Keith

8. KAPITEL

Sie schienen wirklich vom Pech verfolgt zu sein. Verdammt, die Dreckskerle hatten ihn angeschossen. Das hätte er nicht riskieren dürfen. Sie hätten das verdammte Auto stehen lassen und zu Fuß fliehen sollen. Er war ein Idiot, weil er immer noch dachte wie ein Sterblicher, eine Angewohnheit, von der ihn Rhiannon mit ihrem unablässigen Spott bisher noch nicht hatte kurieren können.

Als der Nebel seiner Schmerzen sich lichtete, stellte er fest, dass Angelica fuhr. Sie musste ihn irgendwann vom Fahrersitz gezogen haben – auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte – und raste jetzt die Straße entlang, als wäre ihr der Teufel persönlich auf den Fersen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sie fahren konnte. Hatte sie nie danach gefragt.

Erst mehrere Meilen und zahlreiche haarsträubende Wendemanöver später schien sie überzeugt zu sein, dass sie die Verfolger abgeschüttelt hatte, und wurde langsamer. Sie sah immer wieder zu ihm, und die Besorgnis stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Nach einem nervösen Blick in den Rückspiegel steuerte sie das Auto von der Straße und beugte sich über ihn, während er auf dem Beifahrersitz lag und sich mit jedem bisschen Kraft, das er noch besaß, darauf konzentrierte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ein-oder zweimal war er schon weg gewesen. Und er fürchtete, wenn es noch einmal passierte, würde er nicht wieder aufwachen.

„Du wirst immer besser“, brachte er heraus. „Beim Gedankenlesen, meine ich.“

„Du bist zu schwach, es zu verhindern.“ Sie riss sein Hemd auf, und er erinnerte sich, wie er davon geträumt hatte, dass sie etwas ganz Ähnliches tun würde. Nur unter ganz anderen Umständen.

Sie atmete tief ein. Die Wunde stellte ein unebenmäßiges Loch an seiner Seite dar, drei oder vier Zentimeter über dem Hüftknochen, aus dem Blut in erschreckenden Mengen quoll. Eine Fleischwunde, die für einen Sterblichen kaum lebensgefährlich gewesen wäre.

„Warum blutet es so?“, flüsterte Angelica. „Sieht doch gar nicht so schlimm aus. Warum hört es nicht auf zu bluten?“ Derweil durchsuchte sie das Auto, sah ins Handschuhfach, beugte sich über die Sitzlehne.

„Jede Wunde kann einen Vampir töten“, ließ er sie wissen. Ihr Lehrer, das war er geworden. Irgendwie älter und weiser, den sie zum Überleben brauchte. Auch deshalb machte sie sich gerade so große Sorgen um ihn. Er sollte sich bloß keine Schwachheiten genehmigen. „Uns ergeht es wie Blutern, wenn wir tiefe Fleischwunden zugefügt bekommen. Ich fürchte, süße Angel, ich bin in wenigen Minuten tot, wenn wir die Blutung nicht stillen können.“

Offenbar war Angelica schon zur selben Schlussfolgerung gelangt. Denn er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da zerrte sie ihm das Hemd vom Leib und zerriss den Stoff dabei. Mit den Zähnen riss sie einen Ärmel ab, knüllte ihn zusammen, drückte ihn auf die Verletzung. Den Rest des Hemdes drehte sie zu einem langen Band und wickelte es so fest um seine Leibesmitte, dass er kaum noch Luft bekam. Sie zog es fest, um zusätzlichen Druck auf die Wunde auszuüben, und er stöhnte. Schmerzen. Sie verursachte ihm ungeheure Schmerzen, das wusste sie. Und spürte sie ebenfalls, eine Anomalie, hinter die Jameson immer noch nicht gekommen war. Vielleicht wusste Roland eine Erklärung.

Was die Schmerzen anbetraf, dagegen konnte man nichts machen. Allerdings hatte er angenommen, dass sie etwas zimperlicher sein würde. Doch das war sie nicht. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, und das war wahrscheinlich gut so. Sie war seine einzige Chance. Als sie fertig war, wartete sie und betrachtete den improvisierten Druckverband.

„Nicht bluten“, murmelte sie halb zu sich und halb zu der Wunde an seiner Seite. „Nicht bluten, nicht bluten, nicht bluten …“

„Das wagt sie nicht“, sagte er. Dann lehnte er sich auf dem Sitz zurück und machte die Augen zu.

„Verlass mich nicht“, bat sie ihn.

Sie ließ den Motor wieder an und beobachtete noch eine Weile den Verband. In die Augen schaute sie ihm nicht mehr. Dann ließ sie die Kupplung kommen und raste so schnell, wie der Sportflitzer es zuließ, zu Erics Haus zurück. Dort angekommen, legte sie den Arm um ihn und versuchte, ihn aus dem Wagen zu ziehen. Jameson schwang sogar die Füße hinaus und stellte sie auf den Boden, um ihr zu helfen. Zweifellos hätte sie ihn, falls erforderlich, auch tragen können. Sie war im Besitz solcher Kräfte, aber wusste sie es auch? Allerdings war er noch nicht so lange ein Vampir, sodass ihm die ganze Situation unangenehm war. Er wollte sich nicht von einer Frau tragen lassen, und so schaffte er es tatsächlich, allein ins Haus zu gehen. Sie führte ihn durch den Korridor, dann ins Innere und aktivierte die Schlösser, als sie die Türen geschlossen hatte.

„Herrgott, Angel“, sagte er, blieb stehen und atmete ein paarmal flach, ehe er weiterging. „Das war dumm.“ Sie führte ihn ins Schlafzimmer und legte ihn behutsam auf das Bett.

