Diese Wissmanns oder

Schönstes Westfalen jenseits Westfalens

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Die Wissmanns räumen auf. Jetzt, abends um neun, schlafen ihre drei Kinder nebenan in ihren kleinen Betten, sie schnorcheln einem neuen Junitag entgegen. Vor den Fenstern der Altbauwohnung ist gerade ein sensationelles Frühlingsgewitter heruntergekommen, die Luft riecht feucht und schwer nach fortgespülten Lindenblüten. In der Wohnküche der Wissmanns ist der lange Tisch noch übersät mit allem, was so ein Familientag an Spuren hinterlässt: Müslikleckse, leere Breigläschen, halb ausgetrunkene Plastikbecher. Dazwischen braun werdende Apfelschnitze und ein bunt gestreiftes Lätzchen.

Die Wissmanns räumen nun zügig alles an seinen Platz, Hand in Hand geht das. Anschließend holen sie eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und schenken dem Gast ein. Dazu gibt’s Wasser aus einer Karaffe, an deren Boden energetische Kieselsteine liegen. An der Küchenwand hängen Kinderbilder, in einem Setzkasten warten zwei Dutzend homöopathische Medikamente auf den Ernstfall. Susanne Wissmann sagt: »Ich bin eine Ökonudel.« Siebenunddreißig Jahre wird sie morgen alt, ihr Mann Jürgen ist dreiundvierzig. Die beiden, er Lehrer, sie Lateinamerikawissenschaftlerin und gerade zu Hause mit dem dritten Kind, sind ein Ost-West-Paar im Prenzlauer Berg. Geradezu archetypisch stehen sie für die sympathisch anmutende Sorte jener Familien, die im Bötzowviertel wohnen, weil das Leben hier schlicht perfekt für sie ist. Mit ihren zwei Söhnen und der Tochter bilden sie den guten Durchschnitt, das, was üblich ist: Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind. Mehr Nachwuchs als anderswo im Lande üblich, gewiss, aber hier, im schönen und von Touristen noch nicht so heimgesuchten Viertel des Prenzlauer Bergs fallen die Wissmanns damit nicht weiter auf.

Susanne Wissmann erzählt, wie sie das dörfliche Leben hier im Kiez zu schätzen weiