Keith
4. KAPITEL
Roland erwachte in der Dunkelheit und verspürte ein nervöses Kribbeln in sämtlichen Nervenenden. Rasch öffnete er die Schlösser an der Innenseite seines Sarges, überprüfte jedoch innerlich die gesamte Umgebung, ehe er den Deckel hochklappte. Er sprang gewandt auf den Boden und landete lautlos auf dem kalten Stein.
Ruhe hatte er kaum gefunden. Er hatte sich halb wach herumgewälzt, während ihm Bilder durch den Kopf schossen. Er machte sich Sorgen, aber nicht nur um Jamey. Rhiannons Bild war öfter als alle anderen aufgetaucht. Die wunderschöne, begehrenswerte, tollkühne Rhiannon. Hatte er nicht mehr Verstand als ein lüsterner Sterblicher? Konnte er gewöhnliche, vulgäre Lust nicht von wahren Gefühlen der Zuneigung unterscheiden? Konnte er die Verführerin nicht aus seinen Gedanken verbannen?
In völliger Dunkelheit bewegte er sich langsam durch die verfallenen Gemäuer des Kerkers, doch sein überragendes Sehvermögen zeigte ihm den Weg. Er hätte den Weg auch blind gefunden, so sehr war er ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Wie überhaupt jede Nische seines Schlosses. Als Knabe war es sein Zuhause gewesen, als Heranwachsender sein Fluch, als junger Mann sein Gefängnis. Und es war zum Fegefeuer des Unsterblichen geworden, zu dem Ort, wo er die Strafe für die Sünde an der Familie, die er bewundert hatte, verbüßen würde. Ja, bewundert, doch leider zu spät.
Doch wem nützte es, wenn er weiter hier ausharrte?
Er zog an dem Eisenring an einer, wie es aussah, festen Mauer aus Stein und bot einen Großteil seiner Vampirkraft auf, um ihn zu bewegen. Kein Sterblicher konnte das ohne die Hilfe von Sprengstoff oder anderen Hilfsmitteln bewerkstelligen. Er schlich in den Durchgang hinaus und erklomm die Wendeltreppe aus rostendem Metall. Jeder seiner Schritte hallte tausendfach in der Dunkelheit wider. Einst bildete eine Leiter den einzigen Zugang zur untersten Etage des Schlosskerkers. Als sie ersetzt werden musste, schien eine Wendeltreppe die bessere Alternative zu sein.
Am Eingang zu seinen Gemächern im Erdgeschoss des Schlosses öffnete er die Tür, betrat seinen Schrank und schob Kleiderbügel und Anzüge beiseite. Natürlich rückte er sie wieder sorgfältig zurecht, um den Eingang zu verbergen. Dann wählte er einen frischen Anzug und betrat seine Kammer im Westflügel.
Er ging direkt zu dem antiken Schreibtisch, nahm dort ein langes Streichholz aus dem Halter und zündete die Petroleumlampe an. Dieses Ritual wiederholte er mehrere Male und zündete weitere an, bis der ganze Raum in einem warmen, goldenen Licht erstrahlte. Als er sich umsah, überlegte er sich, dass Rhiannon vermutlich nur Geringschätzung für diesen Ort empfinden würde, den er sein Zuhause nannte. Die Vorhänge vor den hohen Bogenfenstern waren dick und hatten sich im Lauf der Zeit verfärbt. Sie rochen nach Staub und Alter. Ihre Farbe war grün, einst leuchtend smaragdgrün, inzwischen jedoch nachgedunkelt, als würde man sie durch dichten Nebel sehen. Die Fenster selbst, ein Zugeständnis an moderne Zeiten und lange nach dem Tod der rechtmäßigen Barone des Schlosses eingebaut, waren schmutzig und voller Schlieren. Wenn man durch sie blickte, war das, als würde man durch die trüben Augen eines alten Mannes schauen. Aber handelte es sich bei diesem Schloss nicht genau darum? Einen alten, alten Mann, den jeder einzelne Freund verlassen hatte, sodass er allein dahinsiechen und sterben musste?
Die Brokatpolster des antiken Sofas hatten schon lange ihren Glanz verloren. Der Kamin war eine kalte, dunkle Höhle, die die Asche längst vergangener Feuer enthielt. Die Hartholzstühle, einst imposanten Thronen gleich, standen wie traurige Zeugen einer schon lange vergangenen Ära da, das Holz wirkte stumpf, die handgearbeiteten Intarsien waren nach Jahren der Abnutzung kaum noch zu erkennen, die bestickten Polster wirkten fadenscheinig und verblasst. Hoch droben hing der Lüster mit den Reihen voller Kerzen dunkel und abweisend da, wie ein Gespenst aus früheren Tagen. Von Spinnweben verunziert, verfolgte er unter seiner dicken Staubschicht stumm, wie Roland seine ewige Todesstrafe in den Räumlichkeiten unter ihm verbüßte.
