Keith
5. KAPITEL
Meine Reinigung bestand darin, dass sie mich mit einem Schlauch abspritzten wie ein Tier. Anschließend brachten sie mich wieder in meine Gefängniszelle. Die Männer hoben mich von der Trage und legten mich ohne Rücksicht auf die gerade eben stattgefundene Entbindung in die Kiste, in die ich tagsüber eingesperrt wurde. Die sargähnliche Kiste, deren Deckel sie von außen verriegelten. Die sie immer erst dann öffneten, wenn es ihnen passte.
Als sie mich in dieses Grab betteten, wurde mir allmählich bewusst, dass es gar nicht dämmerte. Es war mitten in der Nacht, der Schlaf würde erst in einigen Stunden über mich kommen. Die Ketten an der Wand schienen mir plötzlich auf jeden Fall besser zu sein als diese Kiste!
„Bitte“, flehte ich die beiden Männer an, die mich in mein Gefängnis legten. „Es ist noch nicht Tag.“ Meine Worte klangen belegt, wie genuschelt. Ich war noch geschwächt von den Medikamenten, die sie mir verabreicht hatten, spürte immer noch die Krämpfe und Nachwehen.
Sie antworteten mir nicht. Legten mich einfach in die Kiste und griffen nach dem Deckel.
„Nein!“ Ich versuchte mich wieder aufzurichten, versuchte es mit allen Kraftreserven, die ich noch besaß. Ich hatte solche Angst davor, in dem winzigen Sarg eingesperrt zu sein. Ich würde es nicht ertragen. Niemals! Es war wohl eine Art von Vorahnung, die diese Panik in mir auslöste, doch was auch immer der Grund sein mochte, sie überwältigte mich, und ich kämpfte.
Doch es nützte nichts. Ein Pfleger, ein klobiger Mann in Weiß, drückte mich nach unten, während ich zappelte und um mich schlug, der zweite legte den Deckel über mich. Ich schrie. Ich heulte und drückte mit all der Wut und all meinen Kräften gegen den schweren, bleiverstärkten Deckel, der mich gefangen hielt – es half nichts. Ich hörte sie draußen arbeiten. Hörte sie Bolzen einschieben, damit der Deckel sich nicht mehr verschieben ließ. Und schließlich wurde es still. Wie gern hätte ich mich ganz klein zusammengekrümmt, aber dafür war kein Platz. Ich konnte nur in der Dunkelheit liegen, die Decke wenige Zentimeter über mir und die Wände so nah, dass ich sie mit den Knöcheln berührte. Ich presste die Hände auf den jetzt wieder flachen Bauch, ohne das Kind, das mir in den vergangenen Monaten so ans Herz gewachsen war, und weinte bittere Tränen, bis ich scheinbar keine mehr in mir hatte.
Die Luft reichte nicht aus. Ich konnte mich nicht bewegen. Die pechschwarze Enge wurde immer erdrückender, und ich spürte, wie sich der enge Raum langsam aufheizte. Mit all meinen Sinnen spürte ich die Gegenwart meines Kindes. Ich wusste, das Mädchen war in der Nähe … Wenig später ließ dieses intensive Gefühl wieder nach. Wie war das möglich, dass ich sie so deutlich wahrnahm? Ich wusste, dass sie nach mir weinte und von jemand anderem getröstet wurde. Ich hatte es gespürt, als sie in eine warme Decke gehüllt wurde und einschlief. Und ich wusste so sicher, wie ich meinen Namen kannte, dass man sie von hier weggebracht hatte. So weit weg, dass meine Verbindung zu ihr abriss. Und ein Meer von Tränen ließ meine Augen überquellen.
Allmählich begriff ich die ganze Wahrheit. Man hatte mich benutzt. Und jetzt war ich entbehrlich geworden. Es bestand kein Grund mehr, mich am Leben zu erhalten. Der Deckel meines Sarges würde sich nie wieder öffnen. Mit dieser Erkenntnis überkam mich eine lähmende Angst.
Wie lange, fragte ich mich, würde es wohl dauern, bis ich starb?
