Keith
4. KAPITEL
Sie brachten mich in ein großes Gebäude und dort mit dem Fahrstuhl in einen sterilen weißen Raum mit einem Bett und einem Stuhl. Fragen drängten sich mir auf, als ich ihn betrat. Wie konnten sie mir helfen? Worum handelte es sich bei dieser experimentellen Methode, mit der sie wieder einen Menschen aus mir machen konnten?
Gerade als ich fragen wollte, wurde eine solide Stahltür vor mir zugeschlagen. Kein Fenster in der Tür, dafür jede Menge Schlösser. Als ich die Schlösser einrasten hörte, erfüllte mich ein Gefühl des Grauens. Ich ging zur Tür und drückte dagegen, doch sie gab keinen Millimeter nach. Dabei hätte sie nachgeben müssen, auf jeden Fall. Ich war stark, stärker als alle Schlösser, die sie herstellen konnten. Das wusste ich.
Dann fiel mir ein, dass der Mann, der mich hierherbrachte, mir etwas gespritzt hatte. Ein Medikament, sagte er, um meinen Körper auf den Schock vorzubereiten, wieder sterblich zu werden. Diese Spritze musste mir meine Kraft geraubt haben. Und jetzt war ich hier, in diesem Zimmer eingesperrt. In jeder Hinsicht eine Gefangene. Und ich dachte an die Stimme meines wunderschönen Opfers, die mir sagte, dass ich ihnen nicht vertrauen sollte. Dass ich nicht mit dem Fremden gehen dürfte.
Oh Gott, hatte ich einen schrecklichen Fehler gemacht?
Ich ging die ganze erste Nacht, die mir endlos vorkam, in dem Zimmer auf und ab. Und dann ging die Tür schließlich auf und eine freundliche weißhaarige Dame mit zierlicher Statur sah mich lächelnd an.
„Hallo“, begrüßte sie mich. „Mein Name ist Dr. Rose Sversky. Ich kümmere mich um Sie, solange Sie hier sind.“
Sie kümmert sich um mich. Diese reizende alte Dame. Ich wäre vor Erleichterung fast zusammengebrochen. Also hatte ich doch keinen Fehler gemacht. Hier würden sie mir wirklich helfen.
„Warum werde ich so eingesperrt?“, fragte ich. „Das macht mir Angst.“
„Oh, Liebes, das hätte man Ihnen wirklich erklären sollen.“ Dr. Sversky trat ein und schloss die Tür hinter sich. „Es sind noch andere hier. Andere wie Sie. Leute, denen wir nur helfen möchten.“ Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Aber manche … na ja, die können recht monströs sein, müssen Sie wissen. Die greifen jeden an, sogar von ihrer eigenen Art.“
Das glaubte ich aufs Wort. Ich selbst war einem zum Opfer gefallen und zweifelte nicht daran, dass sich alle ähnlich bestialisch aufführen würden. So grässlich, wie ich als eine von ihnen bereits geworden war.
„Die Schlösser dienen dazu, die anderen auszusperren, Liebes, und nicht Sie ein. Sie sind zu Ihrem Schutz da. Das hätte Ihnen jemand sagen müssen.“
Ich verlieh meiner Erleichterung mit einem Stoßseufzer Ausdruck.
„Wenn Sie sich jetzt bitte auf den Tisch legen würden“, sagte sie und lächelte mir aufmunternd zu. „Dann kann ich damit anfangen, wieder einen Menschen aus Ihnen zu machen.“
Ich gehorchte eilfertig. Die Frau betrachtete meine schmutzige Tracht, schüttelte den Kopf und nahm eine Spritze aus der Tasche.
„Wie lange muss ich hierbleiben?“, fragte ich.
„Also, ehrlich gesagt könnten es Wochen sein. Der Vorgang besteht aus mehreren Schritten, wissen Sie. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wir kümmern uns hier besser um Sie als Ihre eigene Mutter. Sie werden schon sehen.“ Sie stieß mir die Nadel in die Armbeuge, binnen Sekunden wurde meine Welt dunkel und verschwommen. Ich verlor das Bewusstsein.
Als ich erwachte, trug ich weiße Krankenhauskleidung. Man hatte mich gebadet, mir das Haar gewaschen und gebürstet. Ich kam mir seltsam vergewaltigt vor. Und ich fragte mich, was die reizende alte Ärztin mit mir angestellt haben mochte, doch das konnte ich unmöglich feststellen.
Schließlich wurde die Tür wieder geöffnet, ein kräftiger junger Mann kam herein, reichte mir ein Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit und ging ohne ein Wort wieder. Ohne ein einziges Wort. Als wäre ich ein lebloser Gegenstand oder ein Tier, das gefüttert werden musste. Ich trank die kalte, abgestandene Nahrung, die er brachte, doch es war nicht zu vergleichen mit der belebenden Wärme des Blutes Lebender. Ich dachte an den Hals, das Blut des schönen jungen Mannes, der mir angeboten hatte, mir zu helfen.
Aber ich wollte diese Wärme ja gar nicht. Ich wollte keine Unschuldigen jagen. Ich wollte wieder eine Sterbliche sein, mein altes Leben führen. Und so trank ich und betete, dass ich nicht allzu lange an diesem ungastlichen Ort bleiben müsste.
Hilary Garner hörte sich Rose Sverskys Bericht an und versuchte, einen klinischen, unbeteiligten Gesichtsausdruck zu wahren. Sie war nicht sicher, ob ihr das gelang, aber sie versuchte es.