Rhiannon würde diese Gemächer hassen.
Aber was scherte es ihn, wie Rhiannon über irgendetwas dachte?
Sie ist hier.
Diese Erkenntnis überkam ihn plötzlich ohne jeden Zweifel. Sie befand sich auf dem Gelände. Er spürte die leuchtenden Farben ihrer Aura und spürte die irren Schwingungen in der Atmosphäre, die knisternde Elektrizität, die stets ihr Erscheinen ankündigte. Unwillkürlich sputete sich Roland mit seiner Morgentoilette und dem Ankleiden. Nicht weil er darauf brannte, sie wiederzusehen, redete er sich ein. Ganz und gar nicht. Er wollte nur in ihrer Nähe sein, damit er sie im Zaum halten konnte. Gott allein wusste, was sie anstellen würde, wenn man sie ganz sich selbst überließ.
Er folgte ihrer Aura, schritt lautlos und hastig durch die hallenden Flure und kam schließlich in den großen Saal. Immer noch nichts von ihr zu sehen. Jetzt spürte er freilich auch Jameys Gegenwart, ebenso die Fredericks … und die der Katze. Nicht im Schloss, sondern draußen, im Burghof.
Jenseits der schweren Brettertür sah er sie in der Dunkelheit. Es gelang ihr immer wieder, ihn zu überraschen. Warum hatte er sich mittlerweile nicht daran gewöhnt?
Sie lief über die nackte braune Erde, und silbernes Mondlicht schien auf ihren Weg, während sie einen Ball mit Punkten darauf zwischen den Füßen bewegte. Sie trug schwarze Jeans, die etwa in der Mitte der wohlgeformten Oberschenkel abgeschnitten worden waren. Kurze weiße Socken bedeckten kaum ihre Knöchel; an den Füßen trug sie schwarze Schnürschuhe mit knallroten Senkeln und gefährlich aussehenden Spikes an den Sohlen.
Roland verfolgte gebannt, wie Jamey auf Rhiannon zurannte, einen Fuß zwischen ihren beiden platzierte und sich den Ball schnappte. Rhiannon stolperte und fiel mit einem Purzelbaum zu Boden, rollte sich ab und blieb inmitten einer braunen Staubwolke liegen. Roland setzte zum Sprung an, hielt sich jedoch zurück, als er ihr tiefes Lachen hörte. Sie stand auf und klopfte sich den Staub von der Kehrseite.
„Sehr gut, Jamey.“ Wieder lachte sie. Sie strich sich das ebenholzfarbene Haar aus dem Gesicht und hinterließ einen Staubfleck auf der Wange. „Zeig es mir noch mal. Ich will es lernen.“
Roland räusperte sich, worauf Rhiannon sich umdrehte und ihn sah. „Sieh mich nicht so an, Liebster“, gurrte sie. „Ich tu ihm schon nicht weh.“
Im gleichen Moment gestand Roland sich ein, dass er beunruhigt war, weil sie sich wehtun könnte. Unvorstellbar! Er machte sich Sorgen, dass die mächtigste Unsterbliche, die er kannte, sich beim Fußballspiel mit einem kleinen Jungen verletzen könnte. Verdammt merkwürdig. Sicher, Unsterbliche verspürten Schmerzen wesentlich stärker als Sterbliche, und Rhiannon war sicher besonders empfindlich. Aber alle Wunden, die sich Rhiannon zuziehen konnte, würden heilen, während sie tagsüber ruhte. Dennoch erstaunte ihn, wie sehr ihn der Gedanke erschütterte, dass sie Schmerzen leiden könnte.
„Sorg dafür, dass es so bleibt“, sagte er zu ihr, da er seine wahren Gedanken nicht preisgeben wollte. „Er hat morgen Abend sein Spiel.“
„Soll das heißen, du hast es aufgegeben, dich dagegen zu sträuben?“
Er nickte, aber widerwillig. Rhiannon kam unerschrocken zu ihm gestapft und schlang ihm die Arme um den Hals. Als Resultat wurden sein gestärktes weißes Hemd und das maßgeschneiderte Jackett so schmutzig, wie sie es war. Und doch ertrug er es recht gelassen, obwohl sein Puls raste und seine Augen tränten, als sie den Körper so fest an seinen presste.