„Was denn?“

„Die Schlösser. Du kennst den Code nicht. Wie willst du wieder rauskommen, wenn ich sterbe?“

„Dann musst du eben am Leben bleiben, Vampir. Wenn nicht, sitze ich hier fest. Also reiß dich zusammen und sag mir, was ich tun soll.“ Und dann, als die nächste Ohnmacht drohte, beugte sie sich über ihn und schüttelte ihn an den Schultern. „Verdammt, Jameson, was soll ich tun?“ Er sah Tränen in ihren Augen.

Er konnte sie einfach nicht hassen. Diese Frau brauchte ihn. Frauen in Not waren immer seine Schwäche gewesen. Zuerst Tamara. Er erinnerte sich, wie er sich einmal als magerer Zwölfjähriger auf eine Schlägerei mit bloßen Fäusten einlassen wollte, als ein erwachsener Mann sie belästigte. Selbst Rhiannon, die stärkste Frau, die er je kennengelernt hatte, besaß ihre schwachen Momente, und Jameson hätte es mit der ganzen Welt aufgenommen, um sie zu beschützen.

Und jetzt Angelica. Der dunkle Engel, der ihn mehr zu brauchen schien als alle anderen zusammengenommen. Er wollte keine Beschützerinstinkte für sie entwickeln, doch es schien unvermeidlich zu sein. Er spürte es. Und konnte nichts dagegen tun. Obwohl er hier an der Schwelle des Todes lag, spürte er ihre Angst. Er würde nicht sterben und sie ihrem Schicksal überlassen. Er würde kämpfen, damit er am Leben blieb. Er wollte bei ihr sein, wenn sie ihre Tochter fanden. Er wollte die Freude in diesen glänzenden Augen sehen.

Verdammt, er fing an, diese Frau zu mögen.

Er strich ihr das Haar aus dem wunderschönen Gesicht. „Jede Wunde heilt während des Tagesschlafs. Du musst mich nur bis dahin am Leben halten.“

„Wie soll ich das machen?“

Er versuchte zu lächeln. „Die Blutung stillen. Ersetzen, was ich verloren habe. Wenn du das schaffst, geht es mir gut.“ Er bemühte sich, die Augen offen zu halten.

Sie blinzelte. „Und wenn ich das nicht kann?“

„Sieh im Bad nach, Angel. Dort müssten Vorräte sein für … diese Art von Notfall.“

Sie berührte sein Gesicht, sah nach der Wunde, presste die Lippen aufeinander und ging ins Bad, um nach den Vorräten zu suchen. Jameson zweifelte nicht, dass sie dort finden würde, was sie brauchte. Eric hortete einfach alles, damit es im Notfall an nichts fehlte. Angelica kehrte mit verschiedenen Verbänden und sogar Nadel und Faden zurück. Die Verbände mussten genügen. Auf keinen Fall würde er still liegen bleiben und zusehen, wie sie diese Nadel in ihn bohrte. Außerdem war dafür sowieso keine Zeit mehr. Die Dämmerung rückte unaufhaltsam heran.

Angelica trat an sein Bett, entfernte den provisorischen Druckverband und sah erschrocken, dass es schon wieder zu bluten begann. Eine Hand drückte sie auf die Wunde, mit der anderen und den Zähnen riss sie Streifen des Verbands ab. Dann drückte sie die unebenmäßigen Ränder der Wunde zusammen. So schloss sie die Öffnung Stück für Stück. Als sie fertig war und das Blut immer noch floss, machte sie einen sauberen, neuen Verband aus einem Stück Mull und knotete die Binde fest darüber. Dann seufzte sie erleichtert und nickte. Sie schien zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Arbeit.

Während er dalag und sich überlegte, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde, nahm die Frau plötzlich Nadel und etwas Seidenfaden zur Hand.

„Nein“, sagte er rau flüsternd. „Das ist nicht nötig.“

„Dachte ich zuerst auch“, erwiderte sie und fädelte den Faden zielsicher in das Nadelöhr ein. „Aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Wenn du auch nur eine Bewegung machst, fängt es wieder an zu bluten. Du könntest sterben, Vampir.“ Sie hatte den Faden eingefädelt und lockerte den Verband wieder. „Mach dich bereit“, forderte sie ihn auf. „Das dürfte tierisch schmerzen.“

Als ich die klaffende Wunde an seiner Seite nähte, wurde er vor Schmerzen ohnmächtig. Der Blutverlust tat sein Übriges. Mir war nicht klar gewesen, dass alle Vampire Schmerzen anders fühlten. Seit der Verwandlung verspürte ich Schmerzen viel intensiver. Jetzt wusste ich, dass das zu meinem neuen Dasein gehörte. Die Schmerzen wurden ebenso verstärkt wie jede andere Empfindung. Und nun spürte ich auch seine Schmerzen, warum nur? Die Schmerzen der anderen Vampire, die in den Zellen neben meiner gefangen gehalten wurden, hatte ich nicht spüren können. Auch nicht die meines Erzeugers, als ich ihn angezündet und verbrannt hatte. Aber Jamesons Schmerzen teilte ich.

Genau genommen war es jedoch ganz schlüssig. Der Mann war in meinem Blut, in meiner Seele. Wie ein Virus, den ich nicht auskurieren konnte. Der langsam stärker wurde und sich in meinem ganzen Körper ausbreitete, bis er jeden Gedanken und jede Empfindung beeinflusste.

Während der kurzen Zeit unseres Beisammenseins verspürte ich eine enorme Verbundenheit mit ihm. Begonnen hatte alles mit den körperlichen Empfindungen, als ich mich an ihm gütlich tat. Und dann das Verlangen. Die Sehnsucht nach mehr. Unser gemeinsames Kind vertiefte das alles noch, glaube ich. Ich trug sein Fleisch und Blut monatelang in mir, ernährte es. Liebte es.

