Keith

14. KAPITEL

Sie war erschüttert. Mehr als erschüttert, als sie den Laden verließ. Sie trat unter dem gestreiften Baldachin hervor auf den rissigen Bürgersteig, blieb einen Moment reglos stehen und machte die Augen zu. Dann erschauerte sie sichtlich, drehte sich um und rannte los.

Das verblüffte Jameson so sehr, dass er im ersten Moment gar nicht reagieren konnte. Er stand nur benommen da und sah ihr nach, sah den Schal unbemerkt von ihren Schultern fallen, als sie sich duckte und um die Ecke eines Gebäudes verschwand.

Er rüttelte sich auf, folgte ihr und dachte nicht mehr daran, unsichtbar zu bleiben. Er verweilte kurz bei dem Stück Stoff, hob es auf und spürte die weiche Wolle in den Händen. Verdammt. Da stimmte etwas nicht. Was immer sie in dem Laden erfahren hatte, setzte ihr ziemlich zu.

Einen Moment fragte er sich, warum ihm keine offensichtlichere Erklärung für ihre Flucht in den Sinn kam. Müsste er nicht davon ausgehen, dass sie nicht wegen etwas lief, das sie in dem Geschäft gehört hatte, sondern seinetwegen? Musste er nicht davon ausgehen, dass sie ihr Versprechen wahr machte und floh, wie sie angedroht hatte, um das Kind zu finden und es so weit es ging vor einem Monster wie ihm zu verbergen?

Er war verwirrt, aber nicht wütend. Würde er noch immer glauben, was er anfangs über Angelica gedacht hatte, hätte er wütend werden müssen.

Aber er wurde nicht wütend. Nur besorgt. Und aus einem unerklärlichen Grund wusste er, dass sie nicht vor ihm weggelaufen war. Warum?

Weil sie ihr eigenes Leben riskiert hatte, um das seiner besten Freunde zu retten. Um sein Leben zu retten. Weil ihm die Zuneigung in ihren Augen nicht entgangen war, als sie Tamara umarmte, und auch nicht bei dem Geplänkel mit Rhiannon. Weil er miterleben durfte, wie sie langsam ihre neuen Kräfte erforschte und ausprobierte. Als sie an seiner Seite lief wie eine neckische Waldnymphe. Sprang, um zu sehen, wie hoch sie springen konnte. Die Schönheit der Nacht kennenlernte. Über ihre übersinnlichen Fähigkeiten staunte. Es mit vier bewaffneten Männern aufnahm wie eine Löwin, die ihr Junges beschützt und einen fast zu Tode ängstigte, als sie ihn nach ihrem Kind befragte.

Angelica besaß keine der negativen Eigenschaften, die er ihr angedichtet hatte. Am wenigsten Egoismus. Und sie würde ihm das Kind nicht vorenthalten. Nicht wenn sie wusste, wie viel ihm das Baby bedeutete. Und das wusste sie. Sie musste es einfach wissen. Zwischen ihnen beiden bestand eine Verbindung. Sie spürte, was er spürte. Und er spürte …

Er schloss die Augen und suchte sie mit seinen geistigen Antennen. Verzweiflung! Tränen! Schmerzvoll intensives Schluchzen. Und Angst, eine krank machende, alles beherrschende Angst. Das waren ihre momentanen Empfindungen, und sie kamen klar und deutlich von ihr. Von Angelica.

Jameson ging zur Ecke des Gebäudes und sah die breite Straße entlang, die kurvenreich auf einen Hügel führte und im Wald verschwand. Da war sie hingegangen. Und er würde sie finden.

Sie mochte ihn immer noch verabscheuen. Verdammt, ein Teil von ihm konnte ihr das nicht einmal zum Vorwurf machen. Seit der Nacht, als er sie aus der Zelle befreite, hatte er sie wie eine Närrin behandelt. Hatte sie als Gefangene angesehen, sie bedroht und den körperlichen Begierden nachgegeben, die sie, wie er genau wusste, nicht beherrschen konnte – weil er sie, verdammt noch mal, auch nicht beherrschen konnte.

