Der junge Marius verschwendete keine Sekunde an solche Überlegungen. Als Sohn eines sagenhaft reichen Mannes hatte er es nie nötig gehabt, sich um Geld zu sorgen; sei es das Geld, sich irgendeinen kostspieligen Wunsch zu erfüllen, oder das Geld, um seine Legionen zu bezahlen. Wenn der alte Gaius Marius jemals mit jemandem über die finanziellen Aspekte der Kriegführung gesprochen hatte, dann mit dem jungen Caesar während der Monate, die er dem alten Mann geholfen hatte, sich von seinem zweiten Schlaganfall zu erholen. Mit seinem Sohn hatte er sich so gut wie nie unterhalten, denn zu der Zeit, da Gaius Marius seinen Sohn nötig gehabt hätte, hatte der junge Marius bereits ein Alter erreicht, in dem die Vergnügungen Roms ihn mehr lockten als die Hilfsbedürftigkeit seines Vaters. So kam es, daß Gaius Marius den Großteil seiner Lebensweisheiten Caesar anvertraute. Und Caesar hatte begierig einen Schatz an Wissen in sich aufgesogen, dessen größter Teil mit seiner Ernennung zum Jupiterpriester jedoch mehr als wertlos geworden war.
Mitte März erreichte das Tauwetter auch Rom. Der junge Marius und seine Legaten verließen die Stadt und schlugen ihr Lager in der Nähe des Dörfchens Ad Pictas an der Via Labicana auf, einer Nebenstraße, die das Albanergebirge umging und sich wieder mit der Via Latina vereinte. Auf einer Ebene nahe dem Städtchen Sacriportus kampierten seit dem frühen Winter acht Legionen etrurischer und umbrischer Freiwilliger; sie hatten in hartem Drill, soweit es die Kälte eben zugelassen hatte, das Kriegshandwerk erlernt. Ihre Zenturionen waren allesamt Veteranen und geübte Zuchtmeister aus dem Heer des Marius. Und doch stand Marius, der gegen Ende März das Lager erreichte, vor einer Armee unerfahrener Bauernburschen. Nicht daß er besorgt gewesen wäre; im Gegenteil, er war davon überzeugt, daß auch noch der unerfahrenste Legionär genauso unermüdlich und tapfer für ihn kämpfen würde, wie die schlachterprobten Soldaten seines Vaters für ihn gefochten hatten. Mit ungetrübter Zuversicht zog der junge Marius gegen Sulla ins Feld.
Keiner der Männer in dem Lager, die sehr viel deutlicher als ihr Feldherr die Gewaltigkeit des Vorhabens erkannten, versuchte diesen aufzuklären. Wären sie nach dem Grund für ihr Schweigen gefragt worden, hätten sie wahrscheinlich geantwortet, daß Marius bei all seinem großspurigen Gehabe nicht die innere Stärke besaß, eine Wahrheit von solchem Ausmaß zu akzeptieren. Er war ihr strahlender Held, er durfte keinen Kratzer abbekommen, er mußte bejubelt und beschützt werden.
Als dem jungen Marius von seinen Spionen berichtet wurde, daß Sulla sich zum Aufbruch rüste, brach er in lauten Jubel aus. Offensichtlich hatte Sulla nämlich elf seiner achtzehn Legionen mitsamt der beinahe vollständigen Reiterei unter das Kommando von Metellus Pius gestellt und in Richtung auf die Adriatische Küste und Ariminum in Bewegung gesetzt. Somit blieben Sulla nur sieben Legionen.
»Jetzt kann ich ihn schlagen«, sagte der junge Marius zu seinem Legaten Gnaeus Domitius Ahenobarbus.
Ahenobarbus war mit Cinnas ältester Tochter verheiratet und so vernarrt in seine schöne rothaarige Frau, daß er ihr aus der Hand fraß und jeden Wunsch von den Augen ablas. Das war auch der Grund, warum er sich, entgegen einer natürlichen Sympathie für Sulla, auf Carbos Seite geschlagen hatte. Daß die meisten seiner engsten Verwandten entweder strikt neutral geblieben waren oder sich mit Sulla verbündet hatten, übersah er dabei geflissentlich.
Je länger Ahenobarbus aber dem frohlockenden jungen Marius zuhörte, desto weniger wohl fühlte er sich in seiner Haut. Vielleicht, dachte Ahenobarbus bei sich, sollte er besser darüber nachdenken, wie und wohin er fliehen könnte, sollte der junge Marius seinen großen Worten keine Taten folgen lassen und gegen den alten Fuchs Sulla unterliegen.
Am ersten Tag des April gab der junge Marius den Befehl zum Aufbruch und zog mit seiner Armee an Sacriportus vorbei auf die Via Latina, der er Richtung Campania nach Südosten folgte, von wo aus Sulla sich ihm näherte. Er verschwendete keine Zeit, galt es doch, auf einer Strecke von fünf Meilen zwei Brücken zu überqueren, und die wollte er auf jeden Fall vor dem Feind überschritten haben. Keiner seiner Legaten wies ihn darauf hin, daß es besser gewesen wäre, an und Ort und Stelle auf Sulla zu warten, anstatt ihm entgegenzueilen. Marius selbst, der die Via Latina immerhin schon ein gutes Dutzend Male bereist hatte, besaß weder ein Gedächtnis für Geländeformationen noch ein Auge für militärisch günstige Positionen.
An der ersten, sich über den Veregis spannenden Brücke hielt er sich hinter seinen in Hochstimmung voranrückenden Truppen zurück. Obwohl Marius an dieser Stelle erstmals Zweifel kamen, ob ihnen nicht die Gegend um Sacriportus bei einem Kampf gegen Sulla mehr Vorteile geboten hätte als das vor ihnen liegende Gelände, ließ er nicht haltmachen. Erst bei der zweiten Brücke, die über den größeren und reißenderen Tolerus führte, ging ihm auf, daß er immer tiefer in ein Gelände vorstieß, das seinen Legionen kaum mehr Raum zum Manövrieren ließ. Als dann auch noch Kundschafter mit der Nachricht eintrafen, Sulla habe bereits das nur rund zehn Meilen entfernte Ferentinum erreicht und nähere sich schnell, verlor der junge Marius die Nerven.
»Am besten, wir ziehen uns nach Sacriportus zurück«, wandte er sich an Ahenobarbus. »Hier kann ich meine Truppen nicht wie vorgesehen in Stellung bringen. Genausowenig aber können wir jetzt noch an Sulla vorbei auf offenes Terrain vorstoßen. Denkst du nicht auch, es wäre besser, ihn bei Sacriportus zu erwarten?«
»Wie du meinst«, antwortete Ahenobarbus zurückhaltend, da er sich bewußt war, welche Auswirkungen der Befehl zur Kehrtwendung und zum Rückmarsch auf ihre unerfahrenen Truppen haben würde. Doch er verlor kein Wort über seine Zweifel und befahl den Soldaten: »Zurück nach Sacriportus!«
»Im Schnellschritt!« setzte der junge Marius hinzu, dessen Hochgefühl einem rasch um sich greifenden Gefühl der Panik Platz machte.
Ahenobarbus warf ihm einen überraschten Seitenblick zu, zog es aber erneut vor, sich eines Kommentars zu enthalten. Wenn der junge Marius seine Armee, unbedingt über mehrere Meilen im Eiltempo hetzen wollte, was ging das ihn an? Eine Aussicht auf Sieg besaßen sie so oder so nicht.
So mußten die acht Legionen den Weg nach Sacriportus im Laufschritt zurücklegen. Die Zenturionen, angesteckt von Marius’ plötzlicher Panik, brüllten die jungen Soldaten an, verdammt nochmal ihre Füße in die Hände zu nehmen und sich in Bewegung zu setzen. Die allgemeine Hektik brachte den jungen Marius noch mehr aus der Fassung. Er ritt neben seinen verängstigten Soldaten her und trieb sie zu immer größerer Eile an. Dabei kam es ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn, seinen Männern auseinanderzusetzen, daß sie sich nicht auf dem Rückzug befanden, sondern sich lediglich auf besseres Terrain zurückzogen. Schließlich bezogen die Truppen und ihr Feldherr zwar auf vorteilhaftem Gelände Stellung, waren aber weder körperlich noch stimmungsmäßig in der Lage, aus diesem Vorteil auch Kapital zu schlagen.
Wie alle seine Standesgenossen war der junge Marius zwar auch in der Kunst der Schlachtenführung unterrichtet worden, aber bisher hatte er einfach angenommen, daß der Scharfsinn und die Weisheit seines Vaters ihn auf dem Schlachtfeld inspirieren würden, inspirieren mußten. Jetzt, zurück in Sacriportus, stand er inmitten seiner Legaten und Militärtribunen, die auf seine Befehle warteten, und er konnte nicht mehr denken, konnte nicht ein einziges Jota des Scharfsinns und der Weisheit seines Vaters in sich entdecken.
»Die Legionen sollen sich in Manipeln anordnen«, befahl er schließlich, »mit je acht Mann an den Seitenlinien einer jeden Zenturie. Zwei Legionen sollen sich im Hintergrund in einer Linie aufstellen und als Reserve bereithalten.«
Das waren zwar keine guten Befehle, aber niemand wagte, ihn zu kritisieren. Anstatt nun den angeschlagenen Kampfgeist seiner ausgelaugten, schwer atmenden Soldaten mit einer flammenden Rede wieder aufzurichten, trieb Marius sein Pferd an den Rand der Ebene und starrte mit hängenden Schultern ins Leere.
Sulla stand auf einem Hügel zwischen dem Veregis und Sacriportus und erkannte mit einem Blick, wie einfältig der Schlachtplan des jungen Marius war. Er seufzte tief auf, zuckte mit den Achseln und sandte seine fünf Veteranen-Legionen unter dem älteren Dolabella und Servilius Vatia aus. Die beiden kampferprobtesten Legionen von Scipio Asiagenus’ alter Streitmacht hielt er unter dem Kommando von Lucius Manilus Torquatus als Reserve zurück, während er selbst mit einer berittenen Schwadron auf dem Hügel blieb. Die Reiter sollten für den Fall, daß ihr Feldherr sich gezwungen sah, seine Taktik zu ändern, die entsprechenden Befehle schnellstmöglich den Kommandeuren auf dem Schlachtfeld übermitteln. An Sullas Seite stand kein Geringerer als der alte Lucius Valerius Flaccus Princeps Senatus. Flaccus hatte sich Anfang Februar zu einem Entschluß durchgerungen und hatte, noch mitten im tiefsten Winter, Rom verlassen und Sulla aufgesucht.
Der junge Marius gewann seine Fassung, wenn auch nicht seinen Siegesmut, in dem Augenblick wieder, als er Sullas Armee heranrücken sah. Ohne eine plausible Vorstellung davon, was er tun könnte oder was zu tun sei, übernahm er das Kommando über den linken Flügel seiner Armee. Um die Mittagszeit dieses kurzen Wintertages kreuzten die beiden Armeen erstmals ihre Schwerter. Kaum eine Stunde später flohen die etrurischen und umbrischen Bauernsöhne, die sich voller Heldenmut dem jungen Marius angeschlossen hatten, in alle Himmelsrichtungen vor Sullas kampferprobten Legionären, die leichtes Spiel mit ihnen hatten. Eine der beiden Legionen, die der junge Marius als Reserve zurückgehalten hatte, lief geschlossen zu Servilius Vatia über und sah tatenlos zu, wie ihre ehemaligen Bundesgenossen praktisch zu ihren Füßen abgeschlachtet wurden.