Wie sollte ich mich nicht zu ihm hingezogen fühlen? Sogar … sogar vernarrt in ihn sein, obwohl er ein reueloses Monster war und das DPI so unversöhnlich hasste. Heute Nacht jedoch hatte er das Leben des Mannes verschont. Weil ich ihn darum bat. Gewiss war er nicht gar so furchterregend, wie ich ihn anfangs eingeschätzt hatte. Und ganz sicher nicht so wie mein Erzeuger, diese Bestie. Nein, auch in dieser Hinsicht hatte ich mich geirrt. Jameson hätte sich mir nie auf diese Weise aufgezwungen.

Aber ein kleiner Teil tief in mir wünschte sich, er würde es. Denn dann würde ich die Erfüllung finden, nach der ich mich mit ihm sehnte, und keine Schuldgefühle mehr haben, weil ich ihn so sehr begehrte.

Bei dem Gedanken wurde ich ganz rot im Gesicht und fing an zu schwitzen. Ich verdrängte ihn und konzentrierte mich auf das, was getan werden musste. Ich nähte die Wunde so gut ich konnte zu, säuberte sie und verband sie. Die Blutung war gestillt, und es würde auch nicht wieder anfangen zu bluten. Und wenn es stimmte, was er mir über die regenerativen Eigenschaften des Tagesschlafs erzählt hatte, würde er überleben. Vielleicht.

Aber er musste noch etwas trinken, wieder auffüllen, was er verloren hatte. Und dann ausruhen. Der Vampir hatte behauptet, dass die Wunde verheilt sein würde, wenn er wieder erwachte. Ich musste nur dafür sorgen, dass sie bis dahin nicht wieder aufbrach.

Jamesons Blut hatte meinen Pullover völlig ruiniert. Auch die Jeans hatten eine enorme Menge Blut aufgesogen. Aber seine Klamotten waren in einem noch schlimmeren Zustand. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste ihn umziehen und waschen. Außer mir war niemand hier, der es tun konnte. Die Aussicht erregte mich. Ich hätte mich wohl schämen sollen, aber tatsächlich erregte mich allein der Gedanke.

Zuerst legte ich meine Kleidung ab. Was hätte es genützt, wenn ich ihn gehalten und gewaschen und dabei nur wieder beschmutzt hätte? Ich stellte mich kurz unter die Dusche, gerade lange genug, um das Blut von meinem Körper abzuwaschen. Dann streifte ich den Morgenmantel über, den er zuvor getragen hatte, und eilte wieder an seine Seite. Alles in allem blieb ich ihm keine drei Minuten fern. Und es ging ihm immer noch gut.

Ich hob ihn ganz behutsam hoch, zog ihm die letzten Reste seines Hemdes über den Kopf und warf sie zu Boden. Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, konnte ich mich kaum bewegen. Er war von der Taille aufwärts nackt und er war … er war wunderschön.

Ich hatte noch nie den Körper eines Mannes gesehen. Nicht so. Er war fest. Muskulös und dennoch schlank und irgendwie anmutig. Die Haut straff und gebräunt; ich sehnte mich danach, sie zu berühren. Mit den Händen über seine Brust und den flachen Bauch zu streichen, ihn unter meinen Handflächen zu spüren.

Ein unbekanntes Verlangen, und doch gewöhnte ich mich daran. Noch niemals zuvor hatte ich derartige Anfälle von Lust erlebt. Die Schwestern hatten meine Neugier gestillt, mir aber lediglich gesagt, dass solche Dinge sündig wären und keine junge Frau auch nur an die Beziehung zu einem Mann denken sollte. Mehr nicht. Man verbot mir, meinen knospenden Körper zu berühren, verbot mir, ihn zu erforschen und die Geheimnisse der Lust zu ergründen. Doch jetzt brannte ich darauf, diese Geheimnisse kennenzulernen. Noch niemals vorher hatte ich so intensiv an körperliche Wonnen denken müssen. Sein Körper zog meine Blicke jedoch förmlich an. Und sosehr ich mich schämte, ich konnte mich nicht sattsehen. Ich glaube, seine Brust faszinierte mich am meisten; die harten Brustwarzen forderten mich regelrecht auf, sie zu berühren.

Ich leckte mir die Lippen und wandte mich ab. Aber ich musste wieder hinsehen. Und wieder.

Im Augenblick brauchte er meine Hilfe, nicht meine Leidenschaft, sagte ich mir. Doch meine Hände zitterten, als ich seine Jeans öffnete. Und ich zitterte am ganzen Körper, als ich sie über seine Hüften, die Oberschenkel und zuletzt die Füße zog. Ich würde ihn nicht ansehen. Ich wandte mich einfach ab und lief ins Bad, wo ich eine Schüssel warmes Wasser und ein frisches, sauberes Tuch holte. Aber alle meine Vorsätze halfen nichts. Ich musste ihn ansehen, während ich behutsam das Blut abwischte. Ich wusch ihm Arme und Brust und hielt den Blick dabei starr auf die glatte, straffe Haut seines Bauchs gerichtet. Und ich wusch seinen festen Unterleib, die geschwungenen Hüften und betrachtete dabei seine kräftigen Schenkel und die dunklen Locken dazwischen. Und seine Männlichkeit, ruhend, aber wunderschön und voll erotischer Versprechungen, die ich nicht einmal ansatzweise verstand. Dunkel. Geheimnisvoll. Und ich wollte ihn anfassen. Wollte dieses Organ aufwecken und sehen, wie es auf meine Berührung reagierte. Ich wollte es spüren, erforschen. Die Geheimnisse seiner Lust ebenso kennenlernen wie meine.

Sollten das wirklich meine Gedanken sein? Ich wusste, es war falsch, ihn auf diese Weise anzusehen, er konnte sich ja nicht einmal wehren. Falsch. Und noch falscher wäre es, ihn jetzt anzufassen. Denn wenn er widersprechen könnte, würde er es vielleicht tun. Er hegte keinerlei zarten Gefühle für mich, hasste mich sogar. Deshalb gefiel es ihm vielleicht gar nicht, wenn ich mir solche Freiheiten herausnahm.