„Wir konnten dem Subjekt erfolgreich eine Eizelle entnehmen. Nur eine. Die Implantation muss fehlerfrei über die Bühne gehen, und wenn nicht, glaube ich nicht, dass wir einen zweiten Versuch haben. Möglicherweise brauchen wir noch ein oder zwei Subjekte, bis wir Erfolg haben.“
Fuller nickte und ließ den Blick seiner zusammengekniffenen Augen so oft über Hilary schweifen, als suchte er nach etwas. Einem Fehler. Sie wahrte ihre maskenhafte Miene stoisch. Diesem Mann würde sie nichts zeigen. Schließlich blieb ihr gar nichts anderes übrig.
„Setzen Sie die Implantation für heute Nacht an“, sagte er. „Bringen wir das Experiment endlich auf den Weg. Wie geht es dem Subjekt?“
Rose lächelte ihr Großmutterlächeln. „Ironie erstaunt mich immer, Mr Fuller, aber in diesem Fall ist sie geradezu überwältigend. Das Subjekt ist Jungfrau.“
Fuller hob erstaunt die Brauen. „Sie scherzen.“
„Nein. Abgesehen von diesem seltsamen Umstand ist sie uneingeschränkt kooperativ. Sie glaubt immer noch, dass sie wieder eine Sterbliche wird. Die macht uns ganz bestimmt keinen Ärger.“
„Werden Sie nicht zu sorglos, Sversky. Sie dürfte uns eine Menge Ärger machen, wenn sie die Schwangerschaft bemerkt. Und früher oder später dürfte sie das merken.“
„Ja, jedenfalls wenn die Implantation erfolgreich verläuft.“
Fuller nickte. „Am besten bereiten Sie eine der Hochsicherheitszellen für sie vor. Wenn sie es herausgefunden hat, dürfte sie bei jedem weiteren Schritt Widerstand leisten.“ Er schüttelte den Kopf. „Eine jungfräuliche Geburt, verdammt. War sie vor ihrer Verwandlung nicht Nonne oder so?“
„Etwas in der Art“, sagte Sversky kichernd.
„Hören die Wunder denn niemals auf?“, fragte Fuller. Er lehnte sich im Sessel zurück und stopfte seine Pfeife.
Ich hatte das Gefühl, langsam durchzudrehen. Vollkommen verrückt wäre der treffendere Ausdruck dafür. Ich hatte keine Bücher. Kein Fernsehen. Kein Radio. Ich durfte jeden Abend duschen und bekam mein Essen von zurückhaltenden, sogar respektvollen Individuen in weißer Kleidung. Aus Gläsern, nicht von warmen Körpern ernährte ich mich. Und die Nahrung schien verwässert. Dünn und kalt und, so vermutete ich allmählich, mit einer Art Beruhigungsmittel versetzt. Seit ich mich hier befand, verspürte ich keine Spur der Vampirkräfte mehr, die ich davor besessen hatte.
Ich hätte es wohl wissen müssen. Ich hätte die Zeichen erkennen sollen. Die kaum verhohlene Abscheu in den Augen der Pfleger. Die Blicke, die sie wechselten. Protestierte ich einmal, um meine Situation zu verbessern, sagte man mir, dass sie mir nur helfen könnten, wieder sterblich zu werden, wenn ich uneingeschränkt mit ihnen kooperierte. Also kooperierte ich.
Ich war ja so töricht. So unglaublich töricht.
Ich hatte keine Ahnung, warum sie mir das alles antaten. Nicht die geringste Ahnung. In meinen wildesten Träumen fiel mir kein Grund dafür ein. Aber bald ließ es sich nicht mehr übersehen.
Monate vergingen, bis ich begriff, was vor sich ging. Es wirklich begriff. Mein Bauch wurde dick, und nicht nur das. Ich spürte Lebenskraft in mir. Ich fühlte es. Ein eigenständiges Leben. Es lebte und wuchs in mir. Ich war, begriff ich fassungslos, schwanger geworden.
Und als mir das klar wurde, hämmerte ich schreiend und kreischend gegen die Zellentür. Aber ich bekam keine einzige Erklärung dafür. Niemand wagte sich in meine Nähe.
Ich sank erst zu Boden, wenn der Tag anbrach und ich unendlich müde wurde.
Einmal wachte ich in einer dunklen, sargähnlichen Kiste auf. Panik überkam mich, ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Deckel und schrie, bis ich heiser war.
Schließlich wurde der Deckel gehoben. Ich floh aus meinem Gefängnis, aber drei kräftige Männer packten mich. Ich trat um mich und kreischte. Ich fragte sie, flehte sie an, mir zu sagen, was sie mir angetan hatten, welche Absichten sie verfolgten. Doch es nützte nichts. Sie injizierten mir die bekannte Droge, versetzten mich wieder in den jämmerlich geschwächten Zustand, in dem ich mich die ganze Zeit befand, und dann ließen sie mich los. Ich glitt zu Boden, inspizierte dann mit schweren Lidern misstrauisch den Raum, in dem ich mich befand.
Die sterilen weißen Wände waren verschwunden. Ich saß in einer kerkerartigen Zelle fast ohne Licht. Einer der Männer hob mich hoch und schubste mich zur hinteren Wand, während mir ein anderer Hand-und Fußfesseln anlegte. Ich war angekettet, an die kalte Wand aus Stein hinter mir gekettet.