„Es gibt Bedingungen, Rhiannon.“
Sie blickte zu ihm auf, denn er war ein Stück größer als sie, auch wenn sie für eine Frau schon recht groß war. „Bedingungen?“ Sie legte die Stirn in Falten, um ihr Missfallen auszudrücken.
Er räusperte sich. Sie würde zornig werden. Offenbar machte sie alles zornig, was er sagte. Trotzdem musste er aussprechen, was ihm auf der Seele lag. Düstere Vorahnungen überschatteten diesen Ausflug, und er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich in Gefahr begeben würde … wieder einmal. „Bei diesem Spiel wirst du so wenig Aufsehen erregen wie möglich.“
„Ach, wirklich?“
„Du wirst einmal in deinem Leben versuchen, keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf deine Person zu lenken. Du verhältst dich höflich, leise und unauffällig.“
Ihre Augen funkelten. „Und warum genau sollte ich mich auf diese Weise verstellen?“
Roland seufzte. Er wollte nur verhindern, dass Rogers oder einer wie er sie entdeckte. Warum musste sie so abweisend sein? „Weil ich dich darum gebeten habe, Rhiannon. Und weil es die klügste Vorgehensweise ist. Rogers ist weder dumm, noch ist er der einzige Agent in der Gegend. Jeder, der Jameys Identität kennt, dürfte genug wissen, dass er bei diesem Spiel nach ihm sucht.“
Zur Abwechslung ließ sie den Kopf einmal hängen, statt ihm trotzig das Kinn entgegenzustrecken. Sie nickte fast unmerklich, und Roland verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Überraschung. Er war sicher gewesen, dass sie sich auf eine Diskussion mit ihm einlassen würde. Rhiannon zu beschützen, dachte er grimmig, dürfte ebenso schwierig werden, wie Jamey zu beschützen.
„Bereit?“, fragte Roland am folgenden Abend eine Stunde vor Beginn des Spiels. Er stand vor dem riesigen leeren Kamin im großen Saal. Rhiannon schloss die enorme Tür, deren Angeln quietschten, und kam über den kalten staubigen Steinboden zu ihm.
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin nicht sicher. Leider ist mir der Genuss eines Spiegelbilds versagt, damit ich mein Aussehen überprüfen kann.“
Er widerstand dem Wunsch zu lächeln. „Muss für eine so eitle Frau wie dich verdammt ärgerlich sein.“
Sie begegnete seinem Blick mit blitzenden Augen. „Stimmt genau. Du solltest mein Porträt malen, damit ich sehen kann, wie ich aussehe, wenn mir danach zumute ist.“
„Du weißt, dass ich das nicht mehr tue.“
„Vielleicht ist es an der Zeit, dass du wieder anfängst.“ Sie sah sich um, und er wusste, sie spielte darauf an, dass absolut gar nichts die kahlen Mauern aus grauem Stein schmückte. Nur Fackeln waren an den Wänden befestigt, und hier und da ein Geweih von einem Tier, das sein Bruder getötet hatte. „Das Haus könnte es vertragen. Was ist eigentlich aus deinen Porträts deiner Familie geworden?“
Er schüttelte den Kopf. Dieses Thema war nicht Gegenstand von Gesprächen. Wenn die Gesichter aller, die er enttäuscht hatte, auf ihn herabsehen würden, wäre das mehr Qual, als er ertragen konnte. „Um deine erste Frage zu beantworten, Rhiannon, du siehst schön aus.“
„Das, teuerster Roland, ist keine Antwort.“ Sie stand vor ihm und stemmte die Hände in die Seiten. „Sieh mich an, Darling. Beschreibe mir, was du siehst. Ich habe es so satt, dass ich ständig ausgehen und mich fragen muss, ob alles an seinem Platz ist.“ Sie wartete einen Moment. Roland ließ den Blick über sie schweifen und konnte keinen klaren Gedanken fassen. „Ich helfe dir“, bot sie ihm an. „Fang mit meinem Haar an. Sitzt es richtig?“
Sie drehte sich langsam, Roland nickte. „Es glänzt wie Satin, wie du sehr wohl weißt.“ Er begutachtete es in voller Länge. Sie trug es lang und frei von Spangen oder ähnlichem Zierrat. Und sie kämmte es vorteilhaft auf eine Seite, sodass man ihren Schwanenhals sehen konnte, der den Blick festhielt. Eine kleine seidige Locke hatte sie vom Scheitel bis zur Taille geflochten. Diese wirkte überaus bezaubernd und forderte einen geradezu auf, damit zu spielen.