Ich wusch ihm behutsam das Blut von den Beinen, doch selbst das kam einem sinnlichen Vergnügen gleich; immer wieder strich ich über seine straffe Haut, mit nichts als dem weichen Tuch zwischen seinem Körper und meinen Händen. Meine Hände kribbelten, wo ich ihn berührte. Und es fühlte sich gut an. Auf eine sündige, lästerliche Weise gut.

Als ich fertig war, schwitzte ich. Ich atmete zu hastig, Schweißperlen standen mir auf Gesicht und Hals. Ich spürte meinen Puls heftig und bekam Magenkrämpfe. Den Grund dafür kannte ich. Ich wollte ihn. Mich gelüstete nach ihm. Es war lächerlich, ich mochte ihn ja noch nicht einmal. Und er verabscheute mich ebenfalls.

Aber es spielte keine Rolle, dass er mich hasste. Diese unbedeutende Kleinigkeit konnte das Feuer, das in mir brannte, nicht löschen. Ich wollte ihn. Wie konnte eine Frau ihn nicht wollen, so nackt und hilflos und so wunderschön, wie er vor ihr lag? Selbst eine Jungfrau, selbst eine Nonne, selbst eine Heilige hätte sich seiner Sinnlichkeit nicht entziehen können. Und ich war momentan nichts davon. Ich war nichts anderes als eine Vampirin. Eine Kreatur reiner Sinnlichkeit. Eine Kreatur, deren Empfindungen tausendfach verstärkt waren. Und zum ersten Mal, zum allerersten Mal musste ich mir eingestehen, dass ich Gefallen an meinem neuen Dasein fand. Die gesteigerten Sinne genoss. Mehr davon wollte.

Wie würde sie wohl sein, fragte ich mich, die körperliche Liebe mit diesem Mann?

Eine törichte Vorstellung, natürlich. Oh, ich konnte ihn ansehen, sogar anfassen ohne seine Zustimmung und vielleicht ohne sein Wissen. Aber ich konnte ganz bestimmt nicht mit ihm schlafen. Das war unmöglich.

Und dass mich der männliche Körper jetzt so sehr faszinierte, durfte mich nicht unvorsichtig machen. Denn er schwebte durch den erlittenen Blutverlust immer noch in Gefahr, das sollte ich nicht vergessen.

Er musste endlich Nahrung zu sich nehmen. Im Nebenzimmer war alles Nötige vorhanden, fein säuberlich in Plastikbeutel verpackt. Ich stand auf, warf das Tuch in die Schüssel und war schon auf dem Weg, doch dann blieb ich stehen. Es würde schwierig werden, ihm etwas einzuflößen. Ich hatte nur Gläser. Er war bewusstlos. Ob ich ihn überhaupt wach bekam?

Aber dieses kalte und abgestandene Blut sollte er nicht bekommen. Ich kannte den Unterschied zwischen diesem und warmem, lebendigem Blut. Und ich hatte den sündigen Genuss erlebt, von ihm zu trinken. Er hatte dabei ebenso sehr vor Verlangen gebebt wie ich. Ich wollte ihm selbst Nahrung sein. Ich wollte seinen Mund an mir spüren, seine Zähne in meinem Fleisch, seine Lippen, die mein Blut in sich aufsogen. Das würde das Verlangen noch mehr anstacheln. Das hatte ich mittlerweile gelernt. Doch es würde auch mir ein derart intensives Vergnügen bereiten, dass ich nicht widerstehen konnte.

Das Verlangen nach seiner Berührung hatte mich schon vor langer Zeit fast in den Wahnsinn getrieben. Jetzt wollte ich es ergründen, während er bewusstlos war und meine Sehnsucht nicht sehen konnte. Ich würde ihn von mir trinken lassen, um endlich zu wissen, wie es sein würde. Und weil ich mich frei und hemmungslos fühlte.

Tollkühn streckte ich mich neben ihm auf dem Bett aus. Mit nichts an als seinem Morgenmantel zog ich ihn behutsam auf die Seite und dann tiefer, sodass sein Kopf und die Schultern auf meiner Brust ruhten. Oh, und ich schloss die Augen und genoss das Gefühl, wie sein Männerkörper mich in die Matratze drückte. Dann seufzte ich beschämt, als ich spürte, wie er meine Brüste mit seinem nackten Oberkörper drückte. Ich hatte vor langer Zeit entschieden, dass ich solche Gefühle niemals kennenlernen wollte. Das Gewicht eines Mannes auf mir … Und doch genoss ich das Gefühl nun, kostete es gründlich aus, ehe ich mich auf das nächste konzentrierte. Ich teilte den Morgenmantel und entblößte meinen Busen, damit ich seine Brust noch intensiver spüren konnte. Und es tat gut. Ich strich mit den Händen seinen Rücken hinauf und hinab und ertastete mit geschlossenen Augen seinen Umriss. Legte die Hände auf seine Pobacken. Sie fühlten sich so perfekt und fest und rund unter meinen Handflächen an, als ich sie drückte und die Hüften krümmte, dass plötzlich seine Erektion gegen mich stieß.

Ja, Erektion. Er war steif geworden. Nicht einmal bei Bewusstsein, und doch reagierte er auf meine Berührung. Ich hatte es geahnt, gewusst, dass nicht nur mein Verlangen so unendlich groß war. Jetzt hatte ich den Beweis dafür.

Ich ließ eine Hand nach oben wandern, über die perfekte Wölbung seines muskulösen Rückens, hielt seinen Hinterkopf und führte behutsam sein Gesicht an meinen Hals. Im Geiste streckte ich die Fühler nach ihm aus, wie er es mir gezeigt hatte. Bedien dich, Vampir. Nimm, was du brauchst … was du begehrst … nimm es von mir.