Der Anblick der desertierten Legion gab dem jungen Marius den Rest. In höchster Not fiel ihm ein, daß die uneinnehmbare Burgstadt Praeneste nicht weit östlich von dem Schlachtfeld lag, und er befahl den sofortigen Rückzug in die Festung. Jetzt, da er ein greifbares Ziel vor Augen hatte, fühlte er sich besser, und es gelang ihm, seinen linken Flügel einigermaßen geordnet zum Rückzug zu führen. Ofella, der den rechten Flügel von Sullas Armee kommandierte, setzte mit einer solchen Geschwindigkeit und Wildheit hinter dem jungen Marius her, daß Sulla, der die Aktion von dem Hügel aus beobachtete, spontan applaudierte. Über zehn Meilen hinweg griffen Ofellas Soldaten Marius’ Truppen immer wieder an, kesselten hier und da Nachzügler ein, machten sie nieder und setzten dann wieder dem Haupttroß nach. Der junge Marius bemühte sich zwar verzweifelt, die Verluste so gering wie möglich zu halten, aber am Ende gelang es nur siebentausend seiner Männer, sich mit ihm hinter die mächtigen Stadttore von Praeneste zu retten.
Das Zentrum seiner Armee war fast bis zum letzten Mann aufgerieben worden, aber wenigstens war es dem rechten Flügel unter der Führung Ahenobarbus’ gelungen, auszubrechen und sich auf Norba zurückzuziehen. Norba, eine uralte Hochburg der Volsker, die in unerschütterlicher Treue zu Carbo hielt, thronte auf einer Bergspitze rund zwanzig Meilen in südwestlicher Richtung und öffnete Ahenobarbus’ zehntausend Soldaten nur zu gerne die Tore ihrer unüberwindbaren Mauern. Aber nicht für Ahenobarbus! Der wünschte seinen erschöpften Soldaten einen guten Tag und floh weiter bis zur Küste bei Tarracina, wo er sich nach Africa einschiffte, den am weitesten von Rom entfernten Ort, an dem zu leben er sich vorstellen konnte.
Inzwischen frohlockte der junge Marius, der keine Ahnung von Ahenobarbus’ heimlicher Flucht hatte. Sulla würde große, wenn nicht gar unüberwindbare Schwierigkeiten haben, ihn aus Praeneste zu vertreiben. Rund dreiundzwanzig Meilen von Rom entfernt lag Praeneste auf den Höhen eines Ausläufers der Apenninen, eine Lage, die der Stadt geholfen hatte, über Jahrhunderte hinweg alle Angriffe auf ihre gewaltigen Mauern abzuwehren.
Hinter der Stadt schlossen sich höhere, steilere Berge an. Keine Armee konnte die Stadt aus dieser Richtung angreifen; dabei war es möglich, über kleine, aus den Bergen herabführende Pfade Versorgungsmittel herbeizuschaffen und so jeden Versuch zu unterlaufen, die Stadt auszuhungern. Zudem fanden sich zahlreiche Quellen innerhalb der Burgmauern, und in den riesigen Kavernen unterhalb des mächtigen Schreins der Fortuna Primigenia, für den Praeneste so berühmt war, lagerten viele medimni Weizen, zahllose Amphoren Öl und Wein und andere unverderbliche Nahrungsmittel wie harter Käse und getrocknete Weintrauben neben Äpfeln und Birnen aus der letztjährigen Ernte.
Obwohl Praeneste latinischen Ursprungs war und die Bürger der Stadt das hier gesprochene Latein für die älteste und reinste Form dieser Sprache hielten, hatte die Stadt sich nie mit Rom verbündet. Während des Bundesgenossenkrieges hatte die Stadt auf seiten der italischen Verbündeten gefochten, und auch jetzt noch verachteten die Bürger Praenestes die Römer als Emporkömmlinge. Kein Wunder also, daß sie den jungen Marius mit offenen Armen empfingen. Immerhin war er der Sohn des Gaius Marius und ein Aufständischer gegen Sullas furchtbare Macht.
Zum Dank für den herzlichen Empfang wies der junge Marius seine Soldaten an, Stoßtrupps zu bilden, die über die Schleichwege hinter der Stadt ins Bergland ausschwärmten und so viel Nahrungsmittel wie möglich in die Stadt karrten. Praeneste hatte jetzt viele zusätzliche Münder zu stopfen.
»Spätestens im Sommer wird Sulla seine Truppen abziehen müssen. Dann kannst du die Stadt wieder verlassen«, verkündete der oberste Magistrat der Stadt.
Eine Prophezeiung, die sich als unzutreffend herausstellen sollte. Kaum eine Marktwoche nach der Schlacht von Sacriportus begannen Sullas Truppen sich auf eine Belagerung einzurichten. Angesichts des Umfangs der Unternehmung mußten der junge Marius und mit ihm die Bürger der Stadt erkennen, daß Sulla Praeneste um jeden Preis in die Knie zwingen wollte. Die Stadt lag an einer Wasserscheide. Die den Ausläufer Richtung Rom entwässernden Bäche mündeten früher oder später in den Anio, die in die andere Richtung fließenden Wasserläufe ergossen sich in den Tolerus. Sullas Soldaten zogen mit einer Geschwindigkeit, welche die eingeschlossenen Zuschauer in höchstes Erstaunen versetzte, eine gewaltige Mauer von der zum Anio abfallenden Seite bis zu der zum Tolerus abfallenden Seite des Höhenzugs. Es war absehbar, daß Praeneste, wenn dieses gewaltige Bauwerk erst einmal fertiggestellt war, nur noch über die durch die Berge führenden Schleichpfade erreicht — und verlassen — werden konnte. Vorausgesetzt natürlich, daß diese nicht bewacht wurden.
Die Nachricht von Sullas Sieg bei Sacriportus erreichte Rom, noch bevor die Sonne über jenem schicksalhaften Tag unterging. Doch diese Nachricht war nicht für die Allgemeinheit bestimmt, die sich mit vagen Gerüchten begnügen mußte. Der junge Marius hatte, kaum daß die Stadttore Praenestes hinter ihm zugefallen waren, in größter Eile einen Brief diktiert und per Boten an den Stadtprätor Lucius Junius Brutus Damasippus übermittelt.
Südlich von Rom ist alles verloren. Wir können nur noch darauf hoffen, daß Carbo oben in Ariminum ein zu großer Fisch für Sulla ist, und sei es nur aufgrund seiner starken zahlenmäßigen Überlegenheit. Carbos Soldaten sind besser, als meine es waren, deren Mangel an Ausbildung und Erfahrung so gravierend war, daß sie kaum eine Stunde gegen Sullas altgediente Recken standhielten.
Das Beste wird sein, Du richtest Rom auf eine Belagerung ein, obwohl es sich vielleicht als unmöglich erweisen wird, eine so große und in ihren Loyalitäten so sehr zersplitterte Stadt zu verteidigen. Falls Rom sich weigert, sich auf eine Belagerung einzurichten, mußt Du innerhalb einer Marktwoche mit Sullas Einzug in die Stadt rechnen. Zwischen hier und Rom stehen keine Truppen mehr, die ihn aufhalten könnten. Ob er tatsächlich beabsichtigt, Rom zu besetzen, weiß ich nicht. Ich hoffe, er läßt die Stadt links liegen und wendet sich statt dessen gegen Carbo. Wenn ich bedenke, was mir mein Vater über Sulla berichtet hat, dann ist es am wahrscheinlichsten, daß er mit Hilfe von Metellus Pius Carbo in die Zange nehmen will. Ich wünschte, ich wüßte, was er vorhat. Doch ich weiß nur eins: Rom jetzt zu besetzen, wäre verfrüht. Und ich glaube kaum, daß Sulla solch einen Schnitzer begehen wird.
Es kann durchaus noch einige Zeit dauern, bis ich Praeneste wieder verlassen werde. Die Stadt hat mich bereitwillig aufgenommen — ihre Bürger erinnern sich voll Liebe an Gaius Marius und haben nicht gezögert, seinem Sohn zu Hilfe zu kommen. Sei versichert, sobald Sulla von hier abrückt und gegen Carbo ins Feld zieht, werde ich Praeneste verlassen und Rom zu Hilfe kommen. Vielleicht werden die Bürger Roms sich verteidigungswilliger zeigen, wenn ich wieder in der Stadt bin.
Im übrigen scheint es mir an der Zeit, Sullas letzte Vipernnester in unserer geliebten Stadt auszuräuchern. Töte sie alle, Damasippus. Laß Dich nicht von Deinem Herzen erweichen! Jeder Mann, der für Sulla steht und noch am Leben ist, erschwert es Rom, ihm zu widerstehen. Wenn wir aber einmal die großen Fische erledigt haben, die uns ernsthaft Schwierigkeiten bereiten könnten, dann werden die kleinen kuschen, ohne zu murren. Danach müssen alle waffenfähigen Männer Rom verlassen und sich Carbo anschließen. Das gilt auch für Dich, Damasippus.
Im folgenden die Namen einiger sullascher Vipern, die mir so aufs Geratewohl einfallen. Unser Pontifex Maximus. Der ältere Lucius Domitius Ahenobarbus. Carbo Arvina. Publius Antistius Vetus. Was das übrige Gewürm angeht, das ich nicht erwähnt habe, so verlasse ich mich ganz auf Dein Gedächtnis.
Brutus Damasippus erwies sich als sehr gehorsam. Bereits während des kurzlebigen, aber um so umfassenderen Terrors, den der alte Gaius Marius kurz vor seinem Tod über die Stadt gebracht hatte, war der Pontifex Maximus Quintus Mucius Scaevola aus keinem ersichtlichen Grund niedergestochen worden. Fimbrius, sein Möchtegern-Mörder, hatte, damals zur Rede gestellt, nur laut gelacht und nichts weiter geantwortet. Obwohl die Verletzung ernst gewesen war, hatte Scaevola überlebt und war, zäh und tapfer wie er war, bereits nach zwei Monaten wieder auf den Beinen. Diesmal aber gab es kein Entkommen, da half Scaevola auch die Tatsache nicht, daß er der Schwiegervater des jungen Marius war und diesen nie verraten hatte. Er wurde bei dem Versuch, im Tempel der Vesta Zuflucht zu suchen, niedergestreckt.
Der ältere Lucius Domitius Ahenobarbus, der nur kurz nach seinem Bruder, dem reformistischen Pontifex Maximus, zum Konsul gewählt wordfen war, wurde in seinem Haus ermordet. Zweifellos hätte Pompeius Magnus lautstark Beifall geklatscht, hätte er gewußt, daß er nun seine Hände nicht mehr mit dem Blut seines Schwiegervaters würde beflecken müssen. Auch Publius Antistius wurde ermordet, woraufhin sich seine Frau vor lauter Kummer das Leben nahm. Als sich Brutus Damasippus durch die Liste der Männer, die ihm eine Gefahr für Carbos Rom schienen, gearbeitet hatte, schmückten rund dreißig Köpfe die Rostra im unteren Forum Romanum, und selbst Männer, die sich neutral nannten, wie Catulus, Lepidus und Hortensius, verriegelten die Türen ihrer Häuser und hüteten sich, auf die Straße hinauszugehen, aus Angst, einer von Brutus Damasippus’ Meuchelmördern könnte auf den Gedanken kommen, daß auch sie den Tod verdient hätten.
Nach vollbrachter Tat flohen Brutus Damasippus und der praetor peregrinus Gaius Albius Carrinas aus Rom und schlossen sich Carbo an. Auch der für die Münzprägung zuständige Prätor Quintus Antonius Balbus verließ Rom an der Spitze einer Legion und mit dem Auftrag, Philippus Sardinien streitig zu machen.
Am meisten Aufsehen erregte Volkstribun Quintus Valerius Soranus. Soranus, ein hervorragender, den Prinzipien der Humanität verpflichteter Gelehrter, war empört über das Abschlachten von Männern, denen nicht die geringste Verbindung zu Sulla nachgewiesen werden konnte. Aber wie sollte er mit seinem Protest ganz Rom erreichen? Wie konnte er allein ganz Rom zerstören? Denn Quintus Valerius Soranus war zu dem Schluß gekommen, daß die Welt friedlicher wäre, wenn es Rom nicht mehr gäbe. Nach einigem Nachdenken fand er eine Lösung. Er stieg auf die Rostra, stellte sich zwischen den blutigen Trophäen des Brutus Damasippus auf und brüllte mit der ganzen Kraft seiner Lungen den geheimen Namen Roms hinaus.