Ein Glas der abscheulichen Flüssigkeit wurde mir in die Hand gedrückt. Die Ketten waren gerade lang genug, dass ich trinken konnte. Aber ich trank nicht. Ich sah das Glas an und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ich hob trotzig den Kopf. „Ich trinke nicht. Lieber sterbe ich, als weiter in diesem Gefängnis zu leben! Lassen Sie mich gehen. Ich verlange, dass Sie mich gehen lassen!“
Einer der Männer schüttelte kichernd den Kopf. „Wenn Sie keine Nahrung zu sich nehmen, verlieren Sie Ihr Baby. Sie wollen doch nicht Ihr eigenes Baby umbringen, oder?“
Ich schluckte. Tränen schossen mir in die Augen, sodass die Männer vor mir verschwammen. Das konnte ich nicht, ich konnte mein eigenes Kind nicht verhungern lassen, und das wussten sie. Sie wussten es.
Oh Gott, was hatte ich getan? Was hatte ich getan, dass ich diese Hölle verdiente? Erst ab diesem Zeitpunkt wurde mir in vollem Umfang bewusst, was für einen schweren Fehler ich begangen hatte. Ich hatte mich freiwillig, sogar bereitwillig zu ihrer Gefangenen gemacht. Ihrem Versuchskaninchen. Für sie war ich nur ein Tier. Eine Laborratte, und sie behandelten mich auch wie eine.
Ich trank, und so überlebte ich. Lebte von ihrer Drogenflüssigkeit, die mich so schwächte, dass ich weder meine Ketten zerreißen noch mich gegen meine Häscher wehren konnte. Jede Nacht blieb ich an der Zellenwand angekettet. Tagsüber war es aber noch schlimmer. Bei Dämmerung, wenn die Müdigkeit mich überkam, nahmen meine schändlichen Aufseher mich von der Wand und sperrten mich in diese sargähnliche Kiste. Oft brach die Dämmerung bereits an, und ich erwachte darin. Ich krallte und hämmerte und schrie – und hörte sie lachen, wenn sie vorbeigingen, doch sie ließen mich erst heraus, wenn es ihnen gefiel. Offenbar genossen sie meine Panik.
Sie versuchten nicht mehr, die Abscheu in ihren Augen zu verbergen. Man behandelte mich wie ein Tier. Nur wegen des Kindes in mir versorgten sie mich weiterhin mit Nahrung und Wärme und sanitären Notwendigkeiten. Nur wegen des Kindes. Das wusste ich. Und ich erkannte mit wachsendem Entsetzen, dass ich keinerlei Einfluss darauf haben würde, was mit meinem Kind geschah, wenn es erst einmal zur Welt gekommen war.
Aber in diesen langen Monaten meiner Gefangenschaft erfuhr ich noch etwas anderes. In diesen langen Monaten der Einsamkeit, wie ich sie noch niemals erlebt hatte. Während das Kind in meinem Bauch heranwuchs, ich spürte, wie es lebte und sich schließlich auch bewegte, begann ich, mit ihm zu reden. Schlang die Arme um meinen aufgeblähten Bauch und streichelte es. Sang ihm sogar etwas vor. Meine Stimme hatte eine übernatürliche Kraft und Reinheit bekommen, die mich selbst überraschte. Ich hatte immer gern gesungen, aber nun hatte ich sogar Freude daran. Mein Gesang war tatsächlich fast engelsgleich. Und im Lauf der Zeit wurde mir klar, dass ich das Baby in mir liebte. Sie – aus unerfindlichen Gründen war ich sogar überzeugt davon, dass es ein Mädchen werden würde – war das einzige Lebewesen, mit dem ich während dieser schlimmen Zeit sprechen konnte. Als Teil von mir schloss ich sie ins Herz. Und ich liebte sie mit jeder Faser meines Daseins. Ich hatte im Leben nie damit gerechnet, dass ich einmal Mutter sein würde. Ich hätte mir nie vorstellen können, ein Kind zu haben. Doch jetzt konnte ich mir nicht mehr vorstellen, keins zu haben. Das Kind, das sie mir so sicher wegnehmen würden, wie die Sonne jeden Morgen aufging. Sie würden versuchen, sie mir wegzunehmen.
Und ich würde lieber sterben, als das zuzulassen.
Hin und wieder schlich sich Hilary in den Hochsicherheitstrakt hinunter und sah nach der verängstigten jungen Frau, die sie dort gefangen hielten. Und einmal, während der Endphase des Experiments, hörte sie einen Gesang, der sie in ihrem tiefsten Innern berührte. Den reinsten, engelhaftesten Gesang, den sie je in ihrem Leben gehört hatte.
Sie schlich näher zu der Zelle und blickte durch die Scheibe aus Sicherheitsdrahtglas. Und sah die Frau. Blass und mager, abgesehen von dem runden Bauch. Ihr Name war Angelica, doch das DPI bezeichnete sie nur mit einer Nummer. Ihr Haar glänzte wie schwarzer Satin, lang und üppig, und sie hatte große lila Augen. Die Farbe wirkte ganz erstaunlich, obwohl Tränen, die aus den lila Tiefen der Augen hervorquollen, sie verwässerten.
Sie saß auf dem Boden der Zelle, Ketten an Armen und Beinen. Sie hielt den Bauch umarmt, wiegte sich langsam hin und her und sang „Amazing Grace“ so wunderbar, dass Hilary Tränen in die Augen traten.
Und dann verstummte sie plötzlich unvermittelt, hob den Kopf und sah Hilary durch die Glasscheibe in die Augen. Und Hilary konnte sich nicht abwenden. Das Mädchen wirkte so traurig, so verängstigt und so durch und durch allein. Schrecklich, was diese Organisation ihr antat. Einfach schrecklich.
Und wenn ich versuche, ihr zu helfen, dachte sie, dann töten sie mich. Sie töten mich, und ich verschwinde, genau wie Tamara.