Ja, vermutlich hatte sie mehr Grund denn je, ihn als ein Monster anzusehen und zu hassen. Aber ganz allmählich wurde ihm klar, dass er sie nicht hasste.

Er hatte sie nie gehasst. Nicht einmal in jener längst vergangenen Nacht, als sie ihm fast das Leben nahm.

Jameson drehte sich um, folgte der Richtung, die sie eingeschlagen hatte, und suchte mit seinen geistigen Fühlern nach ihr. Es dauerte nicht lang, bis er sie gefunden hatte.

Unmittelbar am Waldrand lag sie mit dem Gesicht auf dem moosigen Boden, wo ihr ganzer Körper von Schluchzen geschüttelt wurde. Er blieb einen Moment stehen und war betroffen über den Schmerz, den er empfand, sie so zu sehen. Warum krampfte sich sein Magen zusammen, wenn er sie so weinen sah? Warum war sein Hals wie zugeschnürt? Warum brannten seine Augen?

„Angel“, flüsterte er.

Sie holte tief Luft, stützte sich auf die Hände, hob den Kopf und sah ihn an. Ihr Gesicht war tränennass, die Augen gerötet und ausdruckslos. Eine Kraft zwang ihn, zu ihr zu gehen; er ließ sich vor ihr auf die Knie sinken, schob ihr die Hände unter die Arme und zog sie fest an die Brust. „Angel“, flüsterte er wieder, obwohl es eine Qual war zu sprechen. „Nicht weinen. Bitte, es bringt mich um, wenn ich dich weinen sehe.“ Seine Finger strichen über ihr Haar, als hätten sie einen eigenen Willen; er hielt ihr den Hinterkopf. Sie presste das feuchte Gesicht an seinen Nacken, wo die Haut die Tränen aufsog. Sie schlang die Arme um seine Taille.

„Es s-stimmt“, schluchzte sie. „Jemand hat sie entführt, Jameson. Die wissen nicht, wer unser Baby hat. Die wissen nicht, wo sie ist. Was, wenn …“

„Pssst.“ Er strich ihr über das Haar, die Schultern, den Rücken, damit die Krämpfe aufhören sollten, die ihren zierlichen Körper schüttelten. „Sie ist nicht bei denen, Angel. Sie ist nicht beim DPI. Die können ihr nichts tun.“

„Aber was für ein Mensch würde sie entführen? Wenn es nun ein schreckliches, verkommenes …“

„Nein.“ Er packte sie an den Schultern und schob sie nur ein kleines Stück von sich weg. Gerade ausreichend, dass sie ihm in die Augen sehen konnte, als er zu ihr sprach. „Du würdest es spüren, wenn sie Schmerzen oder Qualen erleiden würde. Das weißt du. Und du spürst es nicht. Du spürst nichts.“

Sie wischte die Tränen weg, die sich in ihren amethystfarbenen Augen sammelten, und sah ihm so tief in seine, dass ihm schien, als könnte sie alles darin sehen, was er je gewesen war und je sein würde. „Nein“, sagte sie langsam. „Nein, das spüre ich nicht.“

„Dann ist sie in Sicherheit. Das müssen wir glauben, Angel. Sie ist vorerst in Sicherheit. Und außer Reichweite der Dreckskerle, die sie uns wegnehmen wollen. Wir finden sie vor denen. Ich schwöre es bei Gott, Angel, wir finden unsere Tochter.“

Er sah ihre Lippen beben und presste unwillkürlich seine darauf, ohne darüber nachzudenken, nur vom Wunsch beseelt, sie zu beruhigen. Diese Frau zu besänftigen und zu trösten. Er schmeckte ihre Tränen.

„Ich habe solche Angst, Jameson.“

„Das weiß ich. Ich auch.“ Er zwang sich, sie loszulassen. Viel länger würde er ihre Nähe nicht mehr ertragen können.