Der weiße Laborkittel und der Mitarbeiterausweis gehörten dem Mann, der nun in der dunkelsten, hintersten Ecke des leeren Zimmers lag. Jameson wusste, es war kein perfekter Plan, aber auch kein ganz schlechter. Er konnte ihre Gedanken lesen. Er wusste, wer misstrauisch wurde und wer ihm seine Geschichte abkaufte. Er zog sich um und ging durch die Flure des vierten Untergeschosses im DPI-Hauptquartier in White Plains. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sich ein Vampir freiwillig hierher wagen könnte. Die Gefangenen sperrten sie im unterirdischen Teil der Anlage ein; je wichtiger der Gefangene, desto tiefer unten fand man ihn. Man war hier praktisch lebendig begraben. Jameson schob einen mit Instrumenten beladenen Rollwagen, trug ein Paar Latexhandschuhe, blieb ab und zu stehen, schlug den Notizblock auf, den er gestohlen hatte, und tat so, als würde er das Gekritzel nachdenklich überfliegen. Alles nur, damit seine Scharade glaubwürdiger wirkte. Einen zweiten weißen Kittel nebst Chirurgenmaske versteckte er in seinem Mantel. Und er wusste anhand der gestohlenen Baupläne, dass es einen Hinterausgang gab, durch den nur die in Gefangenschaft Gestorbenen abtransportiert wurden. Ein Fahrstuhl führte direkt zu diesem Ausgang. Und in dem Raum, wo der Fahrstuhl endete, befand sich ein großer Brennofen. Eine Art von Krematorium.
Er begegnete einer jungen Frau … und wurde langsamer, als er ihren Blick auf sich spürte und merkte, wie sie anerkennend sein Äußeres begutachtete, auf seine Attraktivität ansprach. Er drehte sich zu ihr um und stellte fest, dass sie sich ebenfalls nach ihm umgedreht hatte; sie strich sich mit einer Hand durch das seidige blonde Haar und leckte sich die vollen Lippen. „Pardon, vielleicht können Sie mir helfen“, sagte er. „Ich habe mich ein wenig verirrt.“
Sie lächelte strahlend und hoffte, dass er nach Ende der Schicht mit ihr ausgehen würde. Eine Labortechnikerin, die gerade die Karriereleiter nach oben erklomm, sehr talentiert. Und vollkommen ohne Moral. „Gern“, sagte sie und warf nur einen flüchtigen Blick auf seinen Mitarbeiterpass. Dass er ihn trug, reichte ihr schon aus. Eine wunderschöne Närrin. „Was suchen Sie denn?“
„Die, äh …“ Er sah sich um und tat geheimnistuerisch, da er genau wusste, dass nicht alle hier Zugang zu den geheimsten Informationen hatten. Er warf einen Blick auf ihren Ausweis, sah, dass sie eine der höchsten Sicherheitsfreigaben hatte, und nickte. „Die junge Mutter?“
Die Frau runzelte die Stirn und wurde nun doch ein wenig misstrauisch. Er hörte ihre Gedanken deutlich: Was will er denn von der? Inzwischen ist sie vermutlich sowieso schon tot.
„Ich soll einige Proben entnehmen und die Überreste dann runter zur Forensik bringen“, fügte er hastig hinzu.
„Oh.“ Der misstrauische Gesichtsausdruck verschwand von ihrem hübschen Gesicht. „Eine Etage tiefer, Isolationszelle 516-S.“
„Danke.“
Sie überlegte, ob sie jemanden informieren sollte. Jameson drehte sich abermals um, ließ sein strahlendstes Lachen sehen, achtete jedoch sorgsam darauf, dass er die verräterischen neuen Fangzähne verbarg. „Sagen Sie, um wie viel Uhr haben Sie Feierabend?“
„Mitternacht“, sagte sie zu ihm mit einem triumphierenden Funkeln in den grünen Katzenaugen. „Warum?“
Jameson sah ihr in die Augen und wusste, obwohl er die Gedankenkontrolle noch nie angewendet hatte, wusste, dass er es schaffen konnte, wenn der Sterbliche keinen geistigen Widerstand leistete. Und er spürte keinen Widerstand und keine Angst bei ihr. Er hatte Eric schon dabei zugesehen. Der Trick erforderte Übung, die ihm fehlte. Dennoch sollte es nicht allzu schwierig sein, das Handeln einer einzigen sterblichen Frau zu beeinflussen. Sprich mit keinem über mich. Mit keinem. Keinem.
Laut sagte er: „Wollen wir uns Viertel nach zwölf auf dem Parkplatz treffen? Wir könnten was trinken gehen … oder so.“
Sie nickte eifrig. „Hört sich gut an.“
„Super.“ Er drehte sich um und ging weiter den Flur entlang zu den Fahrstühlen. Jameson begegnete mehreren anderen, aber keiner schien misstrauisch zu werden. Die Frau, die er suchte, wer immer sie sein mochte, war wahrscheinlich tot, das glaubte zumindest die hübsche Technikerin. Aber warum war sie dann noch hier? Und würde er das Kind wie erwartet finden? Er war davon ausgegangen, sie zusammen in einer Zelle zu finden. Jetzt war er nicht mehr so sicher.