Aber anscheinend war Tamara ja gar nicht verschwunden. Aus der Gerüchteküche des DPI erfuhr Hilary, dass Tamara schon vor Jahren eine von ihnen geworden sein sollte. Ein Vampir wie die, denen sie helfen wollte. Wäre das möglich? Könnte Tamara irgendwo da draußen sein?
Hilary verdrängte den Gedanken und betrachtete wieder die Frau in der Zelle. Und sie bemerkte diesen flehentlichen Ausdruck in ihren Augen. Sie musste wenigstens versuchen, ihr zu helfen.
Sie schloss ihre Augen und wandte sich ab. Der Gesang der jungen Frau erfüllte von Neuem den gesamten Trakt, und als Hilary an den anderen Zellen vorbeiging, bemerkte sie, wie die Gefangenen darin ihre Augen schlossen und sich von dieser Schönheit verzaubern ließen.
Hilary rannte aus dem Zellentrakt zu den Fahrstühlen, um dieser traurigen Stimme zu entfliehen. Doch sie hörte sie auch noch, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Und sie sah diese wunderschönen Augen, die sie anflehten, ihr zu helfen.
An diesem Abend fiel es Hilary besonders schwer, die Stabssitzung in Fullers Büro zu ertragen. Und noch schwerer, ganz unbeteiligt zu wirken. Dennoch schaffte sie es, war am Ende sogar mit sich zufrieden.
Bis schließlich Rose Sversky mit ihrer schrecklichen Analyse herausrückte. „Wir können es nicht per Kaiserschnitt holen“, sagte sie. „Die bluten wie Hämophile. Die Mutter würde wahrscheinlich verbluten, bevor wir das Kind haben, und dann würden wir sie beide verlieren.“
„Dann soll es eine natürliche Geburt sein“, sagte Fuller und stopfte stinkenden Tabak in seine widerliche Pfeife, während Hilary hastig Notizen machte.
Stiles räusperte sich. „Sir, Sie wissen doch, dass ihre Art Schmerzen tausendmal stärker empfindet.“
„Als ob mich das interessieren würde“, meinte Fuller abweisend.
Hilary beobachtete die beiden Männer. Sie waren Monster. Stiles jedoch schien nicht ganz so herzlos zu sein wie Fuller. Sie betrachteten die Untoten als Tiere, ja. Aber selbst Tieren sollte man nicht unnötig Schmerzen zufügen.
„Sie muss betäubt werden“, sagte Rose. „Mit ihren übernatürlichen Kräften könnte sie das Kind bei einer Presswehe glatt zerquetschen. Wir geben ihr das Mittel in deutlich höherer Dosierung als sonst. Damit sie das Bewusstsein so gut wie verliert, bevor wir die Geburt einleiten.“
„Und was passiert mit dem Baby?“, flüsterte Hilary.
Wieder schauten alle sie an, doch die ständigen Unterbrechungen verwunderten keinen mehr.
„Das Baby wird unser kostbarstes Forschungsobjekt“, erklärte Fuller. „Ms Garner, das ist eine Premiere. Kommt es als Vampir, als Sterblicher oder als eine Kreuzung zwischen beidem auf die Welt? Durch diese Kreatur lernen wir mehr als … Ms Garner?“
Sie konnte es nicht mehr verbergen, dieses Gefühl des Ekels. Sie musste schnellstens hier raus, bevor sie die Beherrschung verlor und vor versammelter Mannschaft in Tränen ausbrach. Hilary bot ihre letzten Kräfte auf, riss sich zusammen und stand langsam auf. „Tut mir leid. Wenn Sie mich bitte einen Moment entschuldigen würden.“ Sie wandte sich zur Tür.
„Magenprobleme, Ms Garner?“ Fullers Stimme klang vielsagend, als er sie mit einem tödlichen Blick ansah.
„Ja“, entgegnete sie. „Die Grippe, glaube ich.“
„Hoffentlich.“
Ein Nebel aus Grauen und Furcht umgab mich. Das erste Mittel, das sie mir einflößten, lähmte mich fast. Und das zweite brachte Schmerzen. Ich konnte nicht denken. Ich sah die Wände nicht, als sie mich, auf eine Trage geschnallt, durch Korridore bis zu einem Fahrstuhl schoben und nach oben fuhren. Sie brachten mich in einen Raum mit Leuten in weißen Kitteln, Maschinen und medizinischer Ausrüstung. Und diese maskierten Dämonen standen um mich herum, sahen auf mich herab, zogen Chirurgenhandschuhe an.
Sie unterhielten sich, doch ich verstand nicht, was sie sagten, so benommen machten mich die Schmerzen. Alles tat mir weh, nur das wusste ich. Ich dachte, mein Körper würde entzweireißen, und ich schrie.
Diese Weißkittel glotzten mich unumwunden an. Nur eine, die Frau mit der braunen Haut und den Rehaugen, schien anders zu sein. Ich hatte sie schon einmal gesehen, diese Frau mit den gütigen braunen Augen. Den gütigsten braunen Augen, die man sich vorstellen konnte. Hinter der Chirurgenmaske bemerkte ich ihr Grauen, sah, wie erschüttert sie war.
Oh, und mich erfüllte eine ebenfalls unsägliche Angst. Ich konnte mich kaum bewegen, kaum denken. Und verspürte nur Schmerzen. Und wusste, ich war hilflos, konnte sie nicht bekämpfen. Konnte mein Kind nicht schützen. Vollkommen … hilflos.