»AMOR!« gellte seine Stimme von der Rostra herunter, und immer wieder: »AMOR!«
Die, die ihn hörten und verstanden, hielten sich entsetzt die Ohren zu und rannten zu Tode erschreckt davon. Roms geheimer Name durfte niemals laut ausgesprochen werden. Wer das tat, gab Rom und alles, wofür es stand, dem Untergang preis, zog Tod und Verderben auf die Stadt. Nachdem Soranus dem Himmel, den Göttern und den entsetzten Menschen den geheimen Namen der Stadt Rom ins Gesicht geschrieen hatte, Rom aber immer noch auf seinen sieben Hügeln ruhte, floh er verwundert nach Ostia. Dort schiffte sich Soranus, der auf der Liste beider Seiten jetzt ganz oben stand, nach Sizilien ein.
Weder tat sich der Boden auf und verschluckte die Stadt, noch regnete es Feuer vom Himmel. Rom war zwar regierungslos, aber stand fest wie eh und je. Die Menschen gingen ihren alltäglichen Tätigkeiten nach, die neutralen Ritter schoben die Riegel an ihren Toren zurück, steckten vorsichtig den Kopf hinaus und wagten sich langsam wieder auf die Straßen. Über das, was geschehen war, verloren sie nicht ein Wort. Rom wartete gespannt darauf, was Sulla tun würde.
Und Sulla kam. Aber leise und ohne seine Armee, die ihm den Rücken freigehalten hätte.
Sulla sah keinen zwingenden Grund, Rom nicht zu betreten, aber zahlreiche Gründe, es zu tun. Fragen wie die nach seinem Imperium — und ob er es in dem Moment aufgab, da er die geheiligte Grenze des pomerium überschritt — kümmerten ihn wenig. Wer hätte ihn in Rom denn noch herausfordern, wegen Übertretung der Gesetze anklagen oder seine Macht aus religiösen Gründen in Frage stellen können? Wenn er nach Rom zurückkehrte, dann als Eroberer und Herr über Rom, mit jeder Vollmacht ausgestattet, die er brauchte, um sein Ziel zu vollenden. Ohne jeden Skrupel überschritt er die heilige Stadtgrenze und machte sich sofort daran, der Stadt eine Regierung zurückzugeben.
Der höchste Amtsinhaber, der nach Damasippus’ Blutbad in Rom noch aufzutreiben war, war einer der beiden Brüder Magius aus Aeclanum im Range eines Prätors. Sulla übertrug Magius die Regierungsgewalt und stellte ihm die Ädilen Publius Furius Crassipes und Marcus Pomponius zur Seite. Als ihm von Soranus’ Sakrileg berichtet wurde, fuhr es ihm kalt den Rücken hinunter. Der bluttriefende Zaun aus aufgespießten Köpfen jedoch, der die Rostra umgab, ließ ihn völlig kalt. Trotzdem befahl er, die Häupter abzunehmen und gemäß den Riten zu bestatten, Sulla hielt weder eine Rede an das Volk, noch rief er den Senat zusammen.
Nicht einmal ein ganzer Tag war vergangen, seit Sulla die Stadt betreten hatte, und schon war er wieder unterwegs nach Praeneste. Aber nicht, ohne unter Torquatus’ Kommando zwei Schwadronen Reiterei in der Stadt zurückzulassen, um, wie er mit sanfter Stimme gesagt hatte, dem Magistrat dabei zu helfen, die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Sulla hatte nicht versucht, Aurelia zu sehen. Als sie erfuhr, daß er die Stadt wieder verlassen hatte, setzte sie vor ihrer Familie und vor allem vor Caesar eine gleichgültige Miene auf. Caesar wußte, daß das Treffen seiner Mutter mit Sulla bei Teanum sehr bedeutungsvoll gewesen war, aber er wußte auch, daß sie ihm nichts davon erzählen würde.
Der Legat, den Sulla mit der Organisation der Belagerung von Praeneste beauftragt hatte, war der Überläufer Quintus Lucretius Ofella.
»Ich will, daß der junge Marius den Rest seiner Tage in Praeneste fristen muß«, hatte Sulla Ofella aufgetragen. »Du wirst eine dreißig Fuß hohe Mauer um Praeneste ziehen und alle zweihundert Schritt einen sechzig Fuß hohen Turm errichten. Zwischen der Stadt und der Mauer muß ein zwanzig Fuß tiefer und zwanzig Fuß breiter Graben ausgehoben und so dicht mit Spitzpfählen bepflanzt werden, wie das Rohrgras in den seichten Stellen im Fucinersee steht. Wenn du damit fertig bist, soll ein Teil der Soldaten hinter Praeneste in die Berge aufsteigen und die von der Stadt in den Hochapennin führenden Schleichwege bewachen. Niemand darf in die Stadt hinein, niemand aus ihr heraus. Ich will diesem hochnäsigen Versager unmißverständlich klarmachen, daß er hinter den Mauern von Praeneste verfaulen wird.«
Sulla verzog seine Lippen zu einem säuerlichen Lächeln. Anstelle der raubtierhaft langen Eckzähne, die er früher bei jedem Lächeln entblößt hatte, eröffnete sich jetzt der Blick auf einen zahnlosen Mund. Ofella erschauerte. »Dasselbe gilt für die Einwohner von Praeneste. Sie sollen keinen Augenblick vergessen, daß sie die Gesellschaft des jungen Marius ertragen müssen, solange sein Herz noch schlägt. Ich will, daß ihnen diese Nachricht jeden Tag sechsmal von einem Ausrufer kundgetan wird. Es ist eine Sache, einem liebenswerten jungen Mann mit wohlklingendem Namen zu Hilfe zu eilen, aber eine ganz andere, zu verstehen, daß dieser liebenswerte junge Mann Tod und Verderben mit in die Stadt geschleppt hat.«
Sulla ließ Ofella mit zwei Legionen vor Praeneste zurück und zog weiter in das nördlich von Rom gelegene Veii. Ofella und seine Soldaten legten sich mächtig ins Zeug. Glücklicherweise fanden sich in dieser Gegend dicke Schichten vulkanischen Tuffgesteins, das sich so leicht wie Käse schneiden ließ, aber hart wie Fels wurde, wenn es längere Zeit der Luft ausgesetzt war. So schritt der Mauerbau in rasantem Tempo voran, und auch der Wallgraben zwischen der Mauer und Praeneste wurde von Tag zu Tag tiefer. Die ausgehobene Erde wurde zu einem zweiten Wall aufgeschichtet, und innerhalb des weiten Niemandslands, das sich jenseits der Belagerungsanlagen erstreckte, blieb kein Baum stehen, der groß genug war, um als Rammbock Verwendung zu finden. Auch auf den Bergen hinter der Stadt wurde zwischen der Stadtmauer und den Lagern der Soldaten, welche die Schleichwege bewachten und damit die einzige Verbindung der Stadt nach außen blockierten, jeder größere Baum gefällt.
Ofella war ein strenger Baumeister. Er mußte sich bei Sulla einen Namen machen, und hier bot sich seine große Chance. Unablässig trieb er seine Männer an, die kaum Zeit fanden, sich über ihre schmerzenden Rücken und schlaffen Muskeln zu beklagen. Auch die Soldaten hatten einen Ruf zu gewinnen, denn die eine der beiden Legionen war bei Sacriportus von Marius abgefallen, während die andere einstmals auf das Kommando Scipio Asiagenus’ gehört hatte. Ihre Loyalität war noch nicht bewiesen, und eine gute, solide Mauer sowie ein tiefer Graben würden Sulla zeigen, daß sie sein Vertrauen verdient hatten. Alles, was sie hatten, waren ihre Hände und ihr Schanzgeschirr. Aber sie zählten über zehntausend Paar Hände und ebenso viele Schaufeln. Außerdem hatten sie fähige Zenturionen, die ihnen zeigten, wie man beim Bau einer Belagerungsanlage vorging. Und Ofella, ein typischer Römer, was die methodische Ausführung einer Aufgabe anging, war ein Baumeister, dem selbst ein Unternehmen von solch monumentalem Charakter kein allzu großes Kopfzerbrechen verursachte.
Innerhalb von zwei Monaten war Praeneste von einer Mauer und einem Wallgraben eingeschlossen. Das Mauerwerk war über acht Meilen lang und kreuzte die Via Praenestina und die Via Labicana an zwei Stellen, so daß die Straßen nur noch bis Tusculum und Bola befahrbar waren. Darüber hinaus war kein Verkehr mehr möglich, und den römischen Rittern und Senatoren, die wegen der Befestigungen ihre Landgüter nicht mehr erreichen konnten, blieb nichts anderes übrig, als untätig zu warten und den jungen Marius zu verfluchen. Die Bauern in der Gegend um Praeneste hingegen rieben sich schon jetzt die Hände: Wenn die Belagerung beendet und die Mauer geschliffen wurde, dann würden sie hier Tuffsteine im Überfluß finden, um Mauern, Häuser, Scheunen und Ställe zu bauen.
Vor Norba, wo Mamercus mit einer von Marcus Crassus frisch ausgehobenen Legion sabinischer Soldaten hingeeilt war, wurden ähnliche Anstrengungen unternommen, wenn auch bei weitem nicht im selben Umfang wie vor Praeneste. Mamercus hatte den Auftrag erhalten, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen, und er kam diesem Auftrag mit derselben unnachgiebigen und unspektakulären Effizienz nach, die ihn schon viele gefährliche Situationen erfolgreich hatte meistern lassen.
Sulla hatte in Veii die unter seinem Kommando verbliebenen fünf Legionen zwischen sich und Publius Servilius Vatia aufgeteilt. Vatia war mit zwei Legionen in das etrurische Küstenland marschiert, während Sulla und der ältere Dolabella mit den restlichen drei Legionen auf der Via Cassia in Richtung auf das weiter im Landesinneren gelegene Clusium vorgerückt waren. Es war Anfang Mai, und Sulla war mit dem, was er bisher erreicht hatte, sehr zufrieden. Wenn Metellus Pius sich ähnlich gut geschlagen hatte, dann standen die Chancen nicht schlecht, daß Sulla bis zum Herbst ganz Italien und das italische Gallien beherrschte.
Aber wie war es Metellus Pius und seinen Legionen ergangen? Sulla hatte, seit er auf der Via Cassia unterwegs war, kaum etwas von Metellus gehört. Doch Metellus war sein treuester Anhänger, Sulla hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeiten — und er war sehr neugierig zu hören, wie es Pompeius Magnus ergangen war. Nicht zufällig hatte er Metellus Pius das Kommando über den größeren Teil seiner Armee und Pompeius Magnus den Befehl über fünftausend Reitersoldaten übertragen, für die er bei seinen Aktionen im dichter besiedelten und ziemlich bergigen Landesinneren kaum Verwendung haben würde.
Metellus Pius war mit zwei seiner Legionen (unter dem Befehl seines Legaten Varro Lucullus), sechs ehemaligen Legionen des Scipio, den drei von Pompeius ausgehobenen Legionen und jenen fünftausend berittenen Soldaten, die Sulla Pompeius’ Oberbefehl unterstellt hatte, an die Küste des Adriatischen Meers gezogen.
Natürlich war Varro der Sabiner mit Pompeius unterwegs. Pompeius fand in ihm einen willigen und freundlichen Zuhörer und zudem einen willigen und freundlichen Chronisten für seine Gedanken.
»Ich muß mir Crassus gewogen stimmen«, sagte Pompeius auf ihrem Weg durch das Picenum. »Metellus Pius und Lucullus sind harmlos — und außerdem mag ich sie. Aber Crassus ist ein unzivilisierter Rohling und beiden weit überlegen. Ich muß ihn auf meiner Seite haben.«
»Der Winter mit Sulla hat dich ja doch etwas gelehrt«, sagte Varro, der auf einem kleinen Pferd ritt, und warf dem neben ihm auf seinem weißen Staatspferd reitenden Pompeius einen erstaunten Blick zu. »Es überrascht mich, daß du davon sprichst, dir einen Mann gewogen zu stimmen — außer Sulla natürlich.«
»Ja, ich habe etwas gelernt«, gestand Pompeius großmütig ein. Er sah Varro mit aufrichtiger Zuneigung an, dann lachte er. »Ach hör doch auf, Varro! Ich weiß zwar, daß ich auf dem besten Wege bin, Sullas wertvollster Gehilfe zu werden. Aber genauso bin ich in der Lage zu verstehen, daß Sulla auch andere Männer braucht. Doch vielleicht hast du ja recht«, fuhr er nachdenklich fort, »es ist das erste Mal, daß ich nicht unter dem Kommando meines Vaters kämpfe. Mein Vater war zwar ein großartiger Soldat, aber ihn interessierten nur seine Landgüter. Sulla ist anders.«
»Inwiefern?« Varro war neugierig geworden.
»Sulla liegt an den meisten Dingen herzlich wenig, und das schließt auch uns ein, die er seine Legaten oder Bundesgenossen oder wie auch immer es ihm gerade beliebt nennt. Selbst Rom ist ihm gleichgültig. Materielle Dinge, Geld, Ländereien — selbst die Größe seiner auctoritas oder sein öffentliches Ansehen, das alles bewegt ihn nicht.«
»Was aber dann?« rief Varro aus, der fasziniert war, einen Pompeius zu erleben, der weiter sah als er selbst.
»Vielleicht nichts außer seiner dignitas«, antwortete Pompeius.
Varro dachte lange darüber nach. Hatte Pompeius recht? Dignitas! Die am wenigsten faßbare Eigenschaft, die einen römischen Aristokraten ausmachte. Auctoritas beschrieb die Macht eines Mannes, seinen öffentlichen Einfluß, seine Fähigkeit, die Meinung der Massen zu beeinflussen und die öffentlichen Organe, vom Senat bis hin zum Schatzamt, zu steuern.
Dignitas war etwas anderes, war einerseits zutiefst persönlich, berührte aber auch alle Aspekte des öffentlichen Lebens eines Mannes. So schwer zu fassen! Aus diesem Grunde gab es ja auch ein Wort dafür. Dignitas war... Die äußere Ehre eines Mannes... ? Sein Ruhm? Dignitas vereinte in sich alles, was einen Mann ausmachte, es war die Summe seines persönlichen Stolzes, seiner Aufrichtigkeit, seiner Worte, seiner Intelligenz, seiner Verdienste, seiner Fähigkeiten, seines Wissens, seines Ansehens, seiner Wertschätzung... Dignitas überlebte den Tod eines Mannes, sie war die einzige Möglichkeit, über den Tod zu triumphieren. Ja, das war die beste Beschreibung. Dignitas war der Triumph eines Menschen über seine Auslöschung als lebendes Sein. Und so gesehen, dachte Varro, lag Pompeius mit seiner Vermutung vollkommen richtig. Wenn Sulla etwas am Herzen lag, dann seine dignitas. Er hatte gesagt, er werde Mithridates besiegen. Er hatte versprochen, nach Italien zurückzukehren und für seine Rechte zu kämpfen. Er hatte angekündigt, die Republik in ihrer alten, traditionellen Form wiederauferstehen zu lassen. Und was immer er angekündigt hatte, er hatte es vollbracht. Hätte er versagt, dann hätte seine dignitas Schaden genommen. Jenseits der Gesetze, jenseits von Rom konnte es keine dignitas geben. Sullas Antrieb, seine Worte wahr werden zu lassen, lag also in ihm selbst begründet. Erst wenn er seine Prophezeiungen in die Tat umgesetzt hatte, würde er zufrieden sein können. Bis dahin konnte — und wollte — er nicht ruhen.
»Wenn du tatsächlich dieser Ansicht bist«, sagte Varro schließlich, »erweist du Sulla die höchstmögliche Anerkennung.«
»Bitte?« Pompeius blickte ihn fragend an.
»Damit meine ich«, erklärte Varro geduldig, »daß du mir gezeigt hast, daß Sulla unmöglich verlieren kann. Er kämpft für etwas, von dem Carbo nicht einmal weiß, was es ist.«
»Ach so! Ja, genau so ist es!« stimmte Pompeius Varro zu.
Inzwischen waren sie nicht mehr weit vom Aesis entfernt, der durch das Herzland von Pompeius’ Provinz floß. Pompeius hatte sein jugendliches Ungestüm keineswegs abgelegt. Aber er war durch die neuen Erfahrungen reifer geworden, und er lernte mit jedem Tag dazu. So hatte etwa Sullas geschickter Einsatz der Reiterei sein Interesse für einen Truppenteil geweckt, den er früher, typisch für einen Römer, nie ernst genommen hatte. Römer glaubten an den Fußsoldaten und waren bis zu einem gewissen Grad der Ansicht, daß die Reitersoldaten mehr zur Zierde als zum Kampf taugten und so eher eine Last denn eine Hilfe darstellten. Varro wiederum war überzeugt, daß Rom nur aus einem einzigen Grund eine Reiterei unterhielt: weil das auch seine Feinde taten.
Zu Zeiten, als in Rom noch die Könige regiert hatten, und in den frühen Jahren der Republik, bildeten die Reitersoldaten die militärische Elite, waren sie Roms Speerspitze. Daraus hatte sich der Ritterstand entwickelt, der ordo equester, wie Gaius Gracchus ihn genannt hatte. Pferde waren unerschwinglich gewesen, die meisten Männer konnten sie nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlen. Aus dieser Situation heraus war die Tradition des Staatspferdes erwachsen, das vom Staat gekaufte und unterhaltene Pferd eines Ritters.
Zu Sullas Zeit hatte der römische Reitersoldat praktisch nur wirtschaftliche Bedeutung. Der Ritter — Geschäftsmann oder Landbesitzer und Mitglied der ersten Klasse der Zenturien in einem — war das Relikt der römischen Reitersoldaten. Dennoch stellte der Staat den achtzehnhundert höchsten Rittern immer noch ein Staatspferd zur Verfügung.
Varro, dessen größtes Vergnügen darin bestand, den gewundenen Pfaden eines Gedankens zu folgen, merkte, daß er den Faden verloren hatte. Er riß sich zusammen und lenkte seine Gedanken wieder zurück zu ihrem Ausgang: Pompeius’ Interesse an der Reiterei. Die unter Pompeius’ Kommando stehende Reiterei war nicht in Italien rekrutiert worden, Sulla hatte sie aus Griechenland mitgebracht. So kam es auch, daß sich kein einziger Gallier darunter fand. Wären die Reitersoldaten in Italien angeworben worden, Pompeius’ Reiterei würde fast ausschließlich aus Galliern bestehen, die entweder aus dem jenseits des Po gelegenen Teil des italischen Galliens oder aus dem weiten Tal der Rhône in Gallia Transalpina rekrutiert worden wären. So aber waren Sullas Reiter größtenteils Thraker, unter denen sich auch einige hundert Galater fanden. Gute Kämpfer und so treu ergeben, wie man es nur von Männern erwarten konnte, die keine Römer waren. Sie genossen Auxiliar-Status, und zumindest einige von ihnen konnten darauf hoffen, nach Beendigung eines siegreichen Feldzugs mit der Verleihung des vollen römischen Bürgerrechts oder einem Stück Land belohnt zu werden.
Den ganzen Weg von Teanum Sidicinum her hatte Pompeius überlegt, wie er diese in lederne Hosen und Wamse gekleideten Männer mit ihren kleinen Rundschilden und langen Lanzen in den Kampf führen würde. Ihre Langschwerter eigneten sich besser für den Kampf vom Rücken eines Pferdes aus als die Kurzschwerter der Fußsoldaten. Nach und nach hatte Pompeius die Vorteile der Reitersoldaten entdeckt und gegeneinander abgewogen, hatte beobachtet, sich Strategien ausgedacht und versucht herauszufinden, ob es etwas an der Ausrüstung oder der Taktik zu verbessern gab. Die fünftausend Reiter waren aufgegliedert in zehn Regimenter zu je fünfhundert Mann, die sich wiederum auf zehn Schwadronen zu je fünfzig Mann aufteilten. Angeführt wurde die Truppe von ihren eigenen Offizieren, nur der oberste Befehlshaber der Reiterei war ein Römer, in diesem Falle Pompeius. Er war fasziniert von seiner berittenen Streitmacht und fest entschlossen, sie unter seinem Kommando zu großen Taten zu führen.
Das Schicksal ging doch seltsame Wege! Am Horizont erblickten sie den Aesis, und unter ihnen, am Fuß des Hügels, lag das alte Lager, von dem sie vor einem Jahr aufgebrochen waren. Als habe es all die Meilen, die sie seitdem zurückgelegt hatten, niemals gegeben. Was war das für eine Reise gewesen! Ein paar kleinere Schlachten, viele lange Märsche und sonst — nichts.
Und das alles, um einen zahn- und haarlosen alten Greis zu besuchen. »Ob sich deine Männer jemals fragen«, sinnierte Varro, »welchem Zweck das alles eigentlich dient?«
»Was für eine seltsame Frage!« Pompeius drehte sich verwundert zu Varro um. »Meine Soldaten brauchen nicht nachzudenken. Ich tue das für sie. Sie brauchen nur zu tun, was ihnen gesagt wird.« Er verzog sein Gesicht bei dem revolutionären Gedanken, daß es auch nur einem von Pompeius Strabos alten Veteranen einfallen könnte, selber zu denken.
»Was sagst du da, Pompeius?« So leicht ließ Varro sich nicht abspeisen. »Sie sind Menschen — und gleichen uns zumindest in dieser einen Hinsicht. Und als Menschen ist ihnen die Gabe des Denkens verliehen, auch wenn die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben können. Befehle nicht in Frage zu stellen ist eine Sache, nicht darüber nachzudenken, was das alles eigentlich soll, eine ganz andere.«
»Das sehe ich gar nicht so«, erwiderte Pompeius aus Überzeugung.
»Hast du schon einmal etwas von der jedem Menschen angeborenen Neugierde gehört? Es liegt in der Natur des Menschen, nach dem Warum zu fragen. Auch wenn er nur ein picenischer Fußsoldat ist, der noch nie in Rom war oder den Unterschied zwischen Rom und Italien nicht kennt. Wir kommen gerade aus Teanum zurück, und da unten liegt unser altes Lager. Glaubst du im Ernst, daß sich nicht wenigstens ein paar deiner Männer fragen werden, warum wir nach Teanum marschiert sind und nach weniger als einem Jahr schon wieder zurückkommen?«
»Ach, das wissen die schon«, entgegnete Pompeius ungeduldig. »Außerdem sind das alles Veteranen. Wenn sie für jede Meile, die sie in den letzten zehn Jahren marschiert sind, tausend Sesterzen bekommen hätten, dann könnten sie sich jetzt auf dem Palatin ein Haus kaufen, und die Frauen würden ihnen die Tür einrennen, selbst wenn sie in den Brunnen pissen oder in den Kräutergarten des Kochs scheißen würden. Varro, du bist ein Original. Die Gedanken, die dich umtreiben — dir gelingt es immer wieder, mich zu überraschen.« Pompeius gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte den Hang hinab. Plötzlich zügelte er sein Pferd und wandte sich im Sattel um. Laut lachend winkte er mit den Armen und schrie: »Der Letzte im Lager ist ein faules Ei.«
Pompeius, du bist immer noch ein Kind! sagte sich Varro. Was habe ich hier verloren? Welchen Zweck erfülle ich? Das ist doch alles nur ein Spiel, ein großes — und großartiges — Abenteuer!
Noch in derselben Nacht rief Metellus Pius seine drei Legaten zu sich. Pompeius erschien wie immer in Varros Begleitung. Die Atmosphäre war gespannt, es hatte Neuigkeiten gegeben.
»Carbo steht nicht weit vor uns«, sagte Pius das Ferkel. Er hielt inne und korrigierte sich. »Um genau zu sein, Carrinas steht nicht weit vor uns, und Censorinus rückt rasch nach. Offensichtlich glaubte Carbo zuerst, acht Legionen würden ausreichen, um uns aufzuhalten, und hat dann, nachdem er bemerkt hat, wie stark unsere Streitmacht ist, Censorinus mit vier weiteren Legionen ausgesandt. Sie werden den Aesis vor uns erreichen, und dort werden wir uns ihnen auch stellen müssen.«
»Wo befindet sich Carbo?« wollte Marcus Crassus wissen.
»Noch in Ariminum. Ich nehme an, er wartet Sullas nächsten Schritt ab.«
»Und wie es dem jungen Marius ergeht«, fügte Pompeius hinzu.
»Genau«, stimmte Metellus zu und zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Aber der soll jetzt nicht unsere Sorge sein. Wir müssen Carbo auf Trab bringen. Pompeius, du kennst dich hier am besten aus. Sollen wir Carrinas über den Fluß locken oder ihn auf dem anderen Ufer festhalten?«
»Das kommt auf dasselbe heraus«, antwortete Pompeius. »Hier wie dort finden wir ausreichend Platz, unsere Truppen in Aufstellung zu bringen. Das Gelände ist zwar teilweise mit Bäumen durchsetzt, aber ansonsten ziemlich eben. Ideale Voraussetzungen, Carrinas’ Armee bis auf den letzten Mann aufzureiben — wenn wir es richtig anstellen.« Pompeius sah Metellus unschuldig an und fuhr mit einschmeichelnder Stimme fort: »Die Entscheidung liegt ganz bei dir, Pius. Ich bin nur ein Legat.«
»Nun, da wir versuchen, nach Ariminum zu gelangen, macht es mehr Sinn, mit unserer Armee an das andere Ufer überzusetzen«, entschied Metellus Pius mit unbewegter Miene. »So müssen wir, wenn es uns gelingt, Carrinas in die Flucht zu schlagen, nicht erst noch den Aesis überqueren. Nach dem vorliegenden Bericht ist unsere Reiterei der Carrinas’ deutlich überlegen. Pompeius, vorausgesetzt, das Terrain und der Wasserstand des Flusses erlauben es, traust du es dir zu, zuerst überzusetzen und die Furt eine Zeitlang zu sichern? Das würde es mir erlauben, mit meinen Fußtruppen den Fluß zu überqueren und, nachdem du deine Reiter wieder abgezogen hast, anzugreifen. Leider bleibt uns keine Zeit, eine Kriegslist zu ersinnen, es wird also auf eine offene Feldschlacht hinauslaufen. Wir könnten höchstens eines tun. Sobald ich angreife, schlägst du mit deinen Schwadronen einen Bogen um die feindlichen Reihen und fällst Carrinas und Censorinus in den Rücken.«
Niemand hatte etwas gegen diese Strategie einzuwenden, die den Legaten im Kampf genügend Handlungsspielraum ließ. Metellus Pius verstand sich auf das Kriegshandwerk. Sogar Pompeius stimmte dem Vorschlag zu, daß Varro Lucullus die drei aus seinen Veteranen bestehenden Legionen kommandieren sollte, damit er selbst sich voll auf die Führung der Reiterei konzentrieren konnte.
»Ich werde das Kommando über den mittleren Abschnitt übernehmen«, schloß Metellus Pius die Besprechung ab. »Crassus führt den rechten und Varro Lucullus den linken Flügel an.«
Da das Wetter an diesem Tag gut und der Boden nicht zu feucht war, entwickelte sich alles so, wie Metellus Pius es geplant hatte. Pompeius hatte keine Schwierigkeit, die Furt zu sichern, und die anschließende Schlacht der Fußsoldaten demonstrierte einmal mehr, wie viel kampferprobte Soldaten in den Händen eines guten Legaten zuwege brachten. Zwar bestanden Scipios Legionen aus recht unerfahrenen Soldaten, aber Varro Lucullus und Crassus zeigten viel Geschick in der Führung der fünf Veteranen-Legionen, deren Selbstvertrauen sich mit der Zeit auf Scipios Männer übertrug. Carrinas und Censorinus hatten keinen einzigen Veteranen in ihren Reihen, sie konnten Metellus Pius zu keinem Zeitpunkt ernstlich Widerstand leisten. Wäre es Pompeius gelungen, den feindlichen Truppen in den Rücken zu fallen, die Schlacht hätte unweigerlich mit der völligen Zerschlagung von Carrinas’ und Censorinus’ Legionen geendet. Aber als Pompeius mit seinen Reitern die feindlichen Linien in einem weiten Bogen umgehen wollte, traf er direkt auf Carbo, der mit sechs weiteren Legionen und einer dreitausend Mann starken Reiterei seinen Verbündeten zu Hilfe geeilt war.
Mit Mühe und Not gelang es Carrinas und Censorinus, sich zurückzuziehen und ihre Verluste auf drei- bis viertausend Mann zu beschränken. Nur eine knappe Meile hinter dem Schlachtfeld schlugen sie neben Carbos Lager ihre Zelte auf. Der Vormarsch von Metellus Pius und seinen Legaten war zum Stillstand gekommen.
»Wir ziehen uns in unser altes Lager südlich vom Fluß zurück«, entschied Metellus Pius ohne zu zögern. »Sollen sie ruhig denken, wir seien zu feige, um weiter vorzurücken. Jetzt, da Carbo zu ihnen gestoßen ist, müssen wir auf einen gewissen Abstand zwischen ihnen und uns achten.«
Trotz dieser enttäuschenden Wendung der Dinge waren die Soldaten guten Mutes, und auch Pompeius, Crassus und Varro Lucullus waren bester Stimmung, als sie bei Einbruch der Dämmerung im Kommandozelt ihres Feldherrn zusammenkamen. Auf dem Tisch waren zahlreiche Landkarten ausgebreitet, mit deren Studium Metellus Pius die letzten Stunden verbracht hatte.
»Ich möchte, daß ihr das hier anschaut«, Pius stand hinter dem Tisch und deutete auf die Karten, »und euch überlegt, wie wir Carbo am besten von der Flanke her angreifen können.«
Die Männer versammelten sich um den Tisch. Varro Lucullus hielt einen fünfarmigen Leuchter über die mit feinen Linien bemalten Schafhäute. Die erste Karte gab den Verlauf der adriatischen Küstenlinie zwischen Ancona und Ravenna sowie das Landesinnere bis jenseits der Kammlinie der Apenninen wieder.
»Wir stehen hier.« Metellus das Ferkel zeigte mit einem Finger auf einen Punkt unterhalb des Aesis. »Der nächste Fluß vor uns ist der Metauro, ein tückischer Strom. Jenseits davon liegt der Ager Gallicus — hier — und hier — mit Ariminum in der Mitte. Nach der Karte zu schließen, kann man über die meisten dieser Flüsse leicht übersetzen. Bis wir zu diesem hier gelangen. Seht ihr? Hier, zwischen Ariminum und Ravenna, bildet der Pisantello die natürliche Grenze zum italischen Gallien. Es ist ziemlich offensichtlich, warum Carbo Ariminum als Stützpunkt gewählt hat. Von dort aus kann er über die Via Aemilia das Herzland des italischen Gallien erreichen, ab Arretium der Via Cassia folgen und durch das obere Tibertal die Via Flaminia erreichen und auf Rom vorstoßen, er kann aber auch entlang der Küste das Picenum erreichen und, falls nötig, durch Apulia und Samnium bis in die Campania vorrücken.«
»Das heißt, wir müssen ihn aus Ariminum vertreiben«, zog Crassus die naheliegende Schlußfolgerung. »Das sollte nicht unmöglich sein.«
»Ja, aber es gibt einen Haken«, erwiderte Metellus Pius. »Allem Anschein nach hat sich Carbo unter rätselhaften Umständen wenigstens zum Teil aus Ariminum zurückgezogen und acht Legionen unter dem Kommando von Gaius Norbanus die Via Aemilia hoch nach Forum Cornelii verlegt. Hier, seht ihr, ein Ort nicht weit hinter Faventia. Forum Cornelii liegt nicht allzuweit vor den Toren Ariminums, höchstens vierzig Meilen.«
»Ein harter Marschtag, und diese acht Legionen sind wieder in Ariminum, wenn es sein muß«, sagte Pompeius.
»Genau. Und in zwei, drei Tagen in Arretium oder Placentia«, fügte Varro Lucullus, immer mit einem Blick für die Gesamtsituation, hinzu. »Hier, auf der anderen Seite des Aesis stehen Carbo, Carrinas und Caesar mit insgesamt achtzehn Legionen und dreitausend Reitersoldaten. Dazu kommen Norbanus’ acht Legionen in Forum Cornelii und die vier in Ariminum einquartierten Legionen mit einer mehrere tausend Mann starken Reiterei.«
»Ich mache keinen Schritt, bevor ich nicht eine umfassende Strategie habe«, sagte Metellus Pius und sah seine Legaten an.
»Kein Problem«, erwiderte Crassus, dessen inneres Rechenbrett unablässig ratterte. »Wir müssen vor allem verhindern, daß Carbo sich wieder mit Norbanus vereint. Wenn wir ihn dann noch von Carrinas und Censorinus weglocken und schließlich Carrinas und Censorinus voneinander trennen, haben wir sie. Wir müssen allerdings darauf achten, daß sie sich nicht wieder zusammenschließen können. Wie Sulla es gesagt hat: den Feind zersplittern.«
»Einer von uns wird mit fünf Legionen über Ariminum hinaus vorrücken und von dort aus ins italische Gallien vorstoßen müssen«, sagte Metellus Pius mit gerunzelter Stirn. »Eine heikle Angelegenheit, am besten, ich übernehme das.«
»Im Gegenteil, das ist ein Kinderspiel!« rief Pompeius aus. »Seht, hier liegt Ancona, der zweitgrößte Hafen am Adriatischen Meer. In dieser Jahreszeit ist der Hafen voller Schiffe, die auf die Westwinde warten, um nach Osten zu segeln und den Sommer über Handel zu treiben. Warum nimmst du nicht deine fünf Legionen, marschierst nach Ancona, schiffst dich dort ein und segelst nach Ravenna? Eine angenehme Seereise, immer in Sichtweite der Küste und in dieser Jahreszeit ohne Sturmgefahr. Das sind kaum mehr als hundert Meilen. Selbst wenn ihr rudern müßtet, braucht ihr dazu höchstens acht oder neun Tage. Und wenn ihr, was um diese Jahreszeit gar nicht so unwahrscheinlich ist, Rückenwind habt, dann seid ihr innerhalb von vier Tagen in Ravenna.« Pompeius’ Finger glitt über die Karte. »Dann ein Eilmarsch nach Faventia, und Norbanus ist isoliert.«
»Ja, Pompeius, das könnte funktionieren«, stimmte Metellus Pius mit glänzenden Augen zu. »Wir müssen allerdings auf größte Geheimhaltung achten. Nicht einmal im Traum würde Carbo vermuten, daß wir uns nach Ancona zurückziehen. Warum also sollte er auch nur einen einzigen Späher über den Aesis nach Süden aussenden? Pompeius und Crassus, ihr müßt hierbleiben und Carbo fünf zusätzliche Legionen vorgaukeln. Ihr setzt euch erst in Bewegung, wenn Varro Lucullus und ich uns in Ancona eingeschifft haben. Versucht, Carrinas einzuholen. Wenn möglich, nagelt ihr ihn fest. Das gleiche gilt für Censorinus. Anfangs wird Carbo noch bei ihnen sein, aber sobald er erfährt, daß ich in Ravenna an Land gegangen bin, wird er Norbanus zu Hilfe eilen. Natürlich könnte er auch Censorinus oder Carrinas nach Forum Cornelii schicken, aber das glaube ich nicht. Carbo weiß, daß er seine Mitte nicht schwächen darf.«
»Das wird ein Riesenspaß!« rief Pompeius aufgeregt aus.
Die in dem Zelt Versammelten waren so zuversichtlich, daß keiner Pompeius’ Bemerkung als zu kindisch empfand; selbst Marcus Terentius Varro nicht, der ruhig in einer Ecke saß und eifrig Notizen machte.
Der Plan ging auf. Während Metellus Pius mit Varro Lucullus und fünf Legionen nach Ancona eilte, spielten die restlichen sechs Legionen Theater und gaukelten Carbo vor, elf Legionen zu sein. Pompeius und Crassus ließen einige Tage verstreichen, dann brachen sie das Lager ab und setzten über den Aesis, ohne auf Widerstand zu stoßen. Offensichtlich wollte Carbo sie in Richtung Ariminum locken und auf dem ihm vertrauteren Gelände eine Entscheidungsschlacht herbeiführen.
Pompeius blieb mit seiner Reiterei Carbos Nachhut, die Censorinus mit einer Reiterschar bildete, dicht auf den Fersen und führte immer wieder kleinere Attacken gegen sie aus. Das irritierte Censorinus, der sich noch nie durch besonders große Geduld ausgezeichnet hatte, so sehr, daß er in der Nähe von Sena Gallica Halt machen ließ und seinen Reitern befahl, Pompeius anzugreifen. Pompeius, der ein Talent für die Führung der Reiterei entwik- kelt hatte, behielt die Oberhand, und der schwer angeschlagene Censorinus mußte sich mit seinen Fußsoldaten und seiner Reiterei in Sena Gallica verschanzen. Doch es dauerte nicht lange, bis Pompeius die bescheidenen Befestigungen des Städtchens überrannt hatte. Censorinus opferte seine Reiterei, brach mit seinen acht Legionen Fußsoldaten aus Sena Gallica aus und beeilte sich, die Via Flaminia zu erreichen. Das war das Klügste, was er in dieser Situation tun konnte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Carbo bereits von Metellus Pius’ unwillkommenem Eintreffen in Faventia erfahren: Norbanus war somit von Ariminum abgeschnitten. Carbo eilte nach Faventia, Carrinas mit acht Legionen im Schlepptau. Censorinus sollte für sich selbst sorgen.
Doch dann stieß Brutus Damasippus, der bereits auf dem Weg nach Faventia war, zu Carbo und unterrichtete ihn von der vernichtenden Niederlage, die Sulla dem jungen Marius bei Sacriportus zugefügt hatte. Sulla rückte inzwischen auf der Via Cassia nach Arretium vor. Carbo warf seine bisherige Strategie über den Haufen, jetzt blieb ihm nur noch eine Möglichkeit. Norbanus mußte allein sehen, wie er das italische Gallien gegen Metellus Pius halten konnte. Carbo selbst wollte Sulla bei Arretium abfangen, was ihm angesichts der Tatsache, daß Sulla nur mit drei Legionen anrückte, nicht allzu schwierig erschien.
Pompeius und Crassus erfuhren ungefähr zur gleichen Zeit wie Carbo von Sullas Sieg bei Sacriportus und feierten ihn mit lautem Jubel. Sie wandten sich westwärts und verfolgten Carrinas und Censorinus, die mit jeweils acht Legionen versuchten, den bei Arretium an der Via Cassia stehenden Carbo zu erreichen. Sie legten eine mörderische Marschgeschwindigkeit vor, aber die Verfolger hielten mit. Je mehr sie sich der Via Flaminia näherten, desto bergiger wurde die Gegend. Pompeius erkannte, daß seine Reiter in diesem Gelände wenig würden ausrichten können, sandte sie zurück in das Lager am Aesis und übernahm wieder das Kommando über die Veteranen-Legionen seines Vaters. Crassus schien ihm die Führung willig zu überlassen, solange seine Vorschläge mit den Kalkulationen übereinstimmten, die er in seinem Dickschädel anstellte.
Erneut gaben die Veteranen-Legionen den Ausschlag. Auf der Via Flaminia zwischen Fulginum und Spoletium holten Pompeius und Crassus Censorinus ein. Doch es kam zu keiner Schlacht. Ausgelaugt, hungrig und mutlos suchten die Legionen des Censorinus ihr Heil in der Flucht. Die drei Legionen, die ihm geblieben waren, wollte er auf jeden Fall retten. Er bog von der Straße ab und marschierte den Rest des Weges zu Carbo nach Arretium durch unwegsames Gelände. Die Soldaten der anderen fünf Legionen zerstreuten sich in alle Winde.
Drei Tage später stießen Pompeius und Crassus in der Nähe der großen und gutbefestigten Stadt Spoletium auf Carrinas. Diesmal kam es zur Schlacht, aber Carrinas geriet so sehr in Bedrängnis, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sich mit drei seiner acht Legionen in Spoletium zu verschanzen. Drei andere Legionen flohen nach Tuder und verschanzten sich dort, die restlichen beiden Legionen verschwanden einfach und tauchten nie wieder auf.
»Wunderbar, Varro!« rief Pompeius erfreut aus. »Ich sehe eine Möglichkeit, wie ich mir den alten Dickkopf Crassus vom Hals schaffen kann.«
Pompeius schlug Crassus vor, daß er mit seinen drei Legionen Tuder belagern sollte, was es ihm, Pompeius, erlaubte, mit seinen Männern auf Spoletium vorzurücken. Überglücklich bei dem Gedanken, einen eigenen Feldzug unternehmen zu dürfen, eilte Crassus nach Tuder. Pompeius ließ sich in Hochstimmung vor Spoletium nieder. Er wußte ganz genau, daß derjenige, der Spoletium einnahm, am meisten Ruhm ernten würde, denn schließlich saß Carrinas in Spoletium und nicht in Tuder. Leider ging Pompeius’ Rechnung nicht auf. Mit viel Wagemut und Geschick gelang es Carrinas, sich während eines mitternächtlichen Sturms aus Spoletium hinauszustehlen und mit drei vollständigen Legionen zu Carbo zu stoßen.
Pompeius, der sich selbst die alleinige Schuld an Carrinas’ Flucht gab, führte Varro einen seiner typischen Wutausbrüche vor. Er heulte, biß sich die Fingerknöchel wund, riß sich ganze Haarbüschel aus, trommelte wie wild mit Füßen und Fäusten auf den Boden, zerbrach Krüge und Teller, zerschlug Möbel... Aber dann, so plötzlich, wie das mitternächtliche, für Carrinas so segensreiche Unwetter wieder vergangen war, verflog Pompeius’ Wut auch wieder.
»Auf nach Clusium, auf zu Sulla«, verkündete er. »Los, Varro. Steh auf. Was trödelst du so herum?«
Anfang Juni erreichten Pompeius und seine Veteranen Sullas Lager am Fluß Chiana. Sulla war ziemlich gereizt und sein Kampfgeist schwer angeschlagen. Carbo war aus Arretium ausgerückt und nach Clusium gezogen, wo die beiden Armeen überraschend aufeinandergetroffen waren. Da keine Zeit blieb, eine Strategie auszuarbeiten, waren Sullas Legionen in schwerste Bedrängnis geraten und hätten die Schlacht sicherlich verloren, hätte Sulla nicht die Geistesgegenwart besessen, die Feindseligkeiten abzubrechen, und den Rückzug auf ein stark befestigtes Lager befohlen.
»Aber das ist jetzt egal«, sagte Sulla, sichtlich erfreut über Pompeius’ Ankunft. »Du bist jetzt hier, und Crassus steht mit seinen Legionen ebenfalls ganz in der Nähe. Mit euch beiden an meiner Seite ist Carbo so gut wie erledigt.«
»Wie steht es um Metellus Pius?« wollte Pompeius wissen, dem es überhaupt nicht behagte, daß Sulla ihn und Crassus in einem Atemzug nannte.
»Das italische Gallien ist in unserer Hand. Metellus hat Norbanus vor Faventia gestellt, während Varro Lucullus, der bis nach Placentia ziehen mußte, um Aufnahme zu finden, Lucius Quincticus und Publius Albinovanus bei Fidentia abgefangen hat. Alles ging gut, und unsere Feinde sind tot oder in alle Winde verstreut.«
»Und Norbanus selbst?«
»Nach Ariminum geflohen, nehme ich an«, antwortete Sulla achselzuckend und ging dazu über, Pompeius Anweisungen zur Unterbringung seiner Legionen zu erteilen. Sulla war es ziemlich gleichgültig, wie es seinen militärischen Gegnern erging, wenn er sie erst einmal besiegt hatte und, wie es bei Norbanus der Fall war, keine persönliche Feindschaft gegen sie hegte.
Am nächsten Tag kehrte Crassus an der Spitze von drei ziemlich mißmutigen und aufgebrachten Legionen aus Tuder zurück. Unter den Soldaten ging das Gerücht um, Crassus sei bei der Eroberung der Stadt ein Goldschatz in die Hände gefallen, er habe ihn aber für sich selbst behalten.
»Entspricht das der Wahrheit?« verlangte Sulla zu wissen. Er starrte Crassus ingrimmig an.
»Nein.« Crassus hatte eine Unschuldsmiene aufgesetzt und erwiderte Sullas Blick verwirrt, aber ohne Schuldbewußtsein.
»Bist du dir ganz sicher?«
»In Tuder gab es nichts zu holen außer ein paar alten Weibern. Und von denen lockte mich keines.«
Sulla sah ihn mißtrauisch an. War Crassus absichtlich unverschämt? »Marcus Crassus, du bist verschlagen und hinterhältig«, sagte er schließlich. »Eingedenk des Rufs deiner Familie und deiner Stellung schenke ich dir diesmal Glauben. Aber sei gewarnt! Sollte ich jemals entdecken, daß du dich in meinen Diensten auf Kosten des Staates bereichert hast, will ich dich nie mehr sehen.«
»Das ist nur gerecht«, nickte Crassus zur Antwort und trollte sich.
Publius Servilius Vatia, der die Unterhaltung verfolgt hatte, lächelte Sulla an. »Einfach unmöglich, Crassus sympathisch zu finden.«
»Dafür gibt es auch nur wenige Männer, denen er wohlgesonnen ist«, sagte Sulla und legte seinen Arm um Vatias Schultern. »Aber du, Vatia, du bist ein Glückspilz.«
»Ich?«
»Ja, weil ich dich mag. Du bist ein guter Verbündeter — weder überschreitest du jemals deine Grenzen, noch streitest du mit mir. Was auch immer ich von dir verlange, du tust es.« Sulla gähnte, und Tränen traten ihm in die Augen. »Ich fühle mich so ausgetrocknet. Was ich jetzt brauche, ist ein Krug Wein.«
Vatia, ein schlanker und gutaussehender Mann mit dunklen Haaren, gehörte nicht zu den patrizischen Servilii, doch sein Stammbaum reichte weit genug zurück, um ihn auch den strengsten gesellschaftlichen Ansprüchen genügen zu lassen. Zudem war seine Mutter, die Tochter des Metellus Macedonius, eine der angesehensten Caecilii Metelli. Was nicht mehr und nicht weniger hieß, als daß Vatia irgendwie mit allen verwandt war, deren Stimme Gewicht hatte. Unter anderem auch, dank einer Heirat, mit Sulla. So fühlte er sich von Sullas Arm auf seiner Schulter nicht bedroht, sondern erwiderte die Umarmung und geleitete Sulla zum Feldherrenzelt. Sulla hatte an diesem Tag bereits sehr ausgiebig dem Wein zugesprochen und konnte eine Stütze gut gebrauchen.
»Was soll ich mit diesen Männern nur tun, wenn ich Rom erobert habe?« wandte sich Sulla an Vatia, der ihm gerade einen Becher mit dem für ihn reservierten Wein füllte. Vatia schenkte sich selbst aus einem anderen Krug ein und achtete darauf, daß sein Wein gut verwässert war.
»Welche Männer meinst du? Crassus?«
»Ja, Crassus. Und Pompeius Magnus.« Sulla verzog die Lippen, und Vatia konnte sein Zahnfleisch sehen. »Ich frage dich, Vatia, was soll das? Magnus! In seinem Alter!«
»Nun«, lächelte Vatia und setzte sich auf einen Klappstuhl, »wenn Pompeius zu jung ist, dann bin ich zu alt. Ich hätte bereits vor sechs Jahren zum Konsul gewählt werden sollen. Jetzt ist es wohl endgültig zu spät.«
»Sei unbesorgt, Vatia. Wenn ich siege, wirst du Konsul werden. Ich bin ein gefährlicher Feind, aber auch ein aufrechter Freund.«
»Ich weiß, Lucius Cornelius«, erwiderte Vatia sanft.
»Nun, was meinst du, was soll ich mit ihnen anstellen?« kehrte Sulla zu seiner Frage zurück.
»Pompeius, ja, der wird dir Schwierigkeiten machen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich zur Ruhe setzt, wenn die Kämpfe vorüber sind. Oder wie du verhindern willst, daß er sich vor der Zeit um irgendwelche politischen Ämter bewirbt.«
»Pompeius ist auf kein Amt aus«, lachte Sulla, »Pompeius jagt dem Ruhm der Schlachtfelder hinterher. Ich glaube, genau den werde ich ihm auch geben. Ja, wenn man die Dinge so sieht, kommt er eigentlich gerade zur rechten Zeit.« Durstig streckte er Vatia seinen leeren Becher hin. »Und Crassus? Was soll ich mit Crassus anfangen?«
»Oh, der schaut schon für sich selbst«, sagte Vatia und schenkte Sulla ein. »Er wird sich, und das kann ich auch sehr gut verstehen, ein Vermögen zusammenscheffeln. Nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders hätte er mehr zu erwarten gehabt als eine reiche Witwe. Das Vermögen des Licinus Crassus war über dreihundert Talente schwer, aber natürlich wurde es beschlagnahmt. Da kannst du dich getrost auf Cinna verlassen, der hat sich garantiert jeden Sesterz unter den Nagel gerissen. Und der arme Crassus hatte bei weitem nicht den Einfluß, über den Catulus verfügte.«
»Der arme Crassus!« Sulla schnaubte wütend. »Er hat das Gold aus Tuder gestohlen, da bin ich mir ganz sicher.«
»Höchstwahrscheinlich«, entgegnete Vatia unbeeindruckt. »Aber du kannst es dir im Moment nicht leisten, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Du brauchst ihn! Und das weiß er auch ganz genau. Was du vorhast, ist äußerst gewagt.«
Carbo wurde unverzüglich von der Ankunft von Pompeius und Crassus mit ihren Legionen unterrichtet. Seinen Legaten gegenüber gab er sich wie die Ruhe selbst und sprach mit keinem Wort davon, seine Truppen abzuziehen. Zahlenmäßig war er Sulla immer noch weit überlegen, der denn auch keine Anstalten machte, aus seinem Lager auszubrechen. Während Carbo darauf wartete, daß die Dinge ihren Lauf nahmen und ihm die Entscheidung darüber, was zu tun sei, abnehmen würden, traf aus dem italischen Gallien die Nachricht ein, daß Norbanus mitsamt seinen Legaten Quinctius und Albinovanus besiegt worden war und Metellus Pius und Varro Lucullus die Provinz besetzt hielten. Am niederschmetterndsten aber waren die Begleitumstände der Niederlage. Publius Albinovanus, der lucanische Legat, hatte Norbanus und die anderen Mitglieder des militärischen Oberkommandos unter dem Vorwand einer Unterredung nach Ariminum gelockt und dort alle Anwesenden bis auf Norbanus selbst ermorden lassen. Dann hatte er Metellus Pius die Stadttore geöffnet und ihm im Austausch gegen seine Begnadigung Norbanus ausgeliefert. Später war Norbanus, der den Wunsch geäußert hatte, irgendwo im Osten um Asyl nachzusuchen, erlaubt worden, ein Schiff zu besteigen. Der einzige überlebende Legat war also Lucius Quinctius, der sich in Varro Lucullus’ Gewahrsam befunden hatte, als die Morde verübt wurden.
Tiefe Gedrücktheit senkte sich über Carbos Lager. Männer wie Censorinus sehnten sich in ihrem unstillbaren Tatendrang nach einem Kampf, aber Sulla verhielt sich immer noch ruhig. Unfähig, Censorinus weiter zurückzuhalten, schickte Carbo ihn mit acht Legionen nach Praeneste, wo er versuchen sollte, den Belagerungsring um den jungen Marius zu zerschlagen. Zehn Tage später kehrte Censorinus zurück. Er hatte keine Möglichkeit gesehen, dem jungen Marius zu helfen. Die von Ofella errichteten Verteidigungsanlagen hatten sich als unüberwindbar erwiesen. Daraufhin sandte Carbo eine zweite Armee nach Praeneste, die aber in einen von Sulla gelegten Hinterhalt geriet und dabei zweitausend gute Soldaten verlor. Eine dritte Streitmacht unter dem Kommando des Brutus Damasippus versuchte, einen Weg durch die Berge zu finden und über die Schleichpfade in die Stadt vorzudringen. Aber auch dieses Unternehmen scheiterte. Angesichts der hinter der Stadt errichteten Belagerungsanlagen gab Brutus Damasippus alle Hoffnung auf und kehrte unverrichteter Dinge nach Clusium zurück.
Selbst die Nachricht, daß der gelähmte Samniterführer Gaius Papius Mutilus in Aesernia eine vierzigtausend Mann starke Armee um sich geschart habe und mit ihr auf Praeneste vorrücke, konnte Carbos Stimmung nicht heben, Tag für Tag versank er tiefer in seiner Depression. Da half auch der Brief von Mutilus nichts, der ihn davon unterrichtete, daß er nicht vierzig-, sondern siebzigtausend Männer ins Feld schicken werde. Marcus Lamponius sandte zwanzigtausend Männer aus Lucanien zu Hilfe und T iberius Gutta weitere zehntausend Soldaten aus Capua.
Der Juni ging ins Land, und der Quintilis brach an, aber Carbo zermarterte sich sein Hirn immer noch auf der Suche nach einer befriedigenden Lösung. Der einzige, dem er wirklich vertraute, war Marcus Junius Brutus, sein Proquästor. Schließlich wandte er sich in seiner Verzweiflung an ihn.
»Wenn Albinovanus nicht davor zurückschreckt, Männer hinzuschlachten, mit denen zusammen er lange Monate hindurch gelacht und gekämpft hat, wie kann ich mir dann noch meiner eigenen Legaten sicher sein?« fragte er.
Er und Brutus folgten der drei Meilen langen Via Principalis, einer der beiden durch das Lager führenden Hauptstraßen. So breit, wie die Straße war, konnten sie sicher sein, daß keine unerwünschten Mithörer ihrem Gespräch lauschten.
Der alte Mann blinzelte in dem hellen Sonnenlicht und bewegte seine blau verfärbten Lippen, ohne jedoch etwas zu sagen. Er nahm sich Zeit und wog die Frage in seinem Kopf ab, bevor er schließlich trocken antwortete: »Nein, du kannst ihrer nicht sicher sein, Gnaeus Papirius.«
»O ihr Götter, was soll ich nur tun?« rief Carbo verzweifelt aus und faßte sich mit zittriger Hand an den Kopf.
»Im Moment gar nichts. Du mußt dich in sichere Gefilde absetzen, bevor einer oder mehrere deiner Legaten deinen Tod als die für sie vorteilhafteste Lösung betrachten.«
»Mich absetzen?«
»Ja, absetzen«, erwiderte Brutus mit fester Stimme.
»Aber meine Legaten würden das nie zulassen!« Carbo zitterte inzwischen am ganzen Körper.
»Wohl kaum. Aber sie brauchen davon ja auch nichts zu wissen. Ich werde mich um alles Notwendige kümmern. Du tust weiterhin so, als liege dir einzig und allein das Schicksal der samnitischen Armee am Herzen.« Der ältere Brutus legte seine Hand auf Carbos Arm. »Verzweifle nicht! Noch ist es nicht zu spät.«
Gegen Mitte Quintilis hatte Brutus seine Vorbereitungen abgeschlossen. Kaum eine Woche war vergangen, als er und Carbo sich mitten in der Nacht aus dem Lager stahlen, ohne Diener und ohne Gepäck; sie führten nur ein Maultier mit sich, dessen Satteltaschen schwerbeladen waren mit Goldbarren, die unter einer Schicht Blei verborgen waren. Zur Bezahlung allfälliger Reisekosten hat- ten sie noch einen großen Beutel voller Denare eingesteckt. Niemand belästigte die beiden, die aussahen wie ein Paar arme Händler, niemand zeigte auch nur das geringste Interesse an ihrem schwer schleppenden Maultier oder an dem, was sich in seinen Satteltaschen verbarg. Ungestört erreichten sie die etrurische Küste und schifften sich in Telamon nach Africa ein. Fortuna steht mir bei, dachte Carbo, als das Schiff die Anker lichtete.
Da Gaius Papius Mutilus von der Hüfte an abwärts gelähmt war, konnte er das Kommando über die samnitische Streitmacht, der Soldaten aus Samnium, Lucanien und der Campania angehörten, nicht ausüben. Aber er ließ es sich nicht nehmen, den samnitischen Flügel aus dem Lager bei Aesernia bis nach Teanum Sidicinum zu begleiten, wo Verbände aus Lucanien und der Campania dazustießen und die vereinte Armee Scipios und Sullas altes Lager in Beschlag nahmen. Mutilus selbst begab sich in sein dortiges Haus.
Seit dem Bundesgenossenkrieg hatten Mutilus’ Unternehmungen prosperiert, und jetzt besaß er Villen in über einem halben Dutzend Städten in Samnium und der Campania. Mutilus’ Reichtum war ins unermeßliche gewachsen, und manchmal dachte er, dieser Reichtum sei die Entschädigung, die ihm ein zynisches Schicksal für den Verlust seiner Zeugungsfähigkeit zugesprochen hatte.
Am liebsten weilte er in Aesernia und Bovianum, seine Frau Bastia jedoch zog es vor, in Teanum zu leben — sie stammte aus der Gegend. Daß Mutilus sich mit der fast permanenten Trennung abfand, hatte mit seiner Verletzung zu tun. Als Ehemann taugte er wenig, und wenn seine Frau, was ihn nicht wundern würde, von Zeit zu Zeit die Einsamkeit ihres Körpers linderte, so sollte sie das besser in seiner Abwesenheit tun. Bis jetzt jedoch waren noch keine diesbezüglichen Gerüchte bis zu ihm nach Aesernia gedrungen. Was nur bedeuten konnte, daß sie entweder ebenso keusch war, wie es ihm von seiner Verletzung auferlegt wurde, oder daß sie beispiellose Vorsicht walten ließ. Beides wäre ihm recht gewesen, und so freute er sich, als er in seinem Haus in Teanum ankam, sehr auf Bastias Gesellschaft.
»Ich habe nicht erwartet, dich zu sehen«, empfing ihn Bastia ohne jeden Anflug von Falschheit.
»Dafür hattest du auch gar keinen Grund, ich habe ja auch nicht geschrieben«, antwortete er freundlich. »Du siehst gut aus.«
»Nun, ich fühle mich auch gut.«
»Den Umständen entsprechend befinde auch ich mich bei bester Gesundheit«, fuhr er fort, fand das Wiedersehen jedoch unangenehmer, als er erwartet hatte. Sie gab sich distanziert und allzu zuvorkommend.
»Was führt dich nach Teanum?«
»Vor der Stadt steht eine Armee. Wir ziehen gegen Sulla in den Krieg. Das heißt, meine Armee. Ich werde unterdessen hier bei dir bleiben.«
»Wie lange gedenkst du zu bleiben?« erkundigte sie sich höflich.
