamey zu wechseln, dass sie es gar nicht bemerkte.

„Oh Roland, ich habe ihm bloß eine Kopfnuss gegeben. Ehrlich, da bleibt nicht mal eine Narbe übrig.“

„Na großartig!“ Roland hob die Arme hoch. „Jetzt weiß er, dass du mit uns im Bunde bist. Er wird bestimmt auf Rache sinnen und dich ab sofort ebenso verfolgen wie mich.“ Es machte ihn rasend, dass sie sich andauernd selbst in Gefahr brachte. Dann wurde ihm klar, wie seine Sorge um sie in ihren Ohren klingen musste. Wenn sie seine wahren Gefühle kannte, würde sie mit ihren Versuchen, ihn zu verführen, gar nicht mehr aufhören. Und am Ende würde er ihr nur wehtun.

„Und du hast ihn einfach vor dem Tor liegen lassen, wo er uns den Weg versperrt“, fügte Roland hinzu, damit sein Vorwurf strenger klang.

Rhiannon sah Jamey in die Augen und blinzelte.

„Also gut, mein Vögelchen, raus damit. Du hast ihn nicht vor dem Tor liegen lassen, oder?“

„Aber natürlich nicht. Ich bin doch keine Idiotin.“ Sie legte Jamey eine Hand auf die Schulter. „Komm jetzt, pack eine Reisetasche oder zwei. Der hübsche Cadillac steht noch da draußen und ist startbereit.“

„Wohin gehen wir?“

„Zu mir. Ich habe ein kleines Haus außerhalb des Dorfs. Dort kann Rogers dir nichts anhaben.“

„Nein, Rhiannon. Jamey ist hier sicherer, wo Frederick und ich auf ihn aufpassen können.“

Sie betrachtete ihn eine ganze Weile und schien angestrengt nachzudenken. „Na gut, meinetwegen. Ich bin bald wieder hier.“

„Rhiannon, wohin willst du …“ Noch bevor Roland die Frage zu Ende bringen konnte, war sie fort. Eine Sekunde später hörte er den Motor von Curtis Rogers’ Auto aufheulen. Dann verschwand es mit quietschenden Reifen in der Nacht.