Sie stand an meinem Kopf, die mit den gütigen Augen. Sie strich mir wortlos über das Gesicht, doch ich sah das Mitleid in ihrem Blick. Aber plötzlich breitete sich in meinem Körper eine unglaubliche Erleichterung aus, so unerwartet, dass ich fast davongeschwebt wäre. „Rehauge“ schaute auf, zu den Männern und Frauen am Fußende des Tischs, auf dem ich lag. Ich folgte ihrem Blick. Und sah mein Kind. Die Frau, die ich zuerst für eine freundliche Großmutter gehalten hatte, hob es hoch – ein rosa, runzliges Bündel in ihren Händen. Ein Bündel, das zappelte und um sich trat und pechschwarzes Haar am Kopf kleben hatte.
Und dann drang ein Flüstern an mein Ohr: „Ein Mädchen. Und es scheint gesund zu sein.“
Ich bewegte die Lippen und streckte die Hände nach meinem Kind aus, meiner Tochter. Ich wollte flehen. „Bitte …“
Die wunderschönen rehbraunen Augen füllten sich mit Tränen. Sie sah mich an.
„Bitte“, flüsterte ich. „Helfen Sie mir … helfen Sie … ihr!“
Sie warf mir einen Blick zu, dann dem Baby, das sie aus dem Zimmer trugen, fort von mir. Alle gingen und ließen mich einfach liegen. Der Schmerz, den ich fühlte, war vergleichbar mit der Geburt selbst. Ich wollte mich aufrichten, versuchte mit aller Kraft, die Gurte zu zerreißen, mit denen ich gefesselt war. Es gelang mir nicht. Die Medikamente hatten mich vollkommen lahmgelegt. Ein Bild des Jammers muss ich gewesen sein, während ich hemmungslos weinte und sie mir mein Kind wegnahmen.
Und dann berührte die junge Frau zärtlich mein Gesicht. Ihre Tränen flossen fast ebenso hemmungslos wie meine.
„Helfen Sie ihr“, flüsterte ich.
Langsam, fast unmerklich nickte sie.
Dann überließ sie mich dem Personal. Hatte ich mir das Nicken und den Zuspruch nur eingebildet? Hoffentlich nicht.
Die Anzeige lautete:
Tamara, erinnern Sie sich an mich? Es ist achtzehn Jahre her. Sie hatten Hühnchen, ich Fisch. Wir tranken beide Wein. Etwas zu viel. Und dem Käsekuchen konnten wir nicht widerstehen. Das viele Cholesterol. Könnte mein Tod sein. Rufen Sie mich an. 374-555-1092.
Niemand hätte sich etwas Ungewöhnliches dabei gedacht. Außer Tamara. Eric ging mit besorgtem Blick auf und ab.
„Woher hast du das?“, fragte Tamara und sah vom Sofa ihres überdimensionierten Hauses außerhalb von San Diego zu ihm auf. Jameson war zurückgekehrt, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Er verkaufte die Bar, die ihm gehörte, stieß sein Auto ab, kaufte ein neues unter anderem Namen. Und er traf Vorbereitungen, sein Geld in Sicherheit zu bringen. Das DPI durfte ihn keinesfalls aufspüren. Jetzt musste er leben wie die anderen auch. Im Verborgenen.
„Eine Vampirin namens Cuyler hat sie entdeckt, den Namen erkannt, uns aufgespürt und sie uns geschickt. Sie dachte, du könntest gemeint sein. Glaubst du, sie hat recht?“
Tamara nickte langsam. „Natürlich hat sie recht. Das ist von Hilary Garner. Wir haben beim DPI zusammengearbeitet. Ich erinnere mich noch gut an den Abend, wir waren zusammen aus. Ich fuhr allein nach Hause und hatte auch noch einen Platten. Das war die Nacht, in der ich fast …“
„Ich möchte lieber nicht daran erinnert werden, was in dieser Nacht fast passiert wäre“, sagte Eric. Er kam näher und strich sich mit einer Hand durch das Haar. „Das könnte eine Falle sein, Tamara. Hilary arbeitet immer noch für das DPI.“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein. So etwas würde Hilary nie machen. Und sieh dir diesen letzten Satz an.“ Tamara hielt das Stück Papier hoch. „‚Könnte mein Tod sein.‘ Das hört sich so an, als würde sie es auf den Käsekuchen beziehen, aber das stimmt nicht. Sie will mich nur wissen lassen, dass es dringend ist.“ Sie sah Eric in die Augen. „Ich muss sie anrufen, Liebling. Ich muss.“
Er senkte den Kopf, und sie war froh darüber, dass er zur Abwechslung einmal nicht widersprach. „Ich hatte schon befürchtet, dass du so etwas sagen würdest.“ Sie sah ihn so lange an, bis er nachgab. Er seufzte schwer und nickte. „Ich richte für alle Fälle was ein. Damit sie den Anruf nicht zurückverfolgen können.“
Tamara lächelte und gab ihm einen Kuss.
Jameson lernte seit seiner Verwandlung. Erprobte seine Kraft und Energie. Schärfte seine geistigen Fähigkeiten. Und er war überaus zufrieden mit seinen Fortschritten. Er lief schon fast so schnell wie Eric. Kletterte und hüpfte und sprang fast so geschickt wie Roland. Er konnte sich mit jedem von ihnen unterhalten, ohne einen Laut von sich zu geben. Das war vermutlich der erstaunlichste Aspekt seines neuen Lebens. Und der, an den er sich am schwersten gewöhnen konnte. Er las ihre Gedanken jetzt ebenso mühelos, wie es den anderen gelang. Wenn sie ihre Gedanken nicht abschirmten. Er hatte gelernt, selbst einen geistigen Schutzschild aufzubauen, der jedem Vampir den Zugang verwehren konnte.