Das fünfte Untergeschoss glich einem Kerker. Und es dauerte nur Sekunden, bis Jameson begriff, dass sie hierher die Vampire brachten, für die sie keine Verwendung mehr hatten. Hierher kamen die Untoten, um zu sterben. Ihren zweiten Tod. Den endgültigen. Das Untergeschoss bestand aus Beton, grün gestrichen wie die Leichenhalle eines Krankenhauses. Jede winzige Zelle hatte eine Tür, alle Türen waren versiegelt. Der Gestank des Todes lag schwer in der Luft.
Jameson kam zur Tür mit der korrekten Nummer. Wachen gab es hier keine, für sterbende oder tote Vampire hielt man diese Vorsichtsmaßnahme wohl nicht mehr für nötig. Mit minimaler Kraftanstrengung brach Jameson die Türverriegelung auf.
Er trat ein und hielt den Atem an. Am anderen Ende des gruftähnlichen Raums stand eine Kiste, in Form und Größe einem steinernen Sarkophag nicht unähnlich. Zehn Zentimeter dick. Kein Baby zu sehen, und Gott sei Dank auch kein kleinerer Sarkophag in Babygröße. Mutter und Kind waren also nicht zusammen, so wie er es vermutet hatte. Offensichtlich ein Irrtum. Und wenn die Mutter bereits tot war, konnte sie ihm auch keinen Hinweis darauf geben, wo er das Baby finden könnte. Und selbst wenn sie noch lebte, begriff er niedergeschlagen, wusste sie vielleicht nichts. Dennoch musste er es versuchen.
Jameson kam näher, schob den massiven Deckel aus Stein mühelos beiseite und verzog beim Knirschen das Gesicht. Es klang wie ein Schrei und hallte regelrecht in der winzigen Zelle. Im Inneren stand ein zweiter Sarg aus gewöhnlichem Holz, allerdings spürte er Bleiverstärkungen darin. Dieser Sarg war verriegelt, doch Jameson zerbrach die Riegel wie Zweige und nahm den Deckel herunter.
In der pechschwarzen Finsternis der Zelle waren seine Augen so scharf wie die einer Katze. Da lag sie, reglos und weiß, und die Wangenknochen zeichneten sich spitz unter der blassen Haut ab. Das verfilzte Haar umgab sie wie ein Heiligenschein. Jameson sah bis ins innerste Mark erschüttert auf sie hinab. „Du!“, flüsterte er.
Sie schlug die Augen auf, deren Violett so stumpf wirkte, dass er sie kaum wiedererkannte. „Bitte …“, flüsterte sie, obwohl sie die Worte mit den trockenen Lippen kaum formen konnte. „Mein … Kind …“
Er begriff nicht, weshalb sie sich die Mühe machte und die Worte laut aussprach, wenn es ihr so schwerfiel. Sie hätte ihm doch wesentlich einfacher ihre Gedanken übermitteln können. Sie. Warum zum Teufel musste sie es sein? Welcher Winkelzug des Schicksals war für diese ironische Entwicklung verantwortlich?
„Wo ist das Kind?“, wollte er wissen, packte sie an den Schultern und rüttelte sie wach, als sie wieder eindösen wollte. „Wo?“
Sie öffnete den Mund, brachte aber nur ein leises Stöhnen heraus. Jameson schüttelte sie wieder, sie sah blinzelnd zu ihm auf. „Sie … haben mein Baby … genommen … die haben sie …“
„Wohin, gottverdammt?“
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Zorn in seiner Stimme hörte. Dann blickte sie ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Du lebst“, sagte sie seufzend und betrachtete sein Gesicht.
„Was nicht dein Verdienst ist. Und jetzt, verflucht, wo ist das Kind?“
Sie leckte sich die Lippen und schüttelte den Kopf. „Ich … die haben sie … von hier weggebracht.“
„Sie ist nicht in diesem Gebäude?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Und du hast keine Ahnung, wo sie sich befindet?“
„Nein.“
Jameson fluchte, drehte sich im Kreis und entfernte sich vom Grab der Frau.