„Nein.“ Jameson sah sie verwirrt an. „Ich brauche …“, begann sie, verstummte jedoch wieder.

„Was, Angel?“

„Dich. Deine Kraft. Bitte halt mich einfach fest. Lass mich nicht los, nicht jetzt. Ich habe mich noch nie so allein gefühlt. Ich habe noch nie solche Bedürfnisse gehabt und kann nicht …“

Er hatte sich geschworen, dass er sich ihr verweigern würde. Er hatte es geschworen … ah, was war er für ein Narr gewesen. Er konnte sich ihr niemals verweigern. Und wenn sie eine Million Mal zu ihm käme, würde er sie eine Million Male empfangen. Er …

Nein. Das war es nicht.

Er nahm sie wieder in die Arme, drückte sie an sich, und sie klammerte sich an ihn, als würde sie zerbrechen, sobald sie ihn losließe. Sie wandte ihm das Gesicht zu, und da küsste er sie. Keine Fragen, keine Gedanken an die Folgen. An die Schuldgefühle, wenn es vorbei wäre. Den Ekel, den sie empfinden würde, wenn ihr wieder klar wurde, dass sie sich abermals dem Mann hingegeben hatte, den sie verabscheute. Das alles würde folgen. Daran zweifelte er nicht. Aber es war ihm egal. Sie brauchte ihn. Das hatte sie selbst gesagt. Und Jameson brauchte sie auch. Sie war der einzige Mensch auf der Welt, der seine Verzweiflung verstand. Nur sie konnte es verstehen. Diesen Schmerz über das Verschwinden ihrer Tochter teilten sie. Und es schien nur logisch, dass sie auch den Trost teilten.

Er küsste sie, und sie öffnete die Lippen, als er mit der Zunge dagegenstieß. Er kostete ihren Mund und wusste, dass er süchtig nach dessen Süße war. Er würde nie genug davon bekommen … nie genug von ihr. Mit fieberhaften Bewegungen ihrer Hände öffnete sie sein Hemd, riss Knöpfe ab, die auf dem Waldboden verstreut wurden. Und dann entzog sie ihm den Mund, küsste ihn auf den Hals, die Brust, den Bauch, während er auf dem Bett aus Piniennadeln kniete. Jede Berührung ihrer Lippen ließ ihn erschauern, er ergriff den Saum ihres zerschlissenen Kleids und zog es ihr über den Kopf.

Ihre nackten Brüste versetzten ihn in Raserei. Als sie ihn erneut küsste, rieben sie an seinem Brustkorb, sodass die Brustwarzen ganz hart wurden und sich gegen ihn drückten. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie nach hinten, dann senkte er sich über sie und saugte an ihren Brüsten, als tränke er Nektar. Er saugte fest, hart und biss in die steifen Brustwarzen, während sie seinen Kopf an sich drückte.

Er wurde überrollt von einer Welle der Erregung. Aber er konnte nichts dagegen tun. Wollte nichts dagegen tun.

Er erhob sich und zog sie mit. Dann gab er ihr einen sanften Schubs und drückte sie gegen den Stamm einer Pinie. Da stand sie keuchend, die Augen halb geschlossen, Lippen von seinem Kuss feucht, Brustwarzen erregt und pulsierend. Und er öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Jeans und schob sie nach unten, bis er sie ausziehen konnte. Dann kniete er nieder und küsste die krausen Locken zwischen ihren Beinen. Er stieß die Zunge zwischen ihre Schamlippen, kostete die salzige Nässe dort, und sie stöhnte. Er legte die Hände an ihre Schenkel, spreizte sie, drückte das ganze Gesicht dagegen, leckte ihr Innerstes und geriet mit jeder Bewegung seiner Zunge, die er so tief in sie stieß, wie er konnte, mehr in Ekstase. Es genügte ihm nicht, nur zu lecken, sosehr er sich bemühte. Er setzte Zähne und Mund ein, hörte sie schreien und spürte, wie sie an seinem Haar zog.