Er hatte erwartet, dass ihm eine gute Mahlzeit fehlen würde, aber seltsamerweise war es nicht so. Seine anderen Sinne waren so ausgeprägt, so viel schärfer als vorher, dass ihn alles mit einer sinnlichen Freude erfüllte. Geräusche und Anblicke, Gerüche und Empfindungen bombardierten ihn unablässig. Die Genüsse von einst wichen im Handumdrehen neuen. Und wurden schnell vergessen.
Er bedauerte, dass er nicht die Möglichkeit gehabt hatte, seinen Traum von einem „normalen“ sterblichen Leben zu erfüllen. Ein Leben mit einer Familie, einer Frau, vielleicht Kindern. Aber eigentlich stand das ohnehin nie zur Debatte. Er hatte immer gewusst, dass die seltenen Individuen, die das Belladonna-Antigen in sich trugen, eine verkürzte Lebenserwartung hatten. Die wenigsten wurden älter als dreißig. Jameson war jetzt vierunddreißig. Er hatte vor seiner Verwandlung zwar noch keines der bekannten Symptome verspürt, aber vermutlich hätte es nicht mehr lange gedauert. Aus diesem Grund war sein anfänglicher Zorn auf seine besten Freunde längst verraucht.
Aber die Wut auf diese Frau, die ihn angegriffen hatte – die verlosch nicht.
Sie hatte ihn angegriffen, sich ohne seine Zustimmung von ihm ernährt, ihn hilflos gemacht und beinahe getötet. Oh, wie gern er dieser durchgeknallten Vampirin noch einmal begegnen würde! Er war jetzt stark, stärker, als sie jemals sein würde, ohne Zweifel, denn das Blut wahrhaft alter Vampire floss in ihm. Besonders das von Rhiannon. Ja, er freute sich darauf, diese schmutzige, abgerissene Frau noch einmal zu treffen. Er würde sie zerbrechen wie ein Streichholz. Er würde ihr eine unvergessliche Lektion erteilen.
Natürlich würde es dazu vermutlich nie kommen. Bestimmt war sie längst tot. Jameson wusste nur zu gut, dass Vampire in Gefangenschaft selten lange überlebten. Besonders wenn ihre Aufseher sie nach beendeten Experimenten für nutzlos hielten. Man ließ sie einfach langsam und qualvoll verhungern oder betäubte sie mit dieser Droge, die das Institut entwickelt hatte, und setzte sie den tödlichen Strahlen der Sonne aus. Entbehrliche Versuchstiere.
Irgendwie verspürte Jameson aber keine Freude bei dem Gedanken, dass die kalkweiße, spindeldürre Vampirin auf diese Weise sterben könnte. Gar keine Freude.
Mehr als alles andere hatten seine Freunde ihm eingeschärft, dass er sich nicht vom Blut der Lebenden ernähren durfte. Der Blutrausch konnte überwältigend werden, man konnte sich ganz schnell selbst vergessen, wenn man leidenschaftlich seinen Durst stillte. Das hatte er selbst ja schon aus erster Hand erlebt, oder nicht? Und da er niemanden töten wollte – jedenfalls keinen in San Diego –, nahm er sein Blut so zu sich wie die anderen. Von dem gemeinsamen Vorrat aus Blutbänken und Krankenhäusern.
„Jamey, ich muss mit dir reden.“
Er drehte sich um und sah Tamara sein Zimmer betreten. Sie wohnten in einem der vielen Häuser, die ihnen landauf, landab gehörten. Er wusste wirklich nicht, warum sie sich noch hier aufhielten. Seine Angelegenheiten waren geregelt. Er besaß genügend Geld und eine gute Tarnung, die ihm helfen würde, sich vor dem DPI zu verbergen. Seine Lektionen waren ebenfalls weitgehend abgeschlossen. Sie konnten gehen, wohin sie wollten. Er vermutete, sie waren noch nicht weitergezogen, weil sie einfach noch nicht den Wunsch verspürten.
Tamara nannte ihn noch immer Jamey, und inzwischen hegte er kaum noch Hoffnung, dass sie es sich je abgewöhnen würde.
Er runzelte die Stirn, denn sie wirkte sehr … aufgeregt. „Was ist los, Tam?“ Sie kam auf ihn zu, biss sich auf die Unterlippe, blieb jedoch auf halbem Weg stehen und hielt sich an der Lehne eines Sessels fest, als müsste sie sich stützen. Das erschreckte ihn noch mehr. „Mein Gott, was ist denn los?“
„Jamey – Herrgott, ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll …“
Er ging zu ihr, hielt sie an den Schultern und drückte ihren zitternden Körper auf den Sessel, an dem sie sich festgehalten hatte. „Ist etwas mit Eric? Oder Roland? Ist mit Rhiannon alles in …“
„Denen geht es allen gut … aber dir vermutlich gleich nicht mehr.“ Sie legte den Kopf schief und sah ihm tief in die Augen. „Und wenn du jetzt blindwütig hier aufbrichst, wirst du wahrscheinlich nur getötet, und das macht die Situation auch nicht besser. Es ist … schrecklich. Wenn es überhaupt stimmt. Und wenn es wirklich stimmen sollte, müssen wir etwas unternehmen. Aber bedacht und geplant und mit größter Vorsicht. Das kann ich gar nicht genug betonen.“
Er kniff die Augen zusammen und sah sie an. „Ich hab keinen blassen Schimmer, was du da redest, Tam.“
Sie leckte sich die Lippen, schloss die Augen eine ganze Weile, bevor sie zu reden begann. „Als das DPI dich festgehalten hat …“
Jameson wurde schlagartig hellwach. „Als das DPI mich festgehalten hat?“, drängte er. „Los, Tam, komm zur Sache.“
Tamara räusperte sich, hob das zierliche Kinn, sah ihm in die Augen. „Du hast gesagt, sie hätten … Proben genommen.“
Er wandte den Blick ab. Aber Tamara streckte die kleine Hand nach ihm aus und sorgte mit ihrem starren Blick dafür, dass auch er sie wieder ansah. „Ich muss wissen … welche.“
„Darüber will ich nicht reden“, sagte er. „Nicht einmal mit dir.“
„Verzeih mir“, flüsterte sie. Dann räusperte sie sich erneut. „Haben sie dein Sperma genommen, Jamey?“
„Tamara, Herrgott noch mal!“ Er wandte sich ab, befreite sich aus ihrem sanften Griff und ging auf und ab.