Obwohl so geschwächt, ließ er sich nicht lange bitten. Er glitt mit dem Mund über meine Haut, ich schloss die Augen. Er küsste meine Brust, dann öffnete er den Mund und durchbohrte mit den Zähnen die zarte Haut. Ich schrie vor Lust und Schmerz leise auf, und er trank von mir, tat sich an mir gütlich wie ich mich einst an ihm. Seine Bewegungen waren langsam und ungeschickt. Er saugte bedächtig, so zurückhaltend und sanft. Zu sanft. Er hob die Hände wie ein Schlafwandler, ertastete mein Haar, strich darüber, als würde er eine Katze streicheln, immer und immer wieder, während er trank. Die Lust nach ihm tobte und brannte in mir und wurde mit jedem seiner Schlucke übermächtiger.

Ich spürte, wie er zu Kräften kam. Spürte, wie er seine Macht wiedererlangte. Bald bewegte er die Hände wieder, fand meine, glitt an den Armen hoch und legte sie mir auf die Schultern. Dann hob er den Kopf, schlug die Augen auf. Gierige Augen, in denen unter schweren Lidern die nackte Wollust stand. Unsere Blicke trafen sich, und ich erkannte keinen Widerstand. Kein Zögern. Nur Begierde.

Da verspürte ich einen Anflug von Angst. Was für eine Bestie hatte ich da geweckt? Ich sollte ihn behutsam von mir heben und ihm die Möglichkeit geben, ganz wach zu werden.

Er ließ von mir ab, leckte sich langsam die Lippen, senkte den Kopf wieder, und es war um meine guten Absichten geschehen. Mit fiebrigen Lippen küsste er einen Weg zur Rundung meiner Schulter, und dann biss er dort knabbernd wieder zu. Spitze, kräftige Zähne sogen Blut; ich legte den Kopf in den Nacken und stöhnte vor Wonne. Dann hörte er auf zu trinken und glitt weiter abwärts zu meinen Brüsten. Dort verweilte er und brachte mich erneut zum Stöhnen. Er nahm sich jede einzeln vor, dann die Haut über den Rippen, am Bauch, an den Hüften, und dann vergrub er das Gesicht zwischen meinen Beinen, leckte und biss mich sogar dort. Als er sich wieder an meinem Körper entlang nach oben arbeitete, litt ich Höllenqualen. Alles in mir war nur noch eins: Verlangen. Mein keuchender Atem rasselte in der Brust. Die Haut an meinem ganzen Körper war feucht von seinen Lippen und mit winzigen, erotischen Malen übersät.

Er streckte den nackten Körper über mir aus, senkte sich herab, küsste mich auf die Lippen, und da packte ich ihn, nahm sein Gesicht zwischen die Hände und flüsterte: „Warte.“

Herrgott, der Ausdruck in seinen gestreiften Tigeraugen. Im Augenblick war er eine Kreatur, die ausschließlich von ihren Trieben beherrscht wurde. Und ich befand mich fast im selben Zustand. Fast.

„Worauf warten, Angel“, flüsterte er tief in der Kehle. Und er presste den Mund auf meinen, nahm meine Unterlippe zwischen die Zähne und biss zu.

Ich drehte den Kopf zur Seite. Ich hätte nicht so weit gehen dürfen. Es schien mir ihm gegenüber nicht fair zu sein. Vermutlich hatte er keine Ahnung, was er tat. Ich hatte nicht gründlich nachgedacht, keinen Plan für den Fall parat, dass er aufwachte. „Du gerätst in einen Blutrausch“, brachte ich heraus, obwohl ich gar nicht reden wollte. Ich wollte ihm nichts erklären oder ihn gar abhalten. Ich wollte nur, dass er mich nahm. Jetzt, bevor ich Zeit hatte, gründlich nachzudenken. Ich wollte ihn in mir spüren. Schnell und hart und tief.

„Ja“, sagte er. „Ja, schnell und hart und tief, Angel.“

Oh Gott, ich hatte vergessen, meine Gedanken abzuschirmen.

„Gütiger Gott, Angel … fass mich an. Fass mich so an, wie du es willst.“ Und er nahm meine Hand und führte sie zwischen uns. Ich fasste ihn an. Ich ließ die Fingerspitzen an ihm auf und ab gleiten, umfing ihn und drückte ihn. Und ich las jeden einzelnen Gedanken, der ihm durch den Kopf ging. Er schirmte sie nicht ab. Kein bisschen. Jameson konnte nur daran denken, dass jede Empfindung seit seiner Verwandlung tausendfach verstärkt zu sein schien. Und dass Rhiannon ihm gesagt hatte, beim Sex wäre es wahrscheinlich eher eine Million Mal stärker, etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Aber er wollte es. Er wollte es, seit er zum ersten Mal meine Lippen auf seiner Haut spürte. Davon geträumt hatte, es mit mir zu machen.

Ich glaube, dieses Wissen machte mich rasend. Ich drückte mich an ihn, krümmte den Rücken, dann ließ er die Lippen über mein Kinn zum Hals wandern und saugte dort. Der heilige Franz von Assisi hätte nicht widerstehen können. Ich schlang die Arme um ihn, hielt ihn fest, und er hob den Kopf und küsste mich. Tief, wie ich es mir wünschte. Stieß die Zunge in meinen Mund und labte sich gleichzeitig an meiner. Massierte mir die Pobacken mit den Händen und hob meine Hüften in einer Raserei von Verlangen und Verheißung an seine.

Er zerrte hektisch an dem Bademantel, und ich hob den Oberkörper vom Bett, damit er ihn leichter abstreifen konnte. Es gelang uns, den Mantel ganz abzustreifen, ohne dass wir uns voneinander lösen mussten. Sein Herz schlug pochend an meiner Brust. Er keuchte, seine Haut fühlte sich heiß an. Er murmelte etwas, und da küsste ich ihn und zerkratzte seine Haut, weil ich vor brennender Lust keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

Ich spürte, dass er genau wusste, wie überwältigend das Gefühl sein konnte. Er machte sich Vorwürfe deswegen. Ihm hatte man das alles erklärt. Er war gewarnt und wusste, was ihn erwartete. Ich dagegen nicht. Ich wusste nur, dass jede einzelne Zelle meines Körpers nach Erlösung schrie. Die Schusswunde hatte ihn geschwächt, und wahrscheinlich wusste er gar nicht, was er da mit mir anstellte. Aber ich konnte nicht damit aufhören. Ich konnte es nicht.

„Angelica …“

Ich stieß ihn ein wenig weg, hob mich ein klein wenig, spreizte die Beine noch mehr und brachte mich in die richtige Stellung unter ihm. Mit seinen von Leidenschaft erfüllten Augen blickte er mich an, während er den Körper senkte und in mich eindrang. Ich krümmte mich ihm entgegen und bewegte mich so, dass ich ihn noch tiefer in mir aufnehmen konnte, während er zustieß. Ich konnte nicht anders, musste von Wollust durchdrungen laut stöhnen. Dieser Laut schien seinen letzten Widerstand zu brechen. Er hielt meinen Hintern, zog mich fester an sich und stieß seine gesamte Länge in meinen Körper. Ich legte den Kopf in den Nacken und schrie vor Lust. Er bewegte sich in mir. Und ich ritt ihn, klammerte mich an ihn, fühlte mich wie eine Kriegergöttin, als ich alles nahm, was er zu geben hatte, und immer noch mehr verlangte.

Als ich zitterte und erschauerte und die Augen weit aufriss, da wusste er, was ich empfand. Ich ließ ihn zu meinen Gedanken durchkommen. Er sollte fühlen dürfen, was ich fühlte. Die Wonne, die ich dabei empfand, schockierte mich. Mich schockierten die köstlichen Wogen, die von der Mitte meines Körpers ausgingen. Ich hatte so etwas noch nie empfunden, hatte keine Ahnung, was mich am Ende erwartete, und dennoch arbeitete ich mit jeder Faser meines Körpers darauf zu.

Als ich kam, beugte er den Kopf über mich, schlug die Zähne in meinen Hals und saugte heftig. Der Orgasmus wurde verdoppelt, verdreifacht und schien endlos. Seine Wucht erschütterte mich, ich schrie und grub mit den Nägeln blutige Striemen in seinen Körper, während ich mich wie eine Katze krümmte, die Hüften hob, damit ich die gesamte Länge seiner Erektion in mich aufnehmen konnte, und den Hals seinen Zähnen entgegendrückte. Und auch er kam, und er schien erschauernd mehr in mich hineinzuergießen als nur seinen Samen, schien mehr als nur klebrige Flüssigkeit aus meiner Körpermitte und meinem Hals zu saugen. Mir schien, als würde seine Seele aus ihm herausgezogen werden und meine aus mir. Und beide vermischten sich und wurden eins wie unsere Körperflüssigkeiten. Die Ekstase war so intensiv, dass ich Angst hatte, ich würde sterben. Ich glaubte wirklich, ich würde sterben. Die Wellen spülten über mich hinweg und rissen mich mit sich in eine Welt wahnsinniger Empfindungen und reiner, körperlicher Ekstase. Jede derart unglaubliche Lust musste ihren Preis haben.

Aber ich starb nicht. Ich kam ganz langsam wieder zu mir und fühlte mich schwindelig, losgelöst, als würde mein Gehirn immer noch irgendwo dort draußen schweben.

Jameson war auf mir zusammengesunken. Die Arme um mich geschlungen, den Kopf auf meiner Brust. Vollkommen entspannt sank er bereits, dachte ich, in einen See samtigen Schlafs.

Wenn er erwachte …

Ich holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Wenn er erwachte, würde ich bezahlen müssen. Ich bezweifelte, dass er mir diesen neuerlichen Übergriff verzeihen konnte, so wenig wie die Tatsache, dass ich ihn einst ermorden wollte. Dies kam einer Vergewaltigung ziemlich nahe.

Ich griff nach der Decke und zog sie über uns beide. Und dann lag ich da und wünschte mir, dieser rasende Geschlechtsakt hätte meine Lust auf ihn gestillt. Doch dem war nicht so. Sie brannte immer noch in mir. Wuchs sogar noch. Wenn überhaupt, schien sie nur noch stärker geworden zu sein. Tiefer und zu neuer Größe angewachsen.

Gott steh mir bei. Ich begehrte diesen Mann mehr als jemals zuvor. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich tun konnte, um das zu ändern.

Während dieses kurzen Zwischenspiels beherrschten mich nichts als Gefühle. Empfindungen. Lust. Begierde. Sünde. Und ich hatte mich wie eine Hure auf ihn gestürzt.

Ich war nicht bei Sinnen. Überwältigt von meinen grotesk übersteigerten Leidenschaften. So musste es gewesen sein.

Doch dann erwachte ich und fand mich nackt wie am Tag meiner Geburt und um den Vampir geschlungen wie eine Ranke, die ohne ihn zugrunde gehen musste. Und erstarrte regelrecht.

Schlimmer als alles andere schien mir, dass ich mich so minutiös an alles erinnern konnte. An jeden kehligen Laut, den ich von mir gab, jede schamlose Tat meinerseits. Ich erinnerte mich sogar an den Höhepunkt, auf dem meine Seele in tausend funkelnde Scherben zu zerbersten schien.

Ganz behutsam löste ich mich aus seinen Armen und richtete mich auf … und dann schluchzte ich vor Grauen über das, was ich getan hatte, denn es schien noch schlimmer, als mir bewusst war. Ich hatte ihm mit meinen langen Nägeln die Haut zerkratzt, und sein ganzer Körper war von Bisswunden übersät. Und er war nackt und schlief so ruhig und anmutig wie ein Gott. Ein dunkler, heidnischer Gott. Meine Versuchung. Mein Sündenfall. Mein Satan.