Und dann stand er wieder auf, glitt mit der Zunge über ihren Bauch, saugte an den Brustwarzen, küsste sie erneut auf den Mund, drückte sie mit dem ganzen Körper an den Baumstamm und ließ die Hände über sie gleiten, um ihr Verlangen nach ihm auf den Höhepunkt zu bringen.

„Nimm mich, Vampir“, flüsterte sie, legte den Kopf an den Pinienstamm, überdehnte den Nacken und bot ihm den Hals dar. Bot ihm alles. Alles an ihr. „Mach es gut. Lass mich vergessen …“

Er packte sie an den Schenkeln, hob sie hoch, spreizte sie und stieß in sie. Sie schrie vor Lust, da bohrte er sich so tief er konnte hinein, wich zurück, stieß erneut zu. Er spürte, wie ihr Körper reagierte, wie sich die Muskeln um sein Glied herum zusammenzogen. Sie legte ihm die Hände in den Nacken und führte seinen Mund an ihren Hals. „Mach es“, stöhnte sie. Und er gehorchte. Er öffnete den Mund an ihrem zarten Hals, biss zu, durchbohrte die Haut und dann die Schlagader. Er stieß mit den Hüften zu und drang so tief er nur konnte in sie ein, während er gleichzeitig an ihrem Hals saugte. Und als sie kam, erschauerte sie bis ins innerste Mark. Sie verschränkte die Beine um seine Taille und drückte ihn noch tiefer hinein. Sie legte den Kopf weiter nach hinten, nahm auch seine Fangzähne tiefer in sich auf. Dann krümmte sie den Rücken und drängte sich ihm entgegen. Sie schlang die Arme um ihn und schrie. Sein Samen ergoss sich in sie, und er hielt sie mit eisernem Griff fest, damit sie jeden einzelnen Tropfen in sich aufnahm. Alles. Und dann hielt er sie noch eine ganze Weile fest, bis die Ekstase nachließ, sein Körper sich entspannte und sie gemeinsam auf den Waldboden sanken.

Er wollte nicht, dass es vorbei war. Er war nicht bereit für ihre Schuldgefühle und die Abscheu. Ihren Hass auf ihn und seine Art. Er hielt sie umschlungen, hob ihren Kopf am Kinn, beugte sich zu ihr und küsste sie. Die Leidenschaft hatte ihre Erfüllung gefunden, zumindest im Augenblick waren sie beide zufrieden. Sogar schläfrig. Er küsste sie dennoch. Es war ein zärtlicher Kuss, lang, bedächtig und sanft.

Als er den Kopf hob, schlug sie die Augen auf, sah ihm ins Gesicht, und ihre Miene drückte Verwirrung aus.

„Du bist nicht meine Gefangene, Angelica. Das warst du nie“, ließ er sie wissen. „Wann immer du auf eigene Faust losziehen willst, steht es dir frei.“

„Ich will dich nicht verlassen“, flüsterte sie, und einen Moment blitzte etwas in ihren Augen auf, das ihm den Atem raubte. „Niem…“ Sie biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. „Bis wir Amber Lily gefunden haben.“

Er nickte nur. Und dann ließ er sie los, obwohl sie es zu seiner Überraschung gar nicht so eilig damit zu haben schien. Er erhob sich und suchte ihre Kleidungsstücke zusammen. Bevor er sich anzog, brachte er ihr das zerrissene Kleid, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er zog es ihr über den Kopf, half ihr behutsam in die Ärmel und kostete jeden Moment der Berührung aus.