„Ich muss es wissen.“
Er blieb erst am Fenster stehen. Dort zog er die Vorhänge aus schwarzem Chintz beiseite, stützte sich auf den breiten Sims und sah in die trübe graue Nacht hinaus. Die klauenartigen Finger der Sturmwolken schienen nach dem Mond zu greifen und brachen sein Licht in unebenmäßige Teile. Keine Sterne standen am Himmel.
„Warum?“, flüsterte Jameson. „Warum um alles in der Welt fragst du mich so etwas, Tamara?“
„Weil ich etwas erfahren habe, das so grässlich ist, dass ich es kaum glauben kann.“ Sie stellte sich nicht zu ihm, legte ihm nicht die Hände auf die Schultern, wie er es erwartet hatte. Stattdessen blieb sie auf dem Sessel beim Kamin sitzen. Und als er sich umdrehte, sah er Tränen langsam über ihre Wangen rollen.
„Sag es mir“, forderte er sie auf.
Sie nickte einmal. „Erinnerst du dich an Hilary? Sie war vor langer Zeit meine Freundin.“
Jameson legte den Kopf schief und dachte nach. „Sie hat für das DPI gearbeitet“, sagte er schließlich.
„Ich auch.“
„Das ist was anderes, Tam.“
„Vielleicht nicht“, sagte sie. „Vielleicht ist es gar nichts anderes.“ Sie wandte die schwarzen Augen vom Kamin ab und sah ihn wieder an. „Sie hat mir gesagt, dass sie dein Sperma genommen haben, Jameson. Haben es eingefroren. Ihre Forschungen haben gezeigt, dass manche Vampirinnen – sehr junge – noch funktionierende Eierstöcke besitzen.“
Jameson kniff die Augen zusammen, entfernte sich vom Fenster und ging näher zu Tamara. „Was zum Teufel willst du mir sagen?“
„Männer – wenn sie verwandelt werden, sind sie unfruchtbar. Aber du kennst ja das DPI und ihren Forschungsdrang. Du kennst sie, Jamey. Sie wollten wissen, ob eine Vampirin ein Kind bekommen kann. Und da sie die Frau nicht mit einem Vampir paaren konnten, entschieden sie sich für die zweitbeste Methode.“
Jameson stand jetzt vor ihr, zwischen ihr und der Abschirmung vor dem Kamin. „Willst du mir damit sagen, sie haben vor, eine Frau mit meinem Samen zu schwängern?“
Mehr Tränen. Sie biss sich auf die Unterlippe, legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. „Nein, Liebes, ich will damit sagen, dass sie es schon getan haben.“
„Schon …“
Tamara fasste sich und stand auf. Sie packte Jameson mit festem Griff an der Schulter. „Letzte Woche bekam eine Vampirin, die sie dort festhalten, ein Kind, Jameson. Dein Kind.“
„Nein!“ Er riss sich von ihr los, wirbelte herum. Er schlug mit der Faust auf den Kaminsims, die Uhr und anderer Krimskrams darauf flogen in die Luft und zerschellten am Boden. „Nein, das ist unmöglich.“
„Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich ertrage es kaum, dir das zu erzählen, Jamey, aber Hilary muss es wissen. Sie … sie haben dein Kind.“
„Ich bring die Dreckskerle um“, brüllte Jameson. „Ich bring jeden Einzelnen um, ich schwöre es!“ Er riss die Tür auf und wollte hinaus, sah sich jedoch einer soliden Verteidigungslinie gegenüber.
Roland, Eric und Rhiannon standen da und versperrten ihm den Weg. Jameson wollte sich zwischen ihnen durchdrängen, aber Roland hielt ihn am Arm fest und riss ihn zurück. „Jameson, bitte! Hör uns an.“
„Nein. Ich habe genug gehört. Ich habe es satt, dass ihr mich alle wie ein Kind behandelt. Herrgott, Roland, begreifst du denn nicht, was hier vor sich geht? Ein Kind – mein Kind, Roland, wenn Tamara die Wahrheit sagt – wird von diesen Monstern als Forschungsobjekt missbraucht.“ Er richtete den Blick auf Rhiannon. „Du warst einmal ihre Gefangene“, sagte er zu ihr. „Du weißt besser als jede andere, wozu sie fähig sind. Ich muss mein Kind da rausholen. Ich kann nicht warten.“
„Natürlich weiß ich das. Und ich stimme voll und ganz mit dir überein, diese Tiere müssen bezahlen, Jameson, auch wenn die anderen mir da zweifellos widersprechen dürften. Aber bevor du gehst, möchten wir dich auf einige wichtige Punkte hinweisen.“ Hier verstummte sie, drehte sich zu Eric um und nickte ihm zu, damit er fortfahren sollte.