Schon wieder regte sich das Verlangen in mir, als ich ihn betrachtete. Ich schlug beschämt die Hände vor das Gesicht. Und dann weinte ich. Denn ich kannte diese Kreatur nicht, zu der ich geworden war. Ich kannte sie ganz und gar nicht. Und ich war nicht sicher, ob ich sie überhaupt kennen wollte.

„Angelica“, flüsterte er, und ich spürte die Bewegung, als er sich aufrichtete. Er berührte mich mit der Hand an der Schulter, als wollte er den Arm um mich legen und mich an sich ziehen. Um mich zu trösten.

Doch ich ertrug seine Berührung nicht. Nicht jetzt. Nicht, wo ich sie so sehr wollte.

„Wie konnte ich das nur tun?“, flüsterte ich.

„Ah, Herrgott, Angelica …“

„Du hättest mich warnen müssen. Du hast gewusst, was passieren würde, wenn ich dich von mir trinken lasse. Als ich von dir getrunken habe, war es genauso. Du hast es gewusst, nicht wahr? Nicht wahr, Vampir?“

Er wandte seine wunderschönen Augen von mir ab und nickte. „Ja. Ich wusste, welche Lust über dich kommen würde, wenn ich von dir trinke, Angel.“ Er hob den Kopf und sah mir in die Augen. „Ich hatte nur keinen Grund zu der Annahme, dass du es tun würdest. Warum sollte ich dich vor etwas warnen, wenn ich glaubte, dass du es nie machen würdest?“

„Du hättest mich trotzdem warnen müssen. Siehst du nicht, was du getan hast? Was du mir genommen hast? Was du aus mir gemacht hast?“ Ich wandte mich ab und riss die Decke hoch, um mich darin einzuhüllen.

„Ich habe dich zu nichts gemacht, Angelica. Du bist, was du bist, und du hast genau das getan, was du wolltest. Du hast mich verführt, Angel. Ich war ja kaum bei mir. Verdammt, wenn ich mit dir gemacht hätte, was du mit mir gemacht hast, würdest du jetzt schon ‚Vergewaltigung‘ schreien.“

Ich wandte beschämt das Gesicht ab. Er hatte ja so recht.

„Du wolltest es so sehr wie ich, Angelica. Wir sind beide erwachsen. Warum bist du jetzt so entsetzt?“

„Du bist schuld daran, dass ich es wollte“, flüsterte ich, obwohl ich genau wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ich hatte dieses Verlangen nach ihm seit der ersten Nacht verspürt. Es war der Hauptgrund, warum ich ihn damals genommen hatte, beim ersten Mal. Nicht nur Hunger, sondern Lust. Und schon damals hatte ich mich von ganzem Herzen dagegen gewehrt.

„Ich habe versucht, dich aufzuhalten“, murmelte er, als ich vom Bett aufstand und die Decke mit mir zog. „Aber, Angel, du hast mich dazu getrieben …“

Ich biss die Zähne aufeinander, kämpfte gegen die Tränen und wandte mich von ihm ab.

„Du ekelst dich davor, was du getan hast, richtig?“, fragte er. „Du schämst dich. Ist es nicht so, Angel?“

„Natürlich schäme ich mich!“ Ich schrie es fast hinaus.

„Ja. Ja, natürlich schämst du dich. Du bist abgestoßen. Du hast dich deinen körperlichen Begierden ergeben und mit einem Monster geschlafen. Einem Mann, den du verabscheust, und allein bei dem Gedanken willst du dich übergeben.“

Ich schüttelte verneinend den Kopf. Das hatte er ganz falsch verstanden. Ich hatte schon entschieden, dass er kein Monster war, dass ich mich irrte. Meine eigene laszive Art schockierte mich, stieß mich ab. Nicht er. Gott, ich schämte mich so sehr.

„Komm wieder ins Bett, Angelica“, sagte er sehr leise. „Sieh dich doch an, du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Draußen geht die Sonne auf. Du kannst nicht mehr wach bleiben.“

Aber ich beachtete ihn gar nicht, sondern ging ins Nebenzimmer, wickelte die Decke um mich und ließ mich auf dem Sofa nieder. Meine Glieder fühlten sich schwer an. Mein Gehirn umwölkt und träge. Ich wusste, es dämmerte. Mein Körper spürte den Sonnenaufgang wie jede Nacht, seit man mich in diese Kreatur verwandelt hatte. Eine Kreatur unmoralischer Begierden und unkontrollierbaren Hungers. Eine Kreatur der Sünde.

Er stand an der Tür und sah mich an, auch er wurde schwächer.

„Lass mich in Ruhe, Vampir“, flüsterte ich. „Ich will mich nicht noch mehr besudeln, indem ich in deinen Armen einschlafe.“

Ich sah Wut in seinen Augen aufleuchten. „In den Armen eines Monsters, meinst du? Ich bin so wenig ein Monster wie du, Angelica. Aber wie du willst. Ich fasse dich nicht noch mal an. Hätte ich auch diesmal nicht, wenn ich vom Blutverlust nicht halb im Delirium gewesen wäre. Glaub mir, mich macht die Aussicht auf Sex mit einer Person, die ich verabscheue, so wenig an wie dich.“ Und damit drehte er sich um und kehrte zu dem Bett zurück, das wir vor so kurzer Zeit noch geteilt hatten.

Also verabscheute er mich. Gerade wollte ich ihn davon überzeugen, dass seine Annahmen falsch waren. Dass ich mich meiner sündigen Natur schämte und nicht, weil ich mich ihm hingegeben hatte. Weil ich ihn wollte. Denn wenn ich überhaupt jemanden begehrte, schien es logisch, dass er es sein sollte. Kein anderer Mann hatte jemals solche Gefühle in mir geweckt. Nein, ich schämte mich der Begierde selbst, nicht ihres Objekts.