Rhiannon bemerkte seinen Blick und hob das Zöpfchen mit zwei Fingern hoch. „Gefällt es dir?“
„Ja.“ Er benetzte die Lippen, dann beherrschte er sich wieder. „Ja, ausgezeichnet. Bist du jetzt fertig?“
„Du bist noch nicht fertig.“ Ihr Schmollen war durch und durch gespielt. Sie beugte sich vor. „Was ist mit der Bluse? Ist der Ausschnitt zu offenherzig?“
Gegen seinen Willen richtete er den Blick auf den Saum des smaragdgrünen Kleidungsstücks aus Satin und spürte ein Kribbeln im Magen. „Wann zeigst du einmal nicht zu viel?“, fragte er und bemühte sich um einen sarkastischen Tonfall.
Sie zuckte die Schultern, richtete sich auf und nahm eine andere Pose ein, diesmal mit den Händen an den Hüften. „Und der Rock? Findest du ihn zu kurz?“
Der Rock war eng und vorn geknöpft, und als wäre das noch nicht gewagt genug, hatte Rhiannon die beiden untersten Knöpfe offen gelassen. Der Saum berührte ihre Oberschenkel, die in Strümpfen aus Seide glänzten. Während sie sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite drehte, richtete Roland den Blick auf ihre Beine. „Vielleicht ist es einfach so, dass deine Beine zu lang sind“, schlug er vor. Aber seine Stimme klang nicht trocken und desinteressiert, sondern heiser und nicht allzu laut.
„Diese Strümpfe sind wunderbar, findest du nicht auch?“ Sie kam näher, winkelte ein Knie an und stellte den Fuß auf einen niedrigen Hocker. „So sanft zu meiner Haut. Berühre sie, Roland, dann verstehst du, was ich meine.“ Sie nahm seine Hand in ihre, drückte die Handfläche auf ihren Schenkel und rieb sie über das glatte zimtfarbene Material.
Er schluckte. „Wie ich schon sagte, manchmal fehlt es dir an einem gebührlichen Maß Zurückhaltung. Warum reißt du mir nicht einfach die Kleider vom Leib und versuchst mich mit Gewalt zu verführen?“ Er zog die Hand zurück, war jedoch wütender über seine eigene Reaktion als ihre kindischen Versuche, ihn zu bezirzen.
Er sah den verletzten Ausdruck in ihren Augen und bedauerte seine Worte augenblicklich. Wahrscheinlich konnte sie wirklich nicht anders; sie war eben einfach Rhiannon. Er hatte nur seinen Zorn auf sich selbst auf sie projiziert. „Es tut mir leid, Rhiannon, ich wollte nicht …“
Sie warf das Haar zurück. „Natürlich wolltest du. Du würdest es vorziehen, dass ich das werde, was du als perfekte Dame betrachtest. Dass ich auf einem Samtkissen sitze und die Augen niederschlage, bis du die Initiative ergreifst und mich zum Tanz aufforderst. Ha! Ich hätte mehr Spinnweben an mir als dieser große Saal, bis du dich endlich dazu entschieden hättest.“
Sie wandte ihm den Rücken zu. „Ich wollte mit dir zu dem Spiel gehen, aber jetzt glaube ich, ich fahre lieber mit Frederick und Jamey im Auto. Genieß deinen Spaziergang, Roland. Und zieh um Gottes willen die Sachen an, die ich dir mitgebracht habe. Wenn du glaubst, du könntest das Fußballspiel des Jungen in derart förmlicher Kleidung besuchen und dabei unauffällig wirken, dann bist du nicht mehr ganz bei Trost.“
Er sah zu der Tüte, die sie neben die Tür gestellt hatte, während sie herumwirbelte und hinausging.
Er genoss seinen Spaziergang nicht. Wie sich herausstellte, war er doch nicht hartherzig genug, dass er Rhiannon verletzen und Freude dabei empfinden konnte. Er hatte sie nicht beleidigen wollen, aber sie machte ihm schwer zu schaffen, verdammt. Kein anderer Mann wäre fröhlich und charmant gewesen, wenn er sich so frustriert gefühlt hätte wie Roland. Es kostete ihn seine gesamte Willenskraft, ihren unverhohlenen sexuellen Avancen zu widerstehen. Aber ihnen nachzugeben wäre gelinde gesagt töricht gewesen. Sie würde ihn nicht nur niemals vergessen lassen, dass sie dieses spezielle Kräftemessen gewonnen hatte, sondern wahrscheinlich verschwinden wie eine Sommerbrise, sobald der Akt vorüber wäre. Vielleicht würde er sie Jahre nicht wiedersehen. Und sie würde die Bestie wecken, gegen die er schon so lange ankämpfte.