„Bitte“, stöhnte sie. „Lass … mich nicht hier zurück.“
Da lachte er, ein leises, verbittertes Lachen, das von den Betonwänden widerhallte, und wandte sich ihr zu. „Ich soll dir helfen? Ich, dein Opfer, der sterbliche Mann, den du ermorden wolltest? Warum sollte ich? Du wolltest mich töten. Du hast mich ausgesaugt und liegen lassen, weil du dachtest, ich wäre tot, und dann bist du freiwillig mit diesen Dreckskerlen gegangen. Es ist deine Schuld, dass die meine Tochter in die Finger bekommen haben, und du verdienst nichts anderes als das, was sie mit dir …“
„Deine … Tochter?“
Jameson verstummte, kam näher und betrachtete die jämmerlich wirkende, aber auf eine besondere Weise immer noch wunderschöne Frau, die zu schwach schien, als dass sie sich allein aufrichten konnte. „Ja“, sagte er leise. „Meine Tochter. Ich war einst Gefangener hier, wie du jetzt. Und die haben dich mit meinem Sperma befruchtet. Sie ist meine kleine Tochter. Und ich finde sie.“
Sie machte die Augen zu und holte gequält Luft. „Ich … kann dir helfen.“
„Wie?“ Er glaubte ihr nicht. Aber, verdammt, er konnte sie nicht einfach hier zurücklassen. Auch wenn er solch unermesslichen Groll gegen sie hegte, er würde sie nicht so sterben lassen. Aber sie schien das wohl zu glauben und versuchte offenbar, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Griff nach Strohhalmen. Log vermutlich.
„Ich …“ Sie hielt sich an den Rändern des Sargs fest und versuchte sich aufzurichten. Und Jameson bewegte automatisch die Hände. Er vergaß mit einem Mal alles, was vorgefallen war, schob ihr die Hände unter den Rücken, verzog das Gesicht, so dünn war sie, und half ihr. Sie musste sich am Holz festhalten, damit sie in der sitzenden Haltung blieb, und ihr Kopf kippte nach vorn, als wäre es schon zu anstrengend, ihn aufrecht zu halten. „Bitte … hol mich wenigstens aus dieser Kiste heraus.“
Angst war in ihren Augen zu lesen, als sie den Kopf ganz kurz hob, sich umsah und feststellte, dass sich ihr Sarg in einem noch größeren aus Stein befand. „Sie sind Monster“, flüsterte sie.
„Ah, hast du das auch schon gemerkt, ja?“ Jameson hob ihren federleichten Körper hoch und aus dem Sarg. Aber als er sie zu Boden ließ, versagten ihre Beine den Dienst. Angelica sackte gegen ihn, und nur seine rasche Reaktion verhinderte, dass sie zu Boden fiel.
Er hielt sie fest. Und dabei kamen wieder unangenehme Erinnerungen in ihm hoch. Erinnerungen daran, wie er sie das letzte Mal so gehalten hatte, ihr Gesicht an seinem Hals. An das Verlangen, das ihn übermannte, als sie den Mund auf seine Haut presste. Wie sehr er sie in dem Moment begehrte. Damals war sie verzweifelt gewesen. Am Verhungern. Das traf jetzt vermutlich in noch viel höherem Maße zu. Er wartete nervös und verkrampft und ließ die Arme um ihre Taille geschlungen, damit sie nicht fiel. Sie drückte sich mit dem ganzen Körper fest an ihn. Und er spürte ihre Lippen an der weichen Haut seines Halses, hörte sie leise stöhnen.
Dann wandte sie sich von seinem Hals ab und legte den Kopf an seine Schulter.
Natürlich. Sie würde nicht versuchen, einen anderen Vampir zu überwältigen. Schon gar nicht in ihrem geschwächten Zustand. Das war der Grund, eindeutig.
„Sag mir“, forderte er sie auf, „wie du mir helfen willst, das Kind zu finden.“
„Mein Kind“, flüsterte sie, ohne sich zu bewegen. „Es … es existiert ein Band zwischen meinem Baby und mir. Ich spürte es … schon vor der Geburt. Ich wusste, wie … sie aussehen würde.“ Sie sackte in sich zusammen, entglitt ihm fast, er musste sie noch fester und enger an sich drücken. „Ich wusste, dass es ein Mädchen wird … ich habe mit ihr gesprochen … und sie hörte mich, ich weiß es.“ Ihre Stimme klang schwach. Nur ein Flüstern, und es kostete sie offenkundig enorme Anstrengung zu sprechen.
„Natürlich“, sagte Jameson, der kein Wort glaubte.
Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen. „Ich fühlte, was sie fühlte. Ich wusste, dass sie hier war, und ich spürte den Moment, als sie sie … wegbrachten.“ Ihr Kopf sank wieder an seine Schulter, und da wusste er, dass sie ihn nicht mehr aufrecht halten konnte. Sie war dem Tode nahe. „Ich weiß bestimmt, wenn wir in ihrer Nähe sind. Ich schwöre es bei Jesus Christus.“
Jameson hob ihr Kinn leicht an, sah ihr in die Augen, wurde unsicher, ob sie vielleicht doch die Wahrheit sagte, und bemerkte fassungslos das Ausmaß der Qual in den lila Tiefen. Dann sondierte er ihren Verstand, obwohl er nicht glaubte, dass er viel darin finden würde, besonders wenn sie log. Sie wäre schlau genug, ihre Gedanken abzuschirmen, wenn sie ihn zum Narren halten wollte. Doch zu seiner großen Überraschung war ihr Geist vollkommen ungeschützt. Sie öffnete sich ihm ganz und gar.