Sie saß auf dem Boden, blickte zu ihm auf und sah zu, wie er sich anzog. „Ich habe mich so sehr geirrt … in … vielem.“

Er wollte sie nicht falsch verstehen. Er wagte keine voreiligen Schlussfolgerungen, denn das hätte ihn zerbrochen. „In was, Angelica?“

Sie schloss die Augen. Eine leichte Brise kam auf, spielte mit ihrem Haar, ließ es tanzen. Dann hob sie den Kopf und starrte in die Ferne. „Hör doch!“

Jameson gab sich wirklich Mühe. Aber er hörte gar nichts, abgesehen von den Myriaden an Geräuschen des Waldes. „Was denn, Angel?“

„Hörst du sie wirklich nicht?“ Sie neigte den Kopf zur Seite. „Glocken, Vampir. Kirchenglocken.“

Ein leichter Schauer lief über seinen Rücken, denn da waren keine Glocken zu hören. Großer Gott, hielt sein armer dunkler Engel dem Druck nicht mehr stand? War sie gefallen und in die schwarze, abgrundtiefe Grube des Wahnsinns gestürzt?

„Angel“, flüsterte er und nahm ihre Hand. Aber sie war schon am Aufstehen, lief auf das imaginäre Geräusch zu und sah aus, als wäre sie hypnotisiert oder Schlimmeres. Sie blieb nicht stehen.

„Angel, warte. Wohin gehst du?“

„Zur Kirche“, flüsterte sie, und dann drehte sie sich um und blickte ihn völlig normal an. „Es ist zu lange her, Jameson. Ich habe Gott vorgeworfen, er hätte mir den Rücken zugekehrt, aber da irrte ich mich. Ich habe ihm den Rücken zugedreht. Begreifst du nicht? Hilary … sie hat mir alles so deutlich gemacht. Als sie da im Wald starb … da sagte sie mir, dass Gott noch bei mir wäre und meine Schritte lenken würde. Sie sagte mir, dass Er sein Versprechen halten und über Amber Lily wachen wird, bis wir sie wieder wohlbehalten in den Armen haben. Und jetzt … jetzt diese Glocken. Hör doch nur!“

Jameson sah die Erleichterung in ihren Augen und wünschte sich von ganzem Herzen, die Glocken würden tatsächlich läuten.

„Das muss etwas bedeuten, Jameson. Es muss. Gott hat mich nicht verflucht. Ich hätte mich um ein Haar selbst verflucht, weil ich das glaubte, aber jetzt nicht mehr. Alles wird gut.“

„Ja“, sagte er. „Wird es. Ich verspreche es.“

Sie strich ihm über das Gesicht. „Komm mit.“

Und er nickte, er wollte sie nicht enttäuschen. Sie nahm seine Hand und ging unter den Pinien dahin, höher und höher einen bewaldeten Hang hinauf. Und als der Wind kräftiger wurde, da glaubte Jameson plötzlich, er könne sie ebenfalls hören … Kirchenglocken.

Ich folgte dem Klang dieser Glocken wie hypnotisiert, ich hatte gar keine andere Wahl. Ich musste das Haus Gottes betreten und niederknien und ihn um Vergebung bitten. Ihm sagen, dass ich jetzt alles begriffen hatte. Was mir zugestoßen war, das war nicht ohne Grund geschehen, und wer war ich, mir ein Urteil darüber anzumaßen? Ich wusste gar nichts. Nur, dass Gott immer noch einen Plan mit mir hatte. Er hatte sich nicht von mir abgewendet. Das hatte ich nur geglaubt.

Als wir die Hügelkuppe erreichten, hörte ich den Vampir leise murmeln. Die Glocken waren verstummt, aber jetzt sah ich die winzige Kapelle schon, die zwischen den dunkelgrünen Pinien stand. Wir waren durch den Wald dorthin gelangt, aber es führte auch eine schmale, kurvige Straße, die von der Stadt kam, hinauf. Der Turm wirkte alles andere als spektakulär. Fenster aus gewöhnlichem Glas, kein Buntglas. An der Vorderseite entdeckte ich eine kleine Tür.

Ich seufzte erleichtert. Es schien mir, als wäre ich nach Hause gekommen. Und ich ging die Stufen hinauf. Jameson folgte mir, hielt meine Hand, blickte mich oft an. Die Tür war nicht verschlossen, aber das hatte ich schon geahnt.

Das Innere wurde von Kerzenlicht erleuchtet, das auf den Holzbänken und dem Altar flackerte. Eine einzige Gläubige saß da, eine Frau in der ersten Reihe, mit einer Babytasche, die vor ihr stand. Ich erkannte sie.

„Sieh doch“, flüsterte ich Jameson zu. „Sie ist es.“

Er nickte. „Ja, die Frau, die den Autounfall hatte.“

„Für deren Kind du dein Leben riskiert hast.“ Ich drückte seine Hand.

Jameson setzte sich in die erste Reihe und ließ mich allein weitergehen. Ich bekreuzigte mich, kniete vor dem hölzernen Kruzifix nieder, das auf dem Altar stand, und betete stumm.

Jameson sah, wie Angelica niederkniete. Mit einem Mal wirkte sie so verklärt. Und er wusste, es bedeutete ihr viel, dass sie ihren Frieden mit Gott schloss. Er setzte sich neben die Frau, deren Namen er nicht kannte. Erstaunt blickte sie ihn an, dann lächelte sie.

„Sie!“, flüsterte sie ihm zu.

„Ja. Schöner Zufall, was? Wie geht es der Kleinen?“

„Alicia geht es gut“, flüsterte die Frau, schüttelte jedoch den Kopf.

Jameson zog die Stirn in Falten. Er spürte, wie aufgewühlt sie war. „Stimmt was nicht?“

„Nein. Nein, alles in Ordnung. Es sind nur … so viele seltsame Dinge geschehen. Dass wir uns wiedersehen, ist vermutlich das Geringste davon.“ Sie schloss die Augen. „Zwei Wunder in so kurzer Zeit. Zuerst Sie und das … das wunderschöne Mädchen. Sie haben mein Baby gerettet. Und dann …“

Sie legte den Kopf zur Seite. Sanft wiegte sie die Babytrage vor sich. „Und dann?“

„Und dann … ich weiß nicht genau. Aber ich glaube, ich hatte Besuch von einem Engel.“

Gott, warum musste Religion so viele Menschen so verwirren, fragte er sich.

„Und sie war wunderschön. Ein Engel mit den gütigsten braunen Augen, die ich je gesehen habe. Ganz in Weiß gekleidet und irgendwie … irgendwie leuchtend.“

Angelica erstarrte. Aber sie drehte sich nicht um. Kniete nur starr da und hörte zu.

„Und … was wollte dieser Engel?“, fragte Jameson.

„Es war unglaublich.“ Die Frau schüttelte schon wieder den Kopf. „Sie sagte, dass ich eine Schuld auf mich geladen hätte. Dass mein Baby für mich gerettet worden wäre, und jetzt müsste ich dafür ein anderes Baby retten. Sie trug ein kleines Bündel in den Armen. Einen Säugling. Und sie gab sie mir und sagte, ich müsste dafür sorgen, dass ihr kein Leid geschieht, bis ihre Mutter sie holen kommt.“

Angelica stieß einen leisen, gequälten Schrei aus. Sie stand auf und drehte sich langsam um. Und ihre Augen waren geweitet und so voller Hoffnung. Jameson würde der Frau den Hals umdrehen, wenn sie sich hier etwas ausdachte.

„Der Engel sagte“, fuhr die Frau fort und sprach langsamer, während sie Angelica in die Augen sah, „ich würde die Frau erkennen, wenn ich sie sähe.“ Und dann lächelte sie. „Sie sind es, nicht?“

Aber Angelica brachte keinen Ton heraus. Sie machte den Mund auf, aber kein Laut war zu hören. Große Tränen traten ihr in die Augen und quollen über.

„Ja“, sagte Jameson. „Wenn Sie ein vermisstes Baby gefunden haben, dann ist es unseres. Bitte …“

„Irgendetwas sagte mir, dass ich hierherkommen sollte. Dass ich einfach in die Kirche gehen und warten sollte. Und tatsächlich …“ Sie schüttelte wieder den Kopf, stand auf, beugte sich über die Trage und schlug die Decke zurück.

