Keith

1. KAPITEL

Er glitt unter den überhängenden Dächern durch die gewundenen, schmalen Straßen hindurch wie ein Schatten. Er verabscheute es, hier zu sein, hier bei ihnen. Manche gingen so nahe an ihm vorbei, er hätte sie berühren können, wenn er einfach nur die Hand gehoben hätte. Er spürte ihre Körperwärme, sah ihren Atem in der kalten Nachtluft verdampfen. Er spürte das Blut unter ihrer Haut pulsieren, hörte den schnellen, gesunden Rhythmus ihrer Herzen. Er fühlte sich wie ein Wolf, der lautlos inmitten von ängstlichen Kaninchen herumschleicht. Mit seinen übernatürlichen Kräften hätte er jeden Einzelnen töten können, ohne sich anzustrengen. Ihm machte Angst, dass er genau dazu fähig wäre, sollte er dazu gezwungen werden.

Einen Moment trübten verschwommene Bilder aus fernster Vergangenheit seine Sicht. Staubschwangere Luft und der Geruch von Schweiß und Blut. Gefallene Männer wie Herbstlaub auf der feuchten braunen Erde. Donnernder Hufschlag, als Pferde ohne Reiter in alle Himmelsrichtungen flohen. Ein Mann, ein Knabe, um ehrlich zu sein, atmete noch. Der niedere Knappe in der schlecht sitzenden Rüstung saß hoch droben auf einem prachtvollen, rassigen Schlachtross. Das Pferd scharrte mit einem Vorderhuf auf dem Boden und schnaubte begierig nach mehr. Die einzige Antwort war Stille. Die Stille des Todes, die allgegenwärtig schien.

Der junge Roland sah das blutige Schwert, die scharlachroten Tränen, die langsam von seiner Spitze tropften. Als der rote Nebel der Raserei sich hob, ließ er die Waffe langsam fallen. Der Magen drehte sich ihm um, als er den Stahlhelm vom Kopf nahm, dann das Kettenhemd auszog und beides auf die Erde warf. Erschüttert betrachtete er das Gemetzel und verspürte in seiner Übelkeit nicht einmal Dankbarkeit dafür, dass ihre Gesichter von Helmen, ihre Verletzungen von Rüstungen verborgen wurden.

Der Knabe war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Nein, nicht einmal später, als König Ludwig VII. ihn höchstpersönlich für seinen Heldenmut und seine Tapferkeit zum Ritter schlug. Er verspürte lediglich einen grimmigen und abstoßenden Ekel vor sich selbst.

Denn er hatte das Blutbad genossen.

Roland riss sich zusammen. Dies war nicht die Stunde für Erinnerungen oder Reue. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, dass manche Menschen, auch wenn er sie mit Kaninchen verglich, zu einem Höchstmaß an Arglist und Verrat fähig waren. Das wusste er aus Erfahrung. Und wenn der Bericht, den er gerade aus den Staaten bekommen hatte, der Wahrheit entsprach, konnte einer dieser Menschen, der noch verräterischer als die anderen war, nur wenige Meter von ihm entfernt sein. Diese Möglichkeit hatte Roland, seiner selbst auferlegten Einsamkeit zum Trotz, heute Abend in das Dorf geführt.

Sein Plan war einfach. Er würde unerkannt durch die mittelalterlichen Straßen von L’Ombre gehen und ein Gasthaus namens „Le Requin“ besuchen. Dort würde er Augen und Ohren aufsperren. Er würde ihre kaum verschleierten Gedanken lesen und den Eindringling finden, so es ihn denn wirklich gab. Und dann würde er sich seiner annehmen.

Der Nachtwind nahm zu und brachte den Geruch von spät blühenden und abgestorbenen Rosen mit sich, von frisch gemähtem Gras und Alkohol und Rauch hinter der Tür, der er sich gerade näherte. Er blieb stehen, als die Tür aufgerissen und der Geruch durchdringender wurde. Eine Gruppe angetrunkener Touristen stolperte heraus und an ihm vorbei. Roland wich zurück und wandte das Gesicht ab, doch das erwies sich als unnötige Vorsichtsmaßnahme. Sie beachteten ihn gar nicht.

Roland zog die Schultern hoch. Er fürchtete die Menschen nicht wie viele seiner Art. Er fürchtete mehr um sie, sollte er zu einer unerwünschten Begegnung gezwungen werden. Darüber hinaus schien es vernünftig, einen Kontakt zu vermeiden. Sollten die Menschen je erfahren, dass Vampire wirklich existierten, nicht nur in Legenden und Überlieferungen, wäre der Schaden nicht wiedergutzumachen. Frieden wäre unmöglich. Da war es schon besser, sich fernzuhalten, für diese ewig neugierigen Sterblichen ein Mythos zu bleiben.

Als die Tür wieder aufschwang, hielt Roland sie fest und trat hastig ein. Er machte einen Schritt zur Seite und studierte einen Moment die Umgebung. Niedrige runde Tische, ohne ersichtliche Ordnung aufgestellt. Leute drängten sich sitzend oder stehend daran, beugten sich darüber und plauderten belanglos. Die rauchschwangere Luft stand in Kopfhöhe, brannte in den Augen und schmerzte ihn in der Nase. Die Stimmen waren ein konstantes Hintergrundrauschen, in dem das Plätschern von Alkohol und das Klirren von Eis in Gläsern häufig Kontrapunkte bildeten.

Dann ertönte ihr Gelächter deutlicher als alles andere. Tief, heiser und ungehemmt scholl es durch die verrauchte Atmosphäre und schmeichelte seinem Trommelfell. Er ließ den Blick zur Quelle des Geräuschs schweifen, sah jedoch lediglich eine Gruppe Männer, die um Plätze an der Bar buhlten. Er konnte nur vermuten, dass sie den Mittelpunkt dieses Pulks bildete.

Unmöglich, dass er sich durch die Schar ihrer Bewunderer drängen würde. Roland wollte auf keinen Fall unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und, noch weniger, seine zeitlose Bekanntschaft mit ihr erneuern, die langsame Folter wieder beginnen. Er unterdrückte den Wutausbruch beim Gedanken, dass einer der Menschen ihr so nahe kam, dass er sie berühren konnte. Das linkische Fummeln eines betrunkenen Sterblichen wollte er auf keinen Fall sehen. Er glaubte nicht, dass er dem Trottel für diesen Frevel das Genick brechen würde, aber er sollte die Grenzen seiner Beherrschung lieber nicht ausloten.

Er konnte allein durch Zuhören viel lernen, und das machte er jetzt, konzentrierte seinen Geist so sehr wie sein Gehör und fragte sich, welchen Namen sie heutzutage tragen würde. Denn auch wenn er auf eine Bestätigung aus war, hegte er keinen Zweifel an der Identität der Frau mit dem verführerischen Lachen. Überhaupt keinen Zweifel.

„Mach’s noch mal, Rhiannon!“

Oui, chéri. ’abt ihr Lust auf etwas Rock ’n’ Roll?“

Ein Chor flehender Stimmen schwoll an, als sich die geschmeidige, dunkle Gestalt aus der Masse löste. Sie schüttelte den Kopf und ließ das so typische verhaltene Lächeln sehen. Sie bewegte sich so anmutig, dass es schien, als würde sie nicht auf dem Holzboden gehen, sondern darüberschweben. Der leicht ausgefranste Saum aus schwarzem Samt, der wenige Millimeter über dem Boden rauschte, verstärkte diese Illusion noch. Roland hatte keine Ahnung, wie sie die Beine überhaupt bewegen konnte, so eng wurden sie von der Mitte der Schienbeine an von dem Rock umhüllt. Der Stoff verbarg so wenig, sie hätte ebenso gut splitternackt vor ihren Bewunderern herumstolzieren können. Der Samt schien mit ihrem Körper verschmolzen zu sein, wölbte sich über den Hüften, schmiegte sich an die Taille, umfing ihre kleinen straffen Brüste wie gierige Hände. Ihre langen schlanken Arme waren bloß, abgesehen vom schmückenden Zierrat verschiedener Armreife und Bänder. Sie trug Ringe an den Fingern und hatte die langen spitzen Nägel blutrot gefärbt.

Roland ließ den Blick weiter aufwärts wandern, während sie den Raum durchquerte und seine Anwesenheit offenbar nicht registrierte. Das Oberteil des Kleides bestand lediglich aus zwei Streifen Samt, die im Nacken für Halt sorgten. Zwischen diesen Streifen leuchtete ihre Haut ätherisch blass und glatt. Seinen scharfen Augen entging nichts, weder die sanfte Rundung ihrer Brüste noch der zarte Umriss des Schlüsselbeins am Halsansatz. Um den Hals trug sie einen Onyxanhänger in Form einer Mondsichel. Dieser ruhte flach auf ihrer Brust, die untere Spitze reichte gerade bis zur oberen Wölbung des Busens.

Der Schwanenhals, wie Milch und Honig gefärbt, seidenweich anzufühlen, anmutig lang und schlank, wurde teilweise von ihrem Haar bedeckt. Es hing lang und so schwarz wie das Samtkleid herab, aber dennoch glänzte es und erinnerte mehr an Satin als an Samt. Sie hatte es auf eine Seite gekämmt, und es verdeckte die rechte Hälfte ihres Halses und einen Großteil des Kleides. Die glänzende Pracht reichte bis zum Oberschenkel.

Sie blieb stehen, beugte sich zu dem Mann am Klavier hinab, flüsterte ihm etwas ins Ohr und legte ihm dabei die schmale Hand auf die Schulter. Roland erstarrte, als er spürte, wie sich die Bestie in seinem Inneren zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder regte. Er wies sie in ihre Schranken. Der Mann nickte und spielte einen Akkord. Sie drehte sich zu der Menge um und stützte sich mit einem Arm auf dem Klavier ab. Beim ersten makellosen Ton, den sie sang, verstummte der gesamte Raum. Ihre Stimme klang so tief und sanft, hätte man ihr eine feste Form gegeben, hätte es nur Honig sein können; sie erfüllte den Schankraum und zog jeden in ihren Bann. Ihre Betonung verlieh dem Text eine tiefere Bedeutung als jemals zuvor.

Sie sang, als würde ihr bei jedem Ton das Herz brechen, doch ihre Stimme schwankte nicht einmal oder ließ in ihrer Intensität nach.

Sie hielt die Sterblichen in ihrem Bann und genoss jeden Augenblick, dachte Roland bei sich. Er sollte gehen und sie sich selbst überlassen, wenn sie sich auf diese groteske Weise zur Schau stellen wollte. Doch sie sang weiter von Liebesleid und unerträglicher Einsamkeit und sah ihn dabei an. Sie blickte ihm in die Augen und ließ ihn nicht mehr los. Fast gegen seinen Willen hatte Roland nur Ohren für ihre überirdisch schöne Stimme. Und obwohl er es nicht wollte, sog er jede Einzelheit ihres Gesichts mit Blicken in sich auf.

Ein perfektes Oval mit einer Knochenstruktur, die so exquisit und makellos war, als hätte ein Bildhauermeister sie angefertigt. Ein kleines, fast spitzes Kinn und ein zierlicher, geschwungener Kiefer. Sanfte Vertiefungen unter den Wangen und hohe, weit auseinanderliegende Wangenknochen. Ihre Augen waren mandelförmig und an den äußeren Winkeln leicht nach oben gezogen. Der Eyeliner betonte diesen exotischen Schwung noch, und die Wimpern waren so pechschwarz wie die Iris, die sie umgaben.

Gegen seinen Willen konzentrierte er sich auf die vollen, ewig schmollenden Lippen, die jedes Wort des Songs formten. Sie hatten eine dunkelrote Farbe, der von Wein nicht unähnlich. Wie viele Jahre verzehrte er sich schon nach diesen Lippen?

Er schüttelte sich. Die Frucht dieser Lippen durfte er niemals kosten. Er richtete den Blick wieder auf ihre Augen. Immer noch waren sie einzig und allein auf ihn gerichtet, als würde sie die Worte nur für ihn singen. Allmählich bemerkte er, dass die Gäste neugierig wurden. Köpfe wurden gedreht, da jeder wissen wollte, wer die Aufmerksamkeit der zurückhaltenden Rhiannon geweckt hatte. Er hatte sich von ihr in den Bann schlagen lassen, genau wie diese arglosen Menschen, und darüber die Gefahr einer Entdeckung vollkommen vergessen. Sollte sie sich ruhig tollkühn verhalten, wenn es ihr gefiel. Er würde seine Existenz nicht gefährden, um sie zu warnen. Wenn er hierblieb, wäre Ärger vermutlich vorprogrammiert. Ihre Nähe weckte die Bestie in ihm immer wieder aufs Neue und aktivierte seine niederen Instinkte. Das war zweifellos ihre Absicht. Aber hätte sie die ganze Wahrheit gekannt, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt.

Er ergriff die Tür, ohne den Blick von der Frau abzuwenden, und riss sie auf. Während sie den letzten schwermütig tiefen Ton sang und so lange hielt, dass niemand mehr übersehen konnte, dass sie keine gewöhnliche Frau war, trat er in die beißende Kälte der Herbstnacht hinaus. Doch eine Sekunde später hörte Roland, dass niemand misstrauisch wurde. Er hörte nur donnernden Applaus.

Rhiannon spürte den Schmerz, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Zorn brodelte schnell in ihr hoch, aber nicht schnell genug, dass sie das Gefühl der Kränkung, das damit einherging, nicht gespürt hätte. Roland konnte sie also von oben bis unten anstarren und dann einfach so davonlaufen, ja? Er konnte das Kleid ignorieren, das sie einzig und allein aus dem Grund angezogen hatte, um ihn zu bezaubern. Er konnte so tun, als könnte er gar nicht beachten, wie gefühlvoll sie jeden einzelnen Ton gesungen oder welches Lied sie ausgewählt hatte. Vermutlich musste sie zu drastischeren Maßnahmen greifen, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte.

Sie rückte vom Klavier ab und murmelte hastig, dass sie Kopfschmerzen hätte und ein wenig Ruhe ohne die Schar ihrer männlichen Bewunderer brauchte. François, der Pianist, neigte den Kopf zu einer Tür im hinteren Bereich, worauf Rhiannon dorthin ging. Sie hielt sich gerade lange genug auf, dass sie den am meisten betrunkenen Mann in dem Raum am Oberarm packen konnte. Er stolperte ihr hinterher, als sie ihn mit sich zog.

Sie konnte Rolands dunklen Umriss gerade noch ein Stück entfernt auf der schmalen Straße erkennen. Nach ihm zu rufen, verkniff sie sich. Nach Jahren der Trennung würde sie ihn nicht um ein schlichtes Hallo anbetteln. Da hatte sie eine bessere Idee.

Sie zog den betrunkenen Mann noch ein paar Meter mit, drehte ihn um und stützte ihn hauptsächlich dadurch, dass sie ihn am Hemd hielt. Sie drückte ihn mit dem Rücken gegen ein Gebäude.

Einen Moment blickte sie ihn an. Er sah eigentlich gar nicht schlecht aus. Rotes Haar und Sommersprossen, aber ein recht hübsches Gesicht, abgesehen von dem schiefen, trunkenen Grinsen.

Sie legte ihm einen Finger unter das Kinn und schaute ihm lange in die grünen, alkoholumnebelten Augen. Sie konzentrierte ihre geistige Energie darauf, ihn zu beruhigen und seine uneingeschränkte Kooperation zu sichern. Als sie den Kopf über seinen Hals senkte, hätte ihr der Mann mit Freuden alles gegeben, was er besaß, hätte sie ihn darum gebeten. Sie spürte nichts Böses in ihm. Tatsächlich schien er ein überaus netter Kerl zu sein, abgesehen vom Trinken. Aber sie nahm an, dass jeder sein Laster hatte. Sie war kurz davor, ihrem zu frönen.

Sie öffnete die Lippen und drückte den Mund auf die Stelle, wo die Schlagader unter der Haut pochte. Sie wollte dem Mann nichts Böses tun, wollte lediglich Roland auf sich aufmerksam machen. Ihr williges Opfer stöhnte leise und legte den Kopf schief. Sie erstickte fast an ihrem Lachen. Sie war froh, dass wenigstens einer von ihnen ein gewisses Maß an Lust dabei empfand. Für sie hatte die Tat schon seit sehr langer Zeit nichts Lustvolles mehr.

„Verdammt, Rhianikki, lass ihn los!“

Roland legte ihr eine Hand auf die Schulter und riss sie grob vom Hals des Betrunkenen weg. Der Mann sank halb bewusstlos zu Boden, aber vor Verzückung, nicht wegen des Blutverlusts. „Du hättest ihn umbringen können“, flüsterte Roland schroff.

Rhiannon krümmte die Mundwinkel fast unmerklich nach oben. „Es gefällt dir wirklich, immer das Schlechteste von mir zu denken, was, Darling? Und ich heiße jetzt Rhiannon. Rhianikki ist zu …“, sie winkte mit einer Hand, „ägyptisch.“ Sie streifte den Mann am Boden mit einem beiläufigen Blick. „Schon gut, Paul. Du kannst jetzt gehen.“ Sie entließ ihn aus ihrem geistigen Bann, er stand unsicher auf. Mit verwirrtem Blick sah er von Rhiannon zu Roland und wieder zurück.

„Was ist passiert?“

„Du hast ein wenig zu viel Chablis getrunken, mon cher. Geh jetzt. Mach dich auf den Weg.“

Er stolperte mit nach wie vor gerunzelter Stirn in die Taverne zurück; Rhiannon wandte sich an Roland. „Siehst du?“

„Warum bist du hier?“

Sie hob die Hände, Handflächen nach außen. „Nicht einmal ein Hallo? Ein ‚Wie geht es dir‘? Ein ‚Schön, dass du noch unter uns weilst‘? Gar nichts? Wie unhöflich du geworden bist, Roland.“

„Warum bist du hier?“ Seine Stimme blieb gleichgültig, als er die Frage wiederholte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn du es unbedingt wissen musst, ich habe von einem gewissen DPI-Agenten gehört, einem ziemlich fiesen Typen, der dich hier aufgespürt hat. Es heißt, er sei bereits im Dorf. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Roland. Ich bin gekommen, um dich zu warnen.“

Er sah zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. „Und da du weißt, dass sich ein Agent der Abteilung für paranormale Ermittlungen hier im Dorf aufhält, machst du natürlich sofort übertrieben auf unsere Anwesenheit aufmerksam.“

„Gibt es eine bessere Methode, ihn aus der Reserve zu locken? Du weißt, wie ernst sie die Erforschung von Vampiren nehmen.“

„Du hättest sterben können, Rhiannon.“

„Dann wärst du mich endlich los gewesen.“

Er schwieg einen Moment und betrachtete ihr Gesicht. „Das wäre keine Freude für mich, Tollkühne.“

Sie sah ihn unter dichten Wimpern hervor an. „Du hast eine seltsame Art, mir das zu zeigen.“

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie schlang einen Arm um seine Taille, und so gingen sie die windige Straße entlang in Richtung seines Schlosses. „Du musst besser achtgeben“, sagte er in väterlichem – und vollkommen nervtötendem – Tonfall. „Du hast keine Ahnung, wozu das DPI fähig ist. Sie haben ein Betäubungsmittel entwickelt, das uns hilflos macht.“

„Ich weiß. Und ich weiß von deinem Zusammenstoß mit ihnen in Connecticut, als sie Eric und die kleine Tamara fast erwischt hätten.“

Roland zog die Brauen hoch. „Und woher weißt du das alles?“

„Ich beobachte dich, Darling.“ Sie lächelte. „Und ich verfolge das Treiben dieses Wissenschaftlers St. Claire seit Jahren. Er hat mich eine Zeit lang in seinem Labor gefangen gehalten, weißt du.“

Er sog zischend die Luft ein, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. Sie hätte laut auflachen können. Wenigstens eine Gefühlsregung!

„Mein Gott, ich hatte ja überhaupt keine Ahnung. Wann … wie …“ Er verstummte und schüttelte den Kopf. „Hat er dir wehgetan?“

Wärme erfüllte sie. „Schrecklich“, gestand sie mit einem ansatzweisen Schmollen. „Aber nur kurze Zeit. Als ich floh, musste ich seinem Partner leider das Genick brechen.“

Roland schüttelte den Kopf und machte die Augen zu. „Du hättest mich rufen können. Ich wäre gekommen …“

„Oh, hör auf, Roland. Bis du eingetroffen wärst, war ich längst wieder frei. Kein Mensch kann Rhianikki bezwingen, Prinzessin des Nils, Tochter des Pharaos, unsterbliche Vampirin für alle Zeiten …“

Sie wusste, dass er sein Gelächter unwillkürlich von sich gab, nahm die Schönheit seines Lächelns in sich auf und wünschte sich, sie könnte ihn viel öfter dazu bringen. Manchmal lauerte eine Dunkelheit in Rolands Augen. Ein Geheimnis, das ihn quälte und das er keinem je preisgab.

Als sein Lachen verstummt war, wandte er sich ab und ging weiter. „Sag mir, woher du weißt, dass sich dieser DPI-Agent in L’Ombre aufhält.“

„Seit mich St. Claire beinahe erwischt hätte, behalte ich die Organisation genau im Auge. Ich habe Spione im Inneren. Die halten mich auf dem Laufenden.“

Er nickte. „Dann bist du etwas vernünftiger, als ich dir zugetraut habe. Du weißt natürlich, dass St. Claire tot ist.“

Sie nickte. „Aber sein Protegé Curtis Rogers nicht.“

Roland blieb erneut stehen. „Das kann nicht sein. Tamara hat ihn erschossen, als er sich gerade größte Mühe gab, Eric zu töten.“

„Sie hat auf ihn geschossen und dachte, er wäre tot, aber das war er nicht. Er wurde wenig später gefunden und überlebte. Er ist nach Frankreich gekommen, um dich zu suchen, Roland. Er will sich rächen.“

„An mir?“

„An dir, Eric, Tamara … und dem Jungen, fürchte ich.“

Sie sah, wie Roland das bisschen Farbe aus dem Gesicht wich. Sie wusste schon, wie viel ihm das Kind bedeutete, das er vor zwei Jahren gerettet hatte. Der Junge war einer der Auserwählten, ein Mensch, den ein unsichtbares Band mit den Unsterblichen verband. Das DPI wusste das und hatte versucht, ihn als Köder zu benutzen. Zweifellos würden sie das ohne zu zögern wieder tun. Rhiannon wusste das alles, aber als sie seine heftige Reaktion auf eine potenzielle Bedrohung für den Knaben aus erster Hand erlebte, begriff sie erst, wie viel er ihm wirklich bedeutete. Sie spürte die Gefühlsaufwallungen, die ihn ergriffen, und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

„Jamey“, flüsterte er. „Der Dreckskerl hatte ihn schon einmal in den Fingern. Er hätte ihn fast umgebracht.“

„Und jetzt weißt du, warum ich gekommen bin.“

Er runzelte fragend die Stirn, da fuhr sie hastig fort: „Um dir meine Hilfe beim Schutz des Jungen anzubieten.“

„Edel, aber unnötig. Ich kann Jamey allein beschützen. Ich dulde nicht, dass du dich meinetwegen in Gefahr begibst. Es wäre wesentlich besser, wenn du Frankreich sofort wieder verlassen würdest.“

„Für deinen Seelenfrieden, meinst du?“

Sie sah ihm prüfend ins Gesicht und merkte daran, wie er den Blick abwandte, dass sie mit ihrer Mutmaßung ins Schwarze getroffen hatte. „Demnach bin ich dir nicht so gleichgültig, wie du immer tust?“

„Wann war ich dir gegenüber jemals gleichgültig, oh Göttin unter den Frauen?“

Sie lächelte fast. „Jedenfalls ist mir dein Seelenfrieden vollkommen egal. Es bereitet mir sogar ein gewisses Vergnügen, dich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und ich bleibe, ob es dir gefällt oder nicht. Und wenn ich dir nicht dabei helfen darf, den Jungen zu beschützen, dann suche ich ganz einfach diesen Rogers auf und sauge ihn bis auf den letzten Tropfen aus. Damit sollte das Problem gelöst sein.“

„Rhianik… Rhiannon, dir ist doch sicher klar, dass die Ermordung eines DPI-Agenten nur weitere Ermittlungen nach sich ziehen wird.“ Er holte abgehackt Luft. „Töten ist selten eine Lösung.“

Sie zuckte die Achseln, behielt ihn aber stets mit verstohlenen Blicken unter dunklen Wimpern im Auge. Es bereitete ihr unbändige Freude, ihn zu ködern! „Die erfahren nie, was aus ihm geworden ist. Ich mahle ihn klein und verfüttere ihn an meine Katze.“

Roland verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf.