»So oder so, bis der Krieg vorüber ist.«
»Ich verstehe.« Bastia war eine makellos schöne Frau Anfang Dreißig. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah ihn an. Nichts in ihrem Blick erinnerte Mutilus an das glühende Verlangen, das er in ihren Augen gesehen hatte, früher, als er noch ein ganzer Mann gewesen war. »Wie kann ich für dein Wohlergehen sorgen, Mann? Brauchst du etwas Bestimmtes?«
»Ich habe meinen Leibsklaven. Er weiß, was zu tun ist.«
Bastias Hände nestelten an dem kostbaren Stoff, der ihren vollendeten Körper bedeckte. Unverwandt starrte sie ihn mit ihren großen Augen an. »Nur du zum Essen?« fragte sie endlich.
»Nein, noch drei Männer. Meine Legaten. Oder stellt dich das vor ein Problem?«
»Nein, überhaupt nicht. Die Speisen werden dir zur Ehre gereichen, Gaius Papius.«
Bastia, die eine hervorragende Hausfrau war, hatte nicht zuviel versprochen. Zwei der drei Männer, die mit ihrem verunstalteten Feldherrn zum Essen gekommen waren, kannte sie. Pontius Telesinus und Marcus Lamponius. Telesinus entstammte einer uralten samnitischen Familie, war aber etwas zu jung gewesen, um während des Bundesgenossenkrieges in der ersten Reihe der samnitischen Großen zu stehen. Jetzt, mit seinen zweiunddreißig Jahren, war er ein gutaussehender junger Mann, der genügend Frechheit besaß, seine Gastgeberin mit heimlichen Blicken voller Lüsternheit zu umschmeicheln. Aber Bastia ging nicht darauf ein. Telesinus war Samniter, und das bedeutete, wie sie wohl wußte, daß er Römer mehr haßte, als er Frauen jemals lieben konnte.
Der zweite ihr bekannte Mann, Marcus Lamponius, war der oberste Stammesführer der Lucaner. Während des Bundesgenossenkrieges war er einer der unerbittlichsten Feinde der Römer gewesen. Und obwohl er die Fünfzig schon überschritten hatte, stand ihm der Sinn immer noch nach Krieg, dürstete er immer noch nur nach einem: nach römischem Blut. Sie ändern sich nie, diese nichtrömischen Italiker, dachte Bastia. Rom zu zerstören bedeutete ihnen mehr als ihr Leben, ihr Reichtum oder der Friede, mehr sogar als Kinder.
Der einzige unter den dreien, den Bastia nie zuvor gesehen hatte, stammte wie sie selbst aus der Campania. Tiberius Gutta, der Bürgermeister von Capua, war fettleibig, grobschlächtig, egoistisch und ebenso fanatisch wie die anderen Männer darauf aus, römisches Blut zu schmecken.
Bastia verließ das Speisezimmer, sobald ihr Ehemann ihr bedeutete, daß sie sich zurückziehen durfte. In ihr tobte eine Wut, die sie vor den Männern sorgsam verborgen hatte. Wie ungerecht! Endlich hatte sich alles wieder eingerenkt, endlich schien es fast so, als habe der Bundesgenossenkrieg nie stattgefunden. Und da sollte alles wieder von vorne anfangen? Sie hatte herausschreien wollen, daß sich nichts geändert habe, daß Rom ihre Gesichter zerstören und ihnen allen Reichtum wegnehmen werde. Aber sie hatte ihre Zunge in Zaum gehalten. Selbst wenn sie Mutilus, Gutta und die anderen von ihrer Ansicht überzeugen könnte, ihr Patriotismus und ihr Stolz würde sie trotzdem in den Krieg treiben.
Die Wut fraß sie auf, steigerte sich noch. Bastia lief in ihrem Wohnraum hin und her, verzehrt von dem Wunsch, diesen verbohrten, engstirnigen Männern eine saftige Lektion zu erteilen. Vor allem ihrem Gatten, dem Stammesführer seines Volkes, dem Mann, zu dem alle Samniter ratsuchend aufsahen. Aber wozu riet er ihnen? Zum Krieg gegen Rom. Zum Untergang. Scherte es ihn, daß sie alle fallen würden, wenn er fiele? Natürlich nicht! Er war ein Mann, ein Mann mit all seinen kleingeistigen Prinzipien von Patriotismus und Rache. Ganz Mann, und doch nur ein halber Mann. Und die Hälfte, die ihm geblieben war, taugte nichts für sie, taugte weder für die Fortpflanzung noch für das Vergnügen.
Erschreckt hielt sie inne, fühlte die Hitze in sich, das Verlangen, das ihre verzweifelte Wut wachgerufen hatte. Ihre Lippen waren wundgebissen, sie konnte mit ihrer Zunge das Blut schmecken.
Da war dieser Sklave... Einer dieser Griechen von der Insel Samothraki, mit Haar so dunkel, daß es blau leuchtete, wenn Licht darauf fiel, mit buschigen Augenbrauen und darunter Augen von der Farbe eines Bergsees... eine Haut so zart, daß sie geradezu danach schrie, geküßt zu werden... Bastia klatschte in die Hände.
Der Hausverwalter trat ein. »Sind die Gäste im Speisezimmer versorgt?« Sie sah ihn mit hocherhobenem Haupt an. Ihre zerbissenen Lippen waren angeschwollen und knallrot.
»Ja, domina.«
»Gut. Bitte sorge dafür, daß es ihnen an nichts mangelt. Und schicke Hippolytus zu mir. Mir ist etwas eingefallen, wobei mir seine Dienste behilflich sein könnten.«
Das Gesicht des Hausverwalters blieb unbewegt. Da Mutilus es im Gegensatz zu Bastia nicht für nötig erachtete, in Teanum Sidicinum zu leben, gingen sie und ihr Wohlbefinden vor. Er verbeugte sich. »Ich werde Hippolytus unverzüglich herbestellen, domina!« Er verbeugte sich noch einmal, bevor er sich aus dem Zimmer entfernte.
Die Männer im Speisezimmer hatten Bastia, kaum daß sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, vergessen.
»Carbo hat mir versichert, er habe Sulla bei Clusium unter Kontrolle«, wandte sich Mutilus an seine Legaten, als sie ungestört waren.
»Und, glaubst du das?« Lamponius blickte zweifelnd.
Mutilus runzelte die Stirn. »Ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht tun sollte, aber natürlich kann ich nicht ganz sicher sein. Hast du einen Grund für deinen Zweifel?«
»Nein, außer daß Carbo ein Römer ist.«
»Hört, hört!« rief Pontius Telesinus.
»Fortuna ist wankelmütig«, warf Tiberius Gutta ein, der gerade einen mit Kastanien gefüllten, knusprig gebackenen Kapaun zerlegte und sich mit fetttriefenden Fingern das Gesicht abwischte. »Für den Moment kämpfen wir auf Carbos Seite. Wenn Sulla besiegt ist, können wir uns immer noch Carbo und die anderen Römer vornehmen.«
»Genau!« stimmte Mutilus lächelnd zu.
»Wir sollten keine Zeit verlieren und so schnell wie möglich nach Praeneste ziehen«, drängte Lamponius.
»Ja, am besten morgen schon«, warf Telesinus ein.
»Nein!« Mutilus schüttelte heftig den Kopf. »Wir müssen unseren Männern einige Tage Rast gönnen. Sie haben einen harten Marsch hinter sich und müssen noch die Via Latina in ihrer ganzen Länge hinter sich bringen. Ich will, daß sie ausgeruht sind, wenn wir Ofella angreifen.«
Kein Widerspruch erhob sich, und die vier Männer beschlossen, mit der Aussicht auf einige Tage voller Muße, die Unterredung früher als erwartet zu beenden. Da Mutilus’ Verwalter gerade in der Küche war, sah und hörte er nichts von dem Aufbruch der Gäste und war auch nicht zugegen, als der Hausherr seinem germanischen Riesen befahl, ihn in das Zimmer seiner Frau zu tragen.
Bastia lag nackt und mit weit gespreizten Beinen auf den Kissen ihrer Liege. Zwischen ihren feuchtglänzenden Schenkeln hatte sich ein blauschimmernder Haarschopf vergraben. Der kompakte, muskulöse Leib, zu dem der Kopf gehörte, lag so entspannt auf der Liege, daß es beinahe schien, als gehöre er einer schlafenden Katze. Nur da, wo der Kopf zwischen Bastias Schenkeln verschwand, berührten sich die beiden Körper. Bastia hatte ihre Arme ausgestreckt und knetete die hinter ihr liegenden Kissen, die des Griechen lagen leblos neben seinem Leib.
Die Tür war lautlos aufgestoßen worden. Der germanische Sklave hielt seinen Herrn wie ein Bräutigam, der seine Braut in der Hochzeitsnacht über die Türschwelle in ihr neues Heim trägt. Er blieb stehen und wartete mit der dumpfen Trägheit eines seinem Zuhause entrissenen Sklaven auf weitere Befehle.
Mutilus’ und Bastias Augen trafen sich, in den ihren stand Triumph und Jubel geschrieben, in seinen das pure, von keinem mildernden Schock besänftigte Entsetzen. Wie von selbst wander- te sein Blick über ihre vollen Brüste und ihren schlanken Leib, bis ihm die Tränen in die Augen schossen und er nichts mehr sah.
Der junge Grieche, der bisher ganz in seiner Beschäftigung aufgegangen war, spürte eine Veränderung, eine Spannung im Körper Bastias, die nichts mit ihm zu tun hatte. Er hob seinen Kopf. Da schnellten Bastias Hände wie zwei Schlangen vor, ergriffen das blauschwarze Haar und preßten den Kopf zurück zwischen ihre Beine.
»Nicht aufhören!« schrie sie.
Unfähig, seinen Blick abzuwenden, sah Mutilus, wie ihre Brustwarzen sich immer steiler aufrichteten, wie sie ihre Hüften bewegte, auf denen der Kopf des Griechen ritt. Und dann erfaßte ein Zittern Bastias Körper, und unter lautem Stöhnen und Schreien überkam sie ein Orgasmus, der eine Ewigkeit zu dauern schien.
Erschöpft blieb sie liegen, dann ließ sie den Kopf des Griechen los und versetzte ihm einen leichten Hieb. Der Sklave drehte sich auf den Rücken und erblickte Mutilus. Starr vor Entsetzen wagte er kaum mehr zu atmen.
»Mit diesem Instrument weißt du zwar nichts anzufangen«, sagte Bastia und deutete auf das abschlaffende Glied des Sklaven. »Aber mit deiner Zunge, Mutilus, ist doch alles in Ordnung.«
»Du hast recht, mit meiner Zunge ist alles in Ordnung«, erwiderte er. Die Tränen in seinen Augen waren getrocknet. »Sie kann immer noch tasten und schmecken. Aber an Aas findet sie nun mal keinen Gefallen.«
Der Germane machte kehrt und trug ihn aus dem Zimmer zurück in seine Schlafkammer, wo er ihn sorgfältig auf das Bett niederlegte. Er verrichtete die ihm obliegenden Pflichten und entfernte sich dann von Gaius Papius Mutilus ohne jedes Zeichen des Mitgefühls. Er hätte ihm keinen größeren Gefallen erweisen können, dachte Mutilus und vergrub sein Gesicht in den Kissen. Immer noch brannte das Bild seiner Frau lichterloh in ihm, ihre Brüste mit den hervorstehenden Warzen und dann dieser Kopf mit den blauschwarzen Haaren! Dieser Kopf... Doch unterhalb seiner Hüfte regte sich nichts, würde sich nie mehr etwas regen. Aber der Rest von ihm kannte Qualen und Träume, sehnte sich nach allem, was Liebe war. Nach allem!
»Ich bin nicht tot«, schrie er in das Kissen und fühlte, wie die Tränen wieder in ihm aufwallten. »Nein, ich bin nicht tot! Aber, o ihr Götter, wie sehr wünschte ich, ich wäre es!«