Nein. Diese … Sache zwischen ihnen war rein körperlicher Natur. Und ihre übermächtige Wirkung … die konnte er ihrer Vampirexistenz zuschreiben. Sie verspürten jede Empfindung ausgeprägter als Sterbliche. Einzig und allein seine Natur verstärkte das Verlangen.
Als er sich diese Erklärung zurechtgelegt hatte, nutzte er seine übernatürliche Schnelligkeit, um das Stadion vor dem kleinen Auto, das er Frederick gekauft hatte, zu erreichen. Er bevorzugte es, aus eigener Kraft oder zu Pferde zu reisen, statt sich in tausendfünfhundert Kilo von Menschenhand geformtem Altmetall durch die Gegend katapultieren zu lassen.
Im Stadion fühlte er sich in der Kleidung, die Rhiannon für ihn ausgesucht hatte, nicht besonders wohl. Der blaue Jeansstoff schmiegte sich an seine Pobacken und drückte ungewohnt fest gegen den Unterleib. Das Sweatshirt war schwarz. Das störte ihn nicht, aber die neonfarbene Schrift auf der Brust, die verkündete, dass er ein Fan von einer Sache namens „Grateful Dead“ war, stellte seine Geduld auf eine harte Probe. Den Schädel und die überkreuzten Knochen fand er ebenso wenig amüsant wie Rhiannons Auswahl feinsinnig. „Dankbarer Toter“. Nun gut. Wenigstens passte er sich der Menge an.
Im Gegensatz dazu war Rhiannon, die direkt links von ihm saß, alles andere als unauffällig. Sie feuerte Jameys Mannschaft lautstark an, ganz zu schweigen von Verwünschungen, die sie brüllte, wenn das gegnerische Team Fortschritte machte. Sie war ständig in Bewegung, zappelte auf ihrem Sitz herum, beugte sich vor oder stand auf oder beides, wenn sie besser sehen wollte, und das alles zum größten Vergnügen der Männer, die in ihrer Nähe saßen, wie Roland mit einem nicht unerheblichen Maß an Missfallen bemerkte.
Auf den unteren Sitzen, unweit der Bank der Mannschaft, war Frederick, wie Roland sah, ebenso aufgeregt.
Mit den schwarzen Strichen unter den Augen sah Jamey wie ein Krieger aus, wenn er mit dem Ball über den Kunstrasen rannte. Rhiannon sprang auf und feuerte ihn an, als er sich dem Tor näherte.
Roland runzelte die Stirn. Sollte das unauffälliges Benehmen sein? Mein Gott, er konnte sie nicht aus den Augen lassen, genau wie mehrere andere Männer in der unmittelbaren Umgebung.
Roland zwang sich, den Blick wieder auf das Spielfeld zu richten, als gerade ein anderer Spieler Jamey ein Bein stellte, sodass der stolperte und ziemlich heftig hinfiel. Roland hielt den Atem an. Aber Jamey sprang wieder auf und setzte dem Bengel nach. Als Jamey den Ball wieder im Besitz hatte, stand Roland auf. Er hatte keine Ahnung, dass er es getan hatte, aber jetzt stand er. Als der ungehobelte Kerl sich ihm wieder näherte, spielte Jamey den Ball geschickt einem Teamgefährten zu, und als dieser gleichermaßen angegriffen wurde, gab er den Ball mit einem Pass an Jamey zurück.
Einen Moment später stellte Jamey einen Fuß fest auf, trat mit dem anderen nach dem Ball und beförderte ihn mit beeindruckendem Tempo ins Tor. Roland applaudierte so laut wie alle anderen auch. Rhiannon stieß einen gellenden Pfiff aus, der vermutlich die Trommelfelle einiger Menschen beschädigte. Er berührte sie am Arm. Sie sah ihn an, und ihr sonst verhaltenes Lächeln war zur Abwechslung einmal völlig unverzagt.
„Du benimmst dich daneben.“ Fast hätte er es nicht gesagt. Er wollte nicht, dass dieses strahlende Lachen wieder verschwand.
„Du auch“, konterte sie. Aber sie setzte sich wieder.
Jameys Mannschaft gewann knapp. Rhiannon fühlte sich nach dem aufregenden Spiel ausgelaugt. Sie und Frederick gingen zum Parkplatz, während Roland vor dem Umkleideraum wartete, damit er Jamey hinausbegleiten konnte. Rhiannon war sicher, dass keine Agenten des DPI sich im Stadion aufgehalten hatten. Sie hatte während des ganzen Spiels ihre geistigen Fühler ausgestreckt, aber nicht den leisesten Hinweis auf eine Bedrohung orten können. Dennoch blieb sie wachsam und überprüfte den Verstand aller Passanten nach bösen Absichten.