„Vielleicht foltere ich ihn zuerst. Was meinst du? Bambussprösslinge unter die Nägel? Wirkt meistens. Wir könnten alle Geheimnisse des DPI erfahren, und …“

„Um Gottes willen, Frau!“ Er packte sie fest an den Schultern, während er sie anbrüllte, doch sein entsetzter Gesichtsausdruck verschwand, als sie in hilfloses Gelächter ausbrach.

Er seufzte, schüttelte den Kopf und lockerte den Griff um ihre Schultern. Doch ehe er die Hände ganz wegnehmen konnte, hielt sie ihn an den Unterarmen fest. „Nein, Roland, nicht.“

Er blieb reglos und mit unbewegter Miene stehen, als sie ihm die Arme um die Taille legte und ihn zu sich zog. Sie bettete den Kopf an seine kräftige Schulter. Mit einem Seufzer widerwilligen Einverständnisses nahm Roland sie in die Arme und drückte sie an sich.

Rhiannon schloss die Augen und spürte nur seine Nähe. Seine unterdrückte Kraft, seinen beschleunigten Herzschlag, seinen Atem, der über ihr Haar strich.

„Ich habe dich vermisst, Roland“, flüsterte sie. Sie wandte das Gesicht ein wenig ab und liebkoste seinen Hals mit den Lippen. „Und du hast mich vermisst, auch wenn du es nicht zugeben magst.“

Sie spürte das Erschauern, das sie in ihm auslöste. Er nickte. „Ich gebe es zu, ich habe dich vermisst.“

„Und du begehrst mich“, fuhr sie fort und hob den Kopf gerade weit genug, dass sie ihm dabei in die Augen sehen konnte. „Wie du keine andere je begehrt hast … und je begehren wirst. Du missbilligst alles, was ich bin und was ich tue, aber du willst mich, Roland. Ich spüre es selbst jetzt, in dieser einfachen Umarmung.“

„Zurückhaltung war nie deine Stärke, Rhiannon.“ Er löste ihre Arme von sich, trat zurück und ging mit ihr weiter, ohne sie zu berühren.

„Du leugnest es?“

Er lächelte zaghaft. „Ich möchte gern im Sonnenschein spazieren gehen, Rhiannon, doch das wäre mein Tod. Was man sich wünscht, ist nicht zwangsläufig das, was man haben sollte.“

Sie runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. „Ich hasse es, wenn du in Metaphern oder Parabeln sprichst, oder wie immer man deine albernen Worte auch nennen mag.“

Er schüttelte den Kopf. „Wie lange wirst du diesmal bleiben, mein kleiner Vogel?“

„Wenn du das Thema wechselst, ändert das nichts an deinen Gefühlen, weißt du.“

„Das war eine einfache Frage. Wenn du sie nicht beantworten kannst …“

„Beantworte meine, dann beantworte ich deine. Willst du mich?“

Er verzog das Gesicht. „Eine Närrin, die eine Frage stellt, deren Antwort sie bereits kennt.“

„Ich möchte hören, wie du es sagst.“ Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen. „Sag, dass du mich willst.“

Roland ließ den Blick langsam über ihren Körper wandern; sie spürte ein Brennen, wann immer er verweilte. Schließlich nickte er. „Ich will dich, Rhiannon. Aber ich werde nicht …“

Sie hielt die Hände hoch. „Das genügt. Verdirb es nicht.“

Er biss sich auf die Innenseite der Wange, und sie spürte, wie sein Zorn anschwoll. „Und jetzt meine Frage, Verführerin. Wie lange bleibst du?“

„Ich bin gekommen, um zum Schutz des Jungen beizutragen. Ich denke, ich werde bleiben, bis die Gefahr gebannt ist, und …“

„Und?“ Er studierte ihr Gesicht mit heftig gerunzelter Stirn.

Sie versuchte, nicht zu lächeln, als sie antwortete: „Und bis ich dir genau das gegeben habe, was du willst, Roland.“