Jameson schaute hinein. Angelica blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als hätte sie Angst davor, hinzusehen. Angst davor, ihre kleine Tochter könnte nicht da sein.

Das pummelige Baby mit dem karottenfarbenen Haar, Alicia, lag in der Trage. Und daneben lag ein kleineres Baby mit rabenschwarzen Locken und großen, ebenholzfarbenen Augen, die zu ihm aufsahen.

Sein Herz schien in seiner Brust anzuschwellen, bis er dachte, es würde platzen. Er beugte sich über die Trage und streckte seine großen Hände aus, um das zierliche Bündel zu nehmen. Er nahm sie, schloss die Augen, hob sie hoch und drückte sie fest an sich.

„Amber Lily“, hauchte er, denn es schien, als könnte er kein lautes Wort herausbringen. Sein Gesicht war tränenüberströmt. Und als er die Augen wieder aufschlug und den Kopf hob, da sah er Angelica blinzelnd und benommen dastehen, die wunderschönen Augen auf das Kind gerichtet. Sie holte tief Luft und sank zu Boden. Es schien, als hätten ihre Beine nachgegeben.

Jameson ging zu ihr und kniete sich nieder. Und dann drückte er das Mädchen ganz behutsam in die Arme seiner Mutter. Angelica zitterte am ganzen Körper und lächelte und weinte und zitterte in einem. Sie küsste das Baby auf die Stirn, das mit seiner winzigen Hand eine ihrer Haarsträhnen ergriff und daran zog.

Angelica sah mit tränennassen Augen zu ihm auf. Und in diesem Moment wusste er, dass er sie liebte. Er liebte sie. Und er liebte ihr gemeinsames Kind. Er würde sie immer lieben. Ganz gleich, was auch geschah. Und ein Teil von ihm, ein sehr großer Teil, wollte sie beide in die Arme schließen und zu einer abgelegenen Hütte fliehen und dort für alle Zeiten leben.

Aber ein anderer Teil von ihm wusste, dass das unmöglich war. Und nicht nur, weil Angelica nie für ihn empfinden konnte, was er für sie empfand. Sondern weil es keine Zuflucht, kein Glück für sie gab, solange das DPI noch existierte.

Kein anderer würde es vernichten, dachte er, und als er die Frau, die er liebte, mit seiner Tochter in den Armen sah, da wurde ihm klar, warum. Niemand sonst hatte einen so überzeugenden Grund dafür.

Er streckte die Hand aus und strich zärtlich über Angelicas Wange. „Warte hier, Angel“, bat er sie. „Ich gehe in die Stadt zurück und hole den Wagen, und dann verschwinden wir von hier.“

„Ja.“ Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte. Sie hatte nur Augen für das Kind, und diese Augen waren so voller Liebe, er konnte sich gar nicht sattsehen.

Er bückte sich, küsste das Kind, drehte sich um und verließ hastig die Kapelle. Jameson nahm sich nur kurz Zeit, die Lage zu checken. Niemand war da, und niemand sah ihn durch den Wald hinter der Stadt schleichen. Dann schlug er einen Weg ein, der ihn hinter die leer stehende Blockhütte führte, wo das Auto parkte.

Jetzt war Eile geboten. Er stieg in das Auto ein, fuhr die lange Zufahrt hinunter, schaltete hoch. Durch die Stadt musste er allerdings langsam fahren, was ihm sehr schwer fiel. Ein Raser hätte Aufmerksamkeit erregt. Jetzt sah er keine offiziellen Autos mehr am Straßenrand. Und keine Männer in dunklen Anzügen oder Trenchcoats, die an Haustüren klopften oder Passanten befragten.

Was zum Teufel ging hier vor sich? Sie konnten nicht aufgegeben haben, oder? Nicht so schnell …

Angst erfüllte ihn, als er mit dem Auto auf den ausgefahrenen Feldweg abbog, der ihn zurück zu der Kapelle bringen würde.

Und dann hörte er Angelica schreien.