Er muss mich hier wegbringen! Ja, er ist ein Monster … ein grässliches Monster, wie der andere … aber selbst ein Monster ist besser, als hier zu sterben. Ich laufe ihm weg. Ich fliehe, sobald ich diese Mauern hinter mir gelassen habe. Und dann suche ich mein Kind mit diesem seelischen Band selbst. Ich nehme sie ihnen weg … und ihm. Seinesgleichen werden sie nie zu Gesicht bekommen. Ich beschütze sie vor allem. Und wenn ich mich von den Unschuldigen ernähren muss, so sei es!
Jameson legte den Kopf schief und sah den flüchtigen, rebellischen Zorn in ihren Augen. Dessen Macht schockierte ihn. Hungrig. Sie war so hungrig. Und sie hielt ihn für ein abscheuliches Monster. Seltsam, wenn Vampire Monster sind, dachte er, muss ihr doch klar sein, dass sie auch eins ist.
Sie hasste ihn. Hasste, was er war. Hasste jeden ihres eigenen Volkes. Sie war eine verräterische, mordlüsterne Kreatur. Und sie wollte ihm sein Kind wegnehmen.
Aber das Band mit dem Baby schien real zu sein. Und er brauchte sie, wenn er seine Tochter retten wollte. Um alles andere würde er sich später kümmern.
„Komm“, sagte er und wandte sich zur Tür. „Machen wir, dass wir hier rauskommen.“
Sie ging einen Schritt und fiel zu Boden. Jameson wusste ganz genau, was er tun musste. Es gefiel ihm nicht, war aber nicht zu ändern. Er konnte sie nicht hier raustragen und riskieren, dass sie gesehen wurden. Sie musste dieselbe Verkleidung tragen wie er und eigenständig hinausgehen. Und in ihrem geschwächten Zustand konnte sie das nicht.
Er ging in die Hocke, nahm sie in die Arme, hielt sie wie ein Kind, und dann drehte er ihr Gesicht an seinen Hals, hielt ihren Hinterkopf mit einer Hand und stützte sie. Teilte sein Blut mit einem anderen Vampir … obwohl man ihn vor dem Band gewarnt hatte, das dabei entstehen konnte. Dem Verlangen, das vielleicht geweckt wurde. Der Sehnsucht, die sich in seiner Seele einnisten würde wie eine Sucht. Aber daran ließ sich nichts ändern. Er musste es für seine Tochter tun.
Sie wandte das Gesicht ab.
„Du weißt so gut wie ich, was notwendig ist. Tu es.“
„Ich kann nicht“, flüsterte sie. Schimmerten da Tränen auf ihren Wangen?
„Tu es, verdammt!“ Und er drehte sie wieder zu sich und presste ihr Gesicht fest an seinen Hals.
Sie öffnete den Mund, bohrte die Eckzähne tief in sein Fleisch, und Jameson holte tief und erschauernd Luft. Er spürte die Bewegungen ihres Mundes, anfangs zaghaft, dann schneller und fester, als der Blutrausch über sie kam. Er spürte jede Bewegung ihrer Lippen, jeden Schlag der gierigen kleinen Zunge. Und Lust strömte durch ihn. Schwächte ihn. Er erschauerte, sank auf die Knie und drückte sie dennoch immer weiter an sich. Sein Herz schlug schneller, der Atem wurde hektisch und flach. Sicher, Roland hatte ihn gewarnt, wie dicht Blutrausch und sexuelle Lust bei seiner Art zusammenlagen. Wie beide miteinander verschmolzen, bis man sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Aber dies war tausendmal stärker als alles, was er vorher erlebt hatte. Und er hatte es sich niemals so vorgestellt. Nicht so. Nicht diesen Drang, sie noch näher an sich zu ziehen. Mit ihr anzustellen, was sie mit ihm anstellte. Sie zu nehmen, auf jede erdenkliche Weise, die er kannte, bis, bis …
Sie hob den Kopf, blinzelte und sah benommen drein. Er hatte ihr nicht sagen müssen, dass sie aufhören sollte. Das hatte sie von ganz allein getan. Und in ihren Augen stand deutlich geschrieben, dass sie dasselbe Verlangen verspürt hatte wie er.
Wie er … noch immer?