Frederick stieg in das Auto ein, startete den Motor und ließ ihn im Leerlauf schnurren, während sie auf Roland und Jamey warteten. Rhiannon stand nahe der Fahrertür und stützte sich mit einem Arm auf dem Autodach ab. Andere Besucher entfernten sich in kleinen Gruppen.
Binnen kurzer Zeit war der Parkplatz einsam und verlassen. In dieser Nacht verdeckten häufig pechschwarze Wolken den Mond. Das Betonfeld wurde unheimlich still, abgesehen von den gelegentlichen Geräuschen der Autos, die auf der nahe gelegenen Straße vorbeifuhren. Die Zeit schritt mit bleiernen Füßen voran.
„Das Spiel war super, Freddy, nicht?“
Er nickte begeistert. „Manchmal trainiere ich mit Jamey. Aber ich laufe nicht besonders gut.“
Rhiannon runzelte die Stirn. „Ihr Bein?“
Wieder nickte er.
„Darf ich fragen, was passiert ist?“
„Aber sicher. Es geschah, als ich in der Stadt wohnte und keine Unterkunft hatte. Es war Winter, und ich nehme an, es wurde einfach zu kalt.“
Rhiannon unterdrückte ein Erschauern bei der Vorstellung, wie sich der sanftmütige Freddy in einer frostigen Winternacht die Gliedmaßen abfror. „Tut es sehr weh?“
„Oh nein. Es macht mir kaum noch zu schaffen.“
„Das freut mich.“ Sie sah zu dem zunehmend dunkleren Gebäude. „Die lassen sich aber Zeit.“
„Vielleicht sollten wir lieber nach ihnen sehen.“
Rhiannon verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Sie tastete mit den Fühlern ihres Geistes nach der Ursache, fand jedoch nichts Konkretes. „Ich finde, Sie sollten hier im Auto warten.“ Rhiannon schüttelte den Kopf, da sie die Ursache ihrer Vorahnung immer noch nicht erfassen konnte. „Schließen Sie die Türen ab“, fügte sie hinzu.
„Rhiannon, stimmt mit Jamey etwas nicht?“ Freddys Stimme klang vor Angst heiser. „Denn wenn ja, komme ich mit Ihnen.“
„Ich weiß nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Aber es dürfte wirklich besser sein, wenn Sie hier warten. Falls Jamey herauskommt und ich ihn verpasse. Okay?“ Sie bemühte sich, zuversichtlich zu klingen, und staunte einen Moment, dass ihr etwas daran lag, einen Sterblichen zu beruhigen. Freilich war Freddy auch kein gewöhnlicher Mensch. Als sie sah, dass er die Autotüren abgesperrt hatte, nickte sie ihm aufmunternd zu und lief hastig über den Asphalt zur Eingangstür.
Das unheilvolle Kribbeln wurde stärker, und mit ihm wuchs die Angst um Roland und den Jungen. Ihre hastigen Schritte tönten laut über den Parkplatz und dann den Bürgersteig. Sie lief um eine Ecke und griff nach der Tür.
Sie wurde von einem kräftigen Arm gepackt, aus dem Gleichgewicht gebracht und rückwärts in die Schatten gezerrt.
Narr! Bildete sich dieser Mensch wirklich ein, er könnte mit ihr kämpfen und gewinnen?
Sie machte sich bereit und wollte sich befreien, herumwirbeln und dem Idioten den Hals umdrehen, als Schmerzen wie ein gellender Schrei durch ihr Bewusstsein schossen. Die Klinge bohrte sich in ihre Taille, aber gewiss nur ein kleiner Schnitt. Doch die rasenden Schmerzen lähmten sie, und als sie spürte, dass sie sich wieder bewegen konnte, ließ die Stimme sie erstarren.