Nicht mit den Ohren hörte er ihre Schreie. Im Geiste. Das Band zwischen ihnen ließ ihn ihre Empfindungen spüren. Und sie hatte schreckliche Angst … oder Schmerzen. Oder beides.

Dann verstummten ihre Schreie, und Jameson hörte nichts mehr. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch; die Reifen wirbelten Staubwolken auf, während er über die schmale Straße raste. Er nahm die engen Kurven so schnell, dass er fast von der Fahrbahn abgekommen wäre und mit Leibeskräften am Lenkrad zerren musste, um wieder in die Spur zu kommen. Aber er raste weiter und wurde nicht einen Moment das schreckliche Gefühl los, dass er sie nicht hätte zurücklassen sollen. Angel und Amber. Er hätte sie nicht eine Minute allein lassen dürfen.

Vor ihm leuchtete der Himmel. Schwarzer Rauch stieg zu den Wolken empor wie der Atem des Teufels. Er raste um eine Kurve und kam mit quietschenden Reifen vor der Kapelle zum Stillstand, doch die Kapelle gab es nicht mehr. Es war ein Albtraum. Das winzige Gebäude war schon fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nichts Identifizierbares blieb übrig. Nur eine unförmige Masse aus Feuer und Rauch, ein Haufen brennenden Gerölls.

Er riss die Tür auf, sprang hinaus, rannte los, schirmte das Gesicht mit einem angewinkelten Arm ab und spürte schon, wie sich Brandblasen auf seiner Haut bildeten.

„Kommen Sie da weg“, hörte er eine kaum vernehmliche Stimme über das Tosen der Flammen hinweg. „Sie sind zu dicht dran.“

Es schien, als könnte er keinen klaren Gedanken fassen, und trotz der Hitze fröstelte ihn am ganzen Körper. Er drehte sich um und sah die blonde Frau, die ihr Kind auf den Armen hielt. Sie schluchzte und streckte eine Hand nach ihm aus.

„Angelica. Meine Tochter, wo sind sie?“

Doch die Frau schüttelte nur schluchzend den Kopf.

Unmittelbar vor ihr blieb er stehen. „Was zum Teufel ist hier passiert? Sagen Sie es mir, verdammt!“

„Ich weiß nicht“, sagte sie mit gebrochener und kläglicher Stimme. „Ich war gerade fort, als die Kapelle … als wäre eine Bombe darin explodiert! Gott, es war schrecklich! Einfach schrecklich.“

Nein. Nein, flüsterte sein Verstand. „Angelica und das Baby waren noch in der Kapelle?“ Er drehte sich um und sah wieder zu der brennenden Ruine, wollte in die Flammen rennen, aber sie nahm seinen Arm und hielt ihn auf.

„Sie hatten keine Chance. Gott segne sie. Es tut mir so leid.“

„Nein!“ Er starrte auf das Feuer, den Trümmerhaufen und wusste, wenn sie zum Zeitpunkt der Explosion tatsächlich in der Kirche gewesen waren, dann mussten sie jetzt tot sein. Beide. Tot. Glühend heiße Tränen brannten auf seinem Gesicht. Er ballte die Fäuste. „Nein!“, schrie er wieder, und dann legte er den Kopf in den Nacken und heulte vor Kummer und Trauer und hilfloser Wut. Und seine übernatürliche Stimme hallte durch die Nacht wie ein Schrei zum Himmel und drang mit ihrer Macht durch das Firmament und die Wälder.

In dieser Nacht hörten sie einen seltsamen Schrei in Petersville. So laut und wehklagend, dass er wie Donner grollte und mit endlosen Echos verstummte. Ein Laut, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der einem das Herz brechen und gleichzeitig eine Gänsehaut verschaffen konnte. Manche sagten, dass es der Schrei eines verwundeten Tiers gewesen wäre, allerdings wagte kaum einer, Spekulationen darüber anzustellen, was für eine Art von Tier zu so einem Schrei fähig sein könnte. Aber die meisten schienen der festen Überzeugung zu sein, dass sie die Stimme des Teufels höchstpersönlich gehört hatten.