Er schluckte heftig, stand auf, ließ sie zu Boden sinken, obwohl sie immer noch vor Hunger zitterte. Ihr Gesicht war nicht mehr kreidebleich, es nahm allmählich eine gesündere Farbe an. Ein Leuchten kam in ihre Augen, mit jeder Sekunde, die er hineinsah, wurde es intensiver. Ihr stumpfes Haar bekam neuen Glanz, die hohlen Wangen wurden vor seinen Augen voller.
Herrgott, sie war so schön.
Er verdrängte den Gedanken. Dafür war keine Zeit. Nicht jetzt.
„Ich … fühle mich stärker“, flüsterte sie, aber der Schock des Verlangens, das sie miteinander verband, stand ihr noch deutlich ins Gesicht geschrieben. „Danke.“ Sie war bestürzt. Sie hatte keine Ahnung, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, und war immer noch vollkommen schockiert über die Gefühle, die momentan in ihr tobten.
Er sah sie an, nickte und holte den zweiten Laborkittel heraus, den er mitgebracht hatte. Er hielt ihn, damit sie hineinschlüpfen konnte; sie drehte sich um, schwankte, wäre beinahe gefallen, erlangte jedoch das Gleichgewicht wieder und schob die Arme in die Ärmel. Jetzt machte nicht die Unterernährung sie schwach, sondern Begierde. Und das stieß sie ab. Jameson sah ihr einen Moment zu, wie sie sich an den Knöpfen zu schaffen machte, dann verlor er die Geduld, bückte sich, knöpfte sie selbst zu, bis das dünne weiße Nachthemd, das sie als einziges Kleidungsstück trug, nicht mehr zu sehen war.
Danach nahm er die Chirurgenmaske und die Papierhaube zur Hand, ein unförmiges Ding mit Gummiband. Rasch und zielstrebig band er ihr langes, verfilztes Haar zu einem Knoten, zog die Haube darüber und schob vereinzelte Strähnen hinein.
„Das muss genügen“, sagte er, trat zurück, betrachtete sie und registrierte die leuchtenden Augen. „Komm.“ Er nahm wieder ihre Hand, zog sie aus der Kammer in den Flur. Sie fürchtete sich vor ihm, das war ihr deutlich anzumerken. Er hatte es von Anfang an gespürt. Kein Wunder. Sicherlich rechnete sie mit einer Art „Vergeltung“. Aber momentan fürchtete sie die anderen, die sich hier aufhielten, noch mehr. Ihre Augen waren groß vor Angst, sie zitterte.
Aus einem ihm selbst unerklärlichen Grund drückte er ihre Hand. Vielleicht, um ihr die Angst zu nehmen. Die Hand war kalt und zitterte. Sie zog sie nicht weg. „Ich kenne deinen Namen nicht“, sagte er. „Sonderbar, nicht? Wir haben ein Kind zusammen und wissen gar nichts voneinander.“
„Ich bin Angelica“, flüsterte sie.
Angelica. Angel. Engel, dachte er. Ein dunkler, furchtsamer, einsamer Engel. Dummer Gedanke. Sie war kein Engel.
„Ich bin Jameson.“
Sie erreichten den Fahrstuhl zum Krematorium. Um diese nächtliche Stunde sollte sich dort eigentlich niemand aufhalten. Das DPI riskierte ganz sicher nicht, dass eins ihrer Opfer erwachte – durch die Nacht belebt –, wenn sie es in den Ofen schoben, und sich auf die Angestellten stürzte. Sie traten ein, die Tür glitt hinter ihnen zu. „Was ist dir zugestoßen?“, fragte er, als sich die Kabine in Bewegung setzte. „Wieso warst du halb verhungert in diesem leer stehenden Gebäude?“
Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam. „Ich war wahnsinnig. Nicht bei Sinnen in jener Nacht.“
Die Kabine kam plötzlich ruckartig zum Stillstand. Angelica wurde gegen ihn geschleudert, er nahm sie, ohne nachzudenken, in die Arme.
„Mir tut leid, was ich dir angetan habe“, flüsterte sie. „Durch meine Schuld bist du jetzt …“
„Was, Angelica? Ein Monster? Dafür hältst du mich doch, oder nicht?“
Sie blickte zu ihm hoch, sah ihn fragend an, als die Türen aufgingen. Ja, jetzt musste sie wissen, dass er ihre Gedanken lesen konnte.
„Und damit du’s weißt, dein Plan, wegzulaufen, wenn wir draußen sind, wird so nicht funktionieren.“
„Was?“
Er nahm ihren Arm, führte sie aus dem Fahrstuhl und zum Ausgang hinaus. Draußen hielten sich Wachen auf, aber er blieb dicht in den Schatten und nutzte Bäume und Sträucher als Deckung. Hinter einem machte er halt, außer Hörweite der Wachen, und wandte sich ihr wieder zu. „Dein Erzeuger hätte dich besser unterweisen sollen, Angelica. Vampire können Gedanken lesen. Wie ich damals deine gelesen habe. Selbst ein ganz junger Vampir sollte seine Gedanken abschirmen lernen. Du läufst nicht weg, wenn wir hier raus sind. Du wirst mein Kind nicht suchen und an einen Ort bringen, wo ich es nie zu Gesicht bekomme. Das lasse ich nicht zu.“
„Du kannst mich nicht aufhalten“, flüsterte sie. „Ich finde sie. Ich habe eine Verbindung zu meiner Kleinen, du nicht.“
„Und darum“, sagte Jameson, als die Wachen in der Ferne sich umdrehten und er weiterging, ihren Arm immer noch fest im Griff, „habe ich beschlossen, dass du bei mir bleibst. An meiner Seite, Angelica, bis wir unsere Tochter gefunden haben. Als meine Gefangene, wenn es sein muss.“
„Nein.“
„Doch“, sagte er und zerrte sie hastig über eine freie Fläche, ehe die Wachen sich wieder umdrehten. „Aber keine Bange. Ich bin nicht annähernd so ein Monster, wie du aus unerfindlichen Gründen zu glauben scheinst.“
Ich ging mit ihm, weil ich keine andere Wahl hatte. Ich war immer noch schwach und hilflos und er offensichtlich sehr viel stärker als ich. Ich wusste nichts von meinen eigenen Fähigkeiten. Von meinen Kräften und meiner Macht, von den übermenschlichen neuen Sinnen. Ich wusste nur, dass ich im Handumdrehen sterben würde, wenn ich mit Feuer in Berührung kam wie mein Erzeuger. Und dass Hunger mich schwächte und so gut wie handlungsunfähig machte. Ich ging davon aus, dass ich auch daran sterben konnte, aber mit Sicherheit wusste ich das natürlich nicht.
Darum folgte ich diesem Fremden. Diesem Vampir. Diesem Jameson, der sich als Vater meines Kindes ausgab. Ich ging mit ihm in der festen Überzeugung, dass ich vom Regen in die Traufe geraten war, und schwor mir insgeheim, dass ich fliehen würde, wenn ich wieder zu Kräften kam. Wenn er meine Gedanken lesen konnte, nur zu. Ich würde trotzdem bei erster sich bietender Gelegenheit weglaufen, so schnell und weit ich konnte.
Ich fürchtete mich vor ihm. Als ich seine Haut mit dem Mund berührte, kam eine Wildheit über mich. Ein Wahnsinn, der mir viel intensiver schien als bei unserer ersten Begegnung. Eine Leidenschaft, die wie die Hölle selbst brannte und mich gleichzeitig schwächte. Ich schämte mich für die Gefühle, die ich trotz meiner Angst für diesen Mann empfand. Und noch mehr Angst machte mir die Erkenntnis, dass er ebenso von mir angezogen wurde.
Ich musste ihm entkommen.
Doch zunächst musste ich zu Kräften kommen und meine neuen Fähigkeiten kennenlernen. Sie würden mir helfen, meine Tochter zu retten und sie vor diesen Tieren zu schützen, die sie gefangen hielten.
Jameson war jung, sicher nicht viel älter als dreißig. Als ich ihn kennenlernte, war er ein Mensch gewesen. Das stand fest. Kein Vampir hätte zugelassen, dass ich das tat, was ich Jameson angetan hatte. Und er war kräftig. Breitschultrig und sehr groß. Dennoch würde ich ihm entkommen. Wenn wir diese Anlage verlassen hatten, würde ich fliehen. Ich musste es – für meine Tochter. Und für mich.
Er führte mich zu dem hohen Maschendrahtzaun, der elektrisch gesichert war und dieses Gefängnis umgab. Als ich daran hinaufsah, sank meine Hoffnung auf eine Flucht drastisch. „Was jetzt?“, flüsterte ich und sah ihn an.
Meine Frage schien ihn zu verwirren. Er nahm mir einfach die Haube ab, zog mir die Maske vom Gesicht und warf sie achtlos zu Boden. „Jetzt“, sagte er, „springen wir rüber.“
Sollte das ein Witz sein? War er tatsächlich zu dieser Stunde zu Späßen aufgelegt? Ich sah zum Zaun, dann wieder zu ihm und schüttelte langsam den Kopf. „Das ist unmöglich.“
„Du hast keine Ahnung, wie stark du bist, was?“
Natürlich nicht. Aber mir schien, als wäre es ein schwerer Fehler, das vor ihm zuzugeben.