Jameson beruhigte sich allmählich und sah Eric in die Augen. „Als Erstes solltest du bedenken, dass wir nur Hilary Garners Behauptung haben, dass es sich um dein Kind handelt“, gab Eric zu bedenken. „Und …“
„Glaubst du wirklich, dass das eine Rolle spielt? Kein Kind verdient es, auf diese Weise benutzt zu werden, wie sie es tun …“ Er wandte sich an Tamara, die mittlerweile hemmungslos weinte. „Tamara, ist es ein Er? Oder eine Sie?“ Seine Stimme brach, als er die Frage stellte.
„Eine Sie“, flüsterte Tamara. „Ein Mädchen.“
„Eine Tochter. Jesus Christus, ich habe eine Tochter.“ Er fühlte sich schwindelig, benommen, übel.
„Vielleicht“, sagte Eric. „Und wir starten eine Rettungsaktion, ganz gleich, wessen Kind es ist. Aber du solltest noch eines bedenken, Jameson, bevor wir losschlagen.“ Eric schloss kurz die Augen. „Du musst dich vorbereiten, mein Freund. Wir wissen nicht, was für ein Kind wir finden. Ob sie eine Sterbliche ist oder … oder …“
„Oder ein Vampir?“ Jameson trat näher zu Eric und starrte ihn an. „Mein Gott, Eric, du glaubst doch nicht … nein. Nein, kein neugeborener Vampir. Das wäre zu schrecklich. Ein Kind, das von Blut lebt? Ein Baby, das nie älter werden kann?“ Jameson machte die Augen zu, riss sie wieder auf und wandte sich an Tamara. „Diese Hilary, hat sie das Baby gesehen?“
„Nur einen Moment. Sie konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen und feststellen, dass es … dass es wunderschön ist. Dunkle Locken. Wie deine, Jamey.“ Dann schlug Tamara die zierlichen Hände vor das Gesicht und schluchzte wieder los. Ihre Schultern bebten. Eric ging zu ihr und nahm sie in die Arme.
Jameson rückte von ihnen ab und betrachtete sie alle aus größerer Entfernung. „Ihr habt mich gern“, sagte er mit heiserer Stimme. „Ich weiß, dass ihr mich alle gernhabt. Aber vertraut ihr mir auch?“
„Natürlich vertrauen wir dir, Jameson“, sagte Roland hastig. Aber Rhiannon sah ihn misstrauisch an. Als wüsste sie ganz genau, was als Nächstes kommen würde.
„Ich habe euch nie um etwas gebeten. Jetzt bitte ich um etwas, und es bedeutet mir mehr, als jemals zuvor etwas mir bedeutet hat. Wenn euch wirklich so viel an mir liegt, wie ihr immer behauptet, dann lasst ihr mich allein nach meiner Tochter suchen gehen.“
Tam hob ruckartig den Kopf, ihre Augen waren rot und verquollen. „Nein!“
„Es ist mein Kind“, fuhr er fort. „Meine Verantwortung. Behandelt mich einmal als Gleichwertigen. Das bin ich nämlich jetzt, wisst ihr. Gleichwertig. Es besteht kein Grund mehr, mich zu beschützen. Gar keiner. Und wenn ihr mich das nicht durchziehen lasst, wenn ihr mir nicht zutraut, dass ich das Leben meines eigenen Kindes rette, dann …“ Er senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam.
„Dann“, sagte Rhiannon leise, „dürfte unsere gute Beziehung zu diesem jungen Mann irreparablen Schaden nehmen.“
Jameson blickte Rhiannon in die Augen und nickte. „Ja. Genau so ist es.“ Dann sah er nacheinander die anderen an. „Vertraut mir und glaubt mir, dass ich klug und bedacht vorgehen und das Leben meines Kindes nicht durch die rasende Wut gefährden werde, die ich gerade empfinde.“ Und dann ging er zu Tamara und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. „Ich möchte aber, dass ihr auf mich wartet. Wenn ich euch brauche, dann rufe ich euch, das verspreche ich.“
„Schwör es, Jamey“, flüsterte Tamara. „Schwör mir, dass du uns rufst, wenn du verletzt oder gefangen genommen wirst. Oder wenn die Lage zu gefährlich wird. Schwöre es mir, und ich glaube dir.“
„Ich schwöre es, Tam.“ Er sah ihr in die Augen. „Du bist mehr als eine Schwester für mich. Manchmal stehst du mir näher als meine eigene Seele. Du wüsstest, wenn ich dich anlügen würde. Ich rufe, wenn ich Hilfe brauche. Mein Stolz soll nicht verhindern, dass das Kind gerettet wird. Aber ich muss das allein durchziehen, Tamara. Ich muss mich darauf konzentrieren können und mich nicht ständig fragen, ob meine Freunde leiden oder bei dem Versuch ums Leben kommen. Bitte …“
Tamara strich sich schniefend über die roten Augen, nickte aber. „Na gut. Dann geh. Wir warten.“
„Wir sind viele, Jameson“, sagte Roland. „Es werden auch andere zu deiner Unterstützung kommen. Damien, der Älteste von uns allen. Der Erste und Stärkste. Er wäre im Handumdrehen hier. Und Shannon, seine Gefährtin. Und so viele andere.“
„Diesmal werden wir vielleicht wirklich alle benötigen, um das DPI zu besiegen“, sagte Rhiannon leise. „Und wenn es so weit ist, sind wir alle bereit. Das musst du wissen, Jameson. Sag nur ein Wort, und wir sind da.“
Jameson nickte. Ein kleines, neugeborenes Kind. Sein Kind wartete irgendwo darauf, dass sein Vater kam und es rettete. Sein Vater. Er machte die Augen zu, als ihm die ganze Tragweite bewusst wurde. Sein Vater.
Als er sich abwandte, um zu gehen, lief ihm eine Träne langsam die Wange hinab.