„Ich kenne deine Schwächen, Rhiannon. Blutverlust, direktes Sonnenlicht, direkter Kontakt deiner Haut mit offenem Feuer … und Schmerzen.“ Die Klinge wurde an ihren Brustkasten gedrückt, aber nicht hineingebohrt. „Schmerz“, fuhr er mit dicht an ihrem Ohr krächzender Stimme fort. „Je schlimmer er ist, desto mehr schwächt er dich. Ist es nicht so?“ Die Spitze der Klinge pikste in ihre empfindliche Haut. „Und je älter ein Vampir ist, desto ausgeprägter empfindet er den Schmerz.“ Mehr Druck wurde auf die Klinge ausgeübt. Ein Rinnsal Blut floss unter der Satinbluse über ihren Bauch. Sie sog Luft zwischen den Zähnen ein. „Das muss dich doch wahnsinnig machen, oder nicht?“
Sie knirschte mit den Zähnen und zwang sich zu sprechen. „Was wollen Sie?“
Wieder pikste das Messer, aber diesmal wurde es auch gedreht. Sie schrie auf, dann biss sie sich auf die Lippen. Sie würde Roland erst rufen, wenn sie wusste, mit wem sie es zu tun hatte. „Was glaubst du denn?“, krächzte er.
Es war nicht Curtis Rogers. Es war niemand, dem sie bisher schon einmal begegnet wäre. Für einen Menschen war er ausnehmend kräftig und ziemlich grausam. Die erste Verletzung, die an ihrer Seite, pochte immer noch vor Schmerzen, ganz zu schweigen davon, dass sie nach wie vor blutete. Sie spürte, wie sie schwächer wurde. Bei einer Vampirin in Rhiannons Alter konnte schon ein geringer Blutverlust das Ende bedeuten. Sie brauchte Hilfe. Verdammt, wie sie es hasste, das zuzugeben. Sie war stets mehr als imstande gewesen, allein mit ihren Widersachern fertig zu werden. Darum machte es sie besonders wütend, dass dieser Mensch ihre Schwächen so klar erkannt hatte und so geschickt gegen sie verwendete.
Ihre Knie fingen an zu zittern, sie hielt sie eisern still. „Wer sind Sie?“, knurrte sie, „und warum kokettieren Sie so begierig mit dem Tod?“
„Nicht mit dem Tod, Rhiannon. Mit dem Leben. Dem ewigen Leben. Unsterblichkeit. Du hast sie, ich will sie.“
Der Mann war verrückt! „Sie haben keine Ahnung, was Sie da reden. Sie werden nicht …“ Sie machte eine Pause, als ein plötzlicher Schwindelanfall sie überkam. Blinzelnd riss sie sich zusammen. „Lassen Sie mich los. Ich muss mich … setzen.“ Sie drückte die freie Hand auf die Wunde an ihrer Seite und hoffte, dass sie die Blutung wenigstens ein wenig eindämmen konnte.
„Wenn ich Sie loslasse, Lady, haben Sie vielleicht gerade noch genug Kraft, mich zu töten. Das ist nicht mein Ziel.“
„Wenn ich sterbe, ist auch Ihre Chance vertan, zu bekommen, was Sie wollen.“
„Eigentlich nicht. Es gibt noch andere.“ Er packte sie fester. Die Messerspitze wurde tiefer in ihr Fleisch gebohrt und herumgedreht. Sie atmete jetzt schneller, ein kurzes, abgehacktes Keuchen. Eine Reaktion auf die Schmerzen. Tränen nahmen ihr die Sicht. „Gib mir, was ich will, dann lasse ich dich gehen.“
„Und wenn ich mich weigere, lassen Sie mich sterben?“ Sie brachte die Worte nur langsam und nuschelnd heraus. „Dann wähle ich den Tod.“
„Nicht den Tod, Rhiannon. Etwas viel Schlimmeres. Hier wimmelt es heute Abend von Agenten des DPI, die auf den Jungen warten. Aber für die wärst du eine fettere Beute, glaubst du nicht auch? Die Vampirin, die vor Jahren ihren höchstrangigen Wissenschaftler ermordet hat. Ich muss nur einen Schrei ausstoßen, dann kommen sie gelaufen. Du bist zu schwach, gegen sie zu kämpfen. Und du wirst mit jedem Augenblick schwächer.“
Sie machte die Augen zu und konzentrierte ihre Gedanken auf Roland. Bring Jamey hier weg. Sei vorsichtig. Sie beobachten euch und … Ehe sie den Gedanken zu Ende bringen konnte, drehte der Dreckskerl das Messer wieder herum, und Rhiannon konnte nicht verhindern, dass sie vor Schmerzen laut keuchte.
„Also? Gibst du mir, was ich will?“
Ihre Beine knickten ein. Der Blutverlust in Verbindung mit den Schmerzen war einfach zu viel. Sie sank auf die Knie, wodurch das Messer des Mannes über ihre Rippen glitt und den Hals ritzte.
In dem Moment flog der Mann ohne ersichtlichen Grund rückwärts und landete mit einem lauten Klatschen auf dem Boden. „Du hast deinem Leben gerade ein Ende gesetzt, Mensch.“ Das war Rolands Stimme, in der eine Wut bebte, die sie vorher noch nie gehört hatte. Er streckte die Hand nach dem Mann aus, der am Boden lag und trotzig zu ihm aufblickte.
„Hier!“, brüllte der Mann aus vollem Hals. „Sie sind hier! Beeilung!“
„Das rettet dich auch nicht.“ Roland zerrte den Mann am Hemd in die Höhe und war kurz davor, ihm den Adamsapfel zu zerquetschen. Rhiannon hatte Roland noch nie so wütend gesehen. Er hatte seine anerzogene Vorsicht, seine sorgfältig kultivierte Ruhe völlig über Bord geworfen. Sie spürte es in seinen Gedanken, sah es in jeder Linie seines Gesichts. Er würde den Mann töten und jeden, der versuchte, ihn daran zu hindern. Die Wucht seines Zorns erschütterte sie bis ins Mark. Sie hatte nicht gewusst, dass er zu derart explosionsartigen Tobsuchtsanfällen fähig war.
„Roland, sie kommen“, brachte sie heraus. „Wir müssen gehen. Denk an … Jamey.“
Er schlug dem Mann mit der Faust ins Gesicht und zog ihn langsam wieder hoch. „Lass sie nur kommen. Die wünschen sich bald, sie wären weggeblieben.“
Sie legte jedes Restchen Kraft, das sie noch besaß, in ihre Stimme. „Roland, bitte! Ich blute …“
Es schien, als wäre seine Wut mit einem Schlag verflogen. Roland ließ die reglose Gestalt zu Boden fallen. Dann wirbelte er herum, beugte sich über Rhiannon und hob sie mühelos mit den Armen hoch. Er sah ihr ins Gesicht, und jetzt waren seine Augen schmal vor Angst, nicht mehr vor kaum beherrschter Wut zusammengekniffen. Sie spürte, wie er erstarrte, als ihm klar wurde, wie viel Blut sie verloren hatte und wie geschwächt ihr Körper war. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit ließ er den Parkplatz und das Geräusch hastiger Schritte hinter sich.
„Wo ist … Jamey?“
„Wir mussten uns zum Fenster rausschleichen und durch das Gebüsch ducken. DPI-Agenten haben sämtliche Ausgänge bewacht. Ich habe ihn zu Frederick ins Auto gebracht und gewartet, bis sie wohlbehalten weggefahren waren. Es geht ihnen gut.“
Sie seufzte, doch wegen der Schmerzen klang es gequält. „Gut.“
„Du verlierst immer noch Blut.“ Er blieb stehen und ließ sie auf den Boden nieder. Sie blickte nach oben, sah jedoch nur den schwarzen Umriss knorriger Äste vor dem fahlgrauen Himmel. Sie befanden sich in einem Waldgebiet.
Sie hörte Stoff reißen, als Roland ihr hastig die Bluse öffnete. Dann verspürte sie mehr Schmerzen, selbst durch seine behutsame Berührung, als er ein Taschentuch auf die Wunde hielt. „Festhalten“, wies er sie an. „Drück es fest darauf. Achte nicht auf die Schmerzen.“
Sie gehorchte, schrie aber dennoch. „Du hast gut reden. Du bist noch keine zehn Jahrhunderte alt. Mein Alter ist fast doppelt so hoch.“
„Das Alter bringt Kraft“, antwortete er mit heiserer Stimme, während er die kleinere Verletzung mit den Fingern berührte. Sie zuckte zusammen.
„Und Schwäche.“ Sie holte zitternd Luft. „Du weißt ganz genau, dass ich wesentlich empfindlicher auf Schmerzen und Blutverlust, Sonnenlicht und Feuer reagiere als du.“ Sie ließ den Kopf sinken, als könnte ihr Hals das Gewicht plötzlich nicht mehr tragen. „Ich bin nicht sicher, ob ich es bis zum Morgengrauen schaffe, Roland.“
Wieder schob er die Arme unter sie und hob sie hoch. Diesmal drückte er ihr Gesicht an seinen Hals. „Das wirst du, Rhiannon. Etwas anderes lasse ich nicht zu. Du musst nur trinken.“
Sie erstarrte, da sie nicht sicher war, was er damit meinte. Er drückte sie mit der Hand in ihrem Nacken noch fester an sich und strich ihr mit den Fingern zärtlich durch das Haar, während er sie mit der Handfläche stützte. Sie berührte mit den Lippen die Haut an seinem Hals und schmeckte Salz.
„Trink“, sagte er wieder.
Sie gehorchte.