„Wie lange ist es her, seit du verwandelt worden bist, Angelica?“
Ich zuckte mit den Schultern, wandte mich wieder dem Zaun zu und ignorierte seine Frage einfach.
„Leg mir den Arm um die Schultern“, forderte er mich auf, und ich gehorchte, obwohl ich immer noch zweifelte. Er legte mir den kräftigen Arm um die Taille und drückte mit den Fingern gegen meinen Bauch, als er mich fest an seine Seite zog. Das Verlangen nach ihm stellte sich schlagartig wieder ein. Was war das für ein Wahnsinn?
Dann winkelte er die Knie an und zog mich mit sich nach unten. „Jetzt … spring!“
Er stieß sich ab und ich ebenfalls, obwohl ich beinahe lachen musste, so komisch kam ich mir vor. Ich rechnete damit, dass wir vielleicht vierzig, fünfzig Zentimeter hochspringen und dann wieder an derselben Stelle landen würden, wo wir gestanden hatten. Darum war ich vollkommen unvorbereitet auf den Flug, der mir bevorstand. Wir schossen wie zwei Raketen in den Nachthimmel. Der Maschendraht sauste verschwommen an mir vorbei, dann befanden wir uns ein gutes Stück darüber. Mein Haar wehte nach oben, der Nachtwind rauschte mir in den Ohren. Ich blickte nach unten, sah den Boden mit atemberaubender Geschwindigkeit auf uns zukommen, klammerte mich an Jameson fest und konnte vor Angst nicht mehr nach unten sehen. Er legte seinen freien Arm um mich und drückte mich wie ein Kind. Wir stürzten ab, und ich fürchtete, dass ich mir bei der Landung die schlimmsten Verletzungen zuziehen würde.
Stattdessen landete ich mit den Füßen auf dem Boden und beugte die Knie. Mein Körper federte den Aufprall ohne Schmerzen ab. Ich stolperte, fiel auf die Kehrseite und musste dabei Jameson loslassen, was mich zu gleichen Teilen mit Erleichterung und Enttäuschung erfüllte. Ich erinnere mich, wie ungeschickt ich mich fühlte, als ich sah, wie anmutig er landete, in die Hocke ging und wieder hochsprang, ohne auch nur einmal zu wanken. Und dann drehte er sich zu mir um, streckte die Arme nach mir aus, zog mich auf die Füße.
Ich sah fassungslos zu dem Zaun, den wir gerade so mühelos überwunden hatten. Ich konnte es nicht glauben …
„Du hattest keine Ahnung, Angelica, oder?“
Benommen schüttelte ich den Kopf.
„Wer hat dich verwandelt?“, fragte er und sah mir fragend ins Gesicht. „Was für ein Vampir würde dich verwandeln und dann im Stich lassen?“
Trotzig blickte ich ihm in die dunklen Augen. „Du fragst Sachen, die dich nichts angehen.“
Er blinzelte, nickte aber schließlich und wartete nicht mehr auf eine Antwort. Offenbar wurde ihm klar, dass er keine bekam. Er nahm meinen Arm und führte mich auf dem Parkplatz zu einem kleinen schwarzen Sportwagen, der dort wie ein Dieb in der Nacht zu warten schien. In den Schatten konnte man ihn fast nicht erkennen.
Er öffnete die Tür, ich sank auf den Beifahrersitz, der mir so tief vorkam, als säße ich direkt auf der Straße. Dann schlug er die Tür zu, entfernte sich, stieg auf der anderen Seite ein und setzte sich ans Steuer. Er ließ den Motor an, und wir fuhren tatsächlich unbemerkt davon. Und als der Ort, der um ein Haar zur tödlichen Falle für mich geworden wäre, schließlich hinter uns lag, wandte ich mich an Jameson. „Wie wollen wir unser Kind finden?“, flüsterte ich. „Wo fangen wir an?“
Unsere Blicke trafen sich, seine Augen schienen im orangeroten Licht des Armaturenbretts zu brennen. „Wir fangen damit an, dass wir herausfinden, welcher von ihnen etwas über unsere Tochter weiß“, sagte er. Ich sah den Hass auf meine einstigen Häscher – seine einstigen Häscher, wenn seine Geschichte stimmte – in seinen Augen lodern. Sah ihn zum ersten Mal. Ich kannte diesen Hass nur zu gut, denn ich verspürte ihn auch. „Und dann schnappen wir sie uns. Wir verhören sie, einen nach dem anderen, bis wir die Antworten haben, die wir brauchen.“
„Die werden uns nie und nimmer etwas verraten“, sagte ich, schüttelte den Kopf und verlor schon wieder die Hoffnung.
„Sie werden“, antwortete er und sah starr auf die Straße. „Wenn sie überleben wollen.“