Gut, dass ich ihm nichts gesagt hatte. Nun wusste ich endgültig, dass er mich verabscheute und missbilligte, wie ich mich auf ihn gestürzt hatte.

Ich schämte mich umso mehr, als ich die verzweifelte Sehnsucht verspürte, zu ihm ins Nebenzimmer zu gehen und seinen nackten Körper wieder an meinem zu spüren. Mich gelüstete immer noch nach ihm. Mehr als vorher. Es schien, als hätten sich unsere Seelen vereinigt. Das Gefühl hatte ich schon einmal gehabt, als ich von ihm trank. Aber jetzt kam es mir gewaltiger und intensiver vor. Sollte ich wieder mit ihm schlafen, würde sich das Band zwischen uns noch festigen. Jedes Mal, wenn ich meinem Verlangen nachgab, würde es mehr Macht über mich bekommen. Und ich könnte ihm immer schwerer widerstehen.

Aber ich musste ihm widerstehen, wenn es noch Hoffnung für meine befleckte Seele geben sollte.

„Komm, zieh dich an. Es ist Nacht.“

Ich erwachte und spürte seine Hand auf der Schulter. Ich stieß ihn weg, genau an der Stelle, wo der Verband war, ehe mir klar wurde, was ich tat; ich schrak zurück, eine unwillkürliche Reaktion.

„Der Tagesschlaf ist regenerativ“, erinnerte er mich. „Er heilt uns.“

Ich setzte mich auf, drückte die Decke an die Brust und betrachtete seine Taille, denn ich rechnete damit, das blutige, klaffende Loch zu sehen. Aber da war nichts. Dann sah ich zu ihm auf. Da stand er in einer frischen Jeans und knöpfte sich langsam das Hemd zu. Die Male meiner Nägel und Zähne waren ebenfalls verschwunden.

„Du siehst“, sagte er, „du hast gar nicht so viel an mich verschwendet. Inzwischen bist du wieder eine Jungfrau.“

„Dreckskerl.“

Seine einzige Reaktion darauf bestand in einem verbitterten Lächeln. Er knöpfte die Ärmel und wandte sich von mir ab. „Du solltest dich anziehen, Angelica. Nicht mehr lange, und wir bekommen Gesellschaft.“

Ich runzelte die Stirn. Er betrachtete meinen Hals und die bloßen Schultern mit einem Blick, in dem dasselbe Verlangen loderte, das ich verspürte. Seine Begierde schmeichelte mir nicht. Ich war mir nur zu sicher, dass er nur meinen Körper begehrte. Er hasste mich. Jameson wandte hastig den Blick ab. „Na los, sie sind schon unterwegs.“

„Wer?“ Ich stand auf und wickelte die Decke um mich. Angst breitete sich kalt und lähmend in mir aus. Aber wenn diese DPI-Leute unser Versteck entdeckt hätten, wäre er sicher nicht so ruhig geblieben.

„Freunde von mir. Monster wie ich.“ Er kam näher und strich mir mit einer spöttischen Geste über das Gesicht. „Sei nicht so nervös, Angel. Sie wollen dir vielleicht an die Kehle, weil du mich einfach zum Sterben liegen gelassen hast, aber das lasse ich nicht zu.“

Und dann wurde unvermittelt die Tür aufgerissen, und ich sah mich einer Frau gegenüber, die ganz bestimmt ihrer aller Herrscherin sein musste. Groß und königlich, mit langem, pechschwarzem Haar, das fast bis zum Boden reichte, und schwarzen Augen, in denen unverhohlener Zorn stand. Ich wich langsam und mit klopfendem Herzen zurück.

„Jameson!“, fauchte sie mit einer tiefen, volltönenden Stimme. „Was veranlasst dich, ihr solche Angst zu machen? Sieh doch nur, sie zittert ja regelrecht.“

Er betrachtete mich und verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. „Sie hat es nicht anders verdient, Rhiannon.“

Eine zweite Frau betrat den Raum, ein zierliches, sanftes Geschöpf mit einem Schopf voller ebenholzfarbener Locken. Sie sah mich lächelnd an und kam zu mir. „Schon gut“, sagte sie leise. „Wir sind Freunde. Wir sind hier, um zu helfen. Ehrlich.“

„Tröste sie nicht zu schnell, Tamara“, sagte Jameson, als noch zwei Männer eintraten, von denen einer ein Cape trug, das bis zum Boden reichte. „Aber ich vernachlässige meine Pflichten. Eric, Roland, Ladies, ich möchte euch gern Angelica vorstellen. Die Vampirin, die mich vor knapp einem Jahr angegriffen und dann sterbend liegen gelassen hat.“

Alle sahen mich an. Dunkle Augen, sondierende geistige Fühler. Ich drehte mich um, floh ins Schlafzimmer und verriegelte die Tür, obwohl ich genau wusste, dass ich sie nicht aufhalten konnte, wenn sie mich holen wollten.

Ich stand da, zitterte, sah zu der geschlossenen Tür und wartete. Und rechnete wahrhaftig damit, dass jeden Moment jemand einbrechen würde. Mein Gott, das waren seine Freunde. Seine Vampirbeschützer. Die sein Leben gerettet hatten, nach meinem Angriff. Die würden mich ganz gewiss töten!

Zitternd suchte ich nach Kleidungsstücken, ohne den Blick von der Tür abzuwenden. Schließlich streifte ich mir eine Art Kleid über den Kopf, schwarzer, gazeartiger Stoff, der meine Schienbeine streifte, und Träger, die sich auf der Brust und im Nacken kreuzten.

Jetzt war wenigstens mein Körper bedeckt. Ich würde nicht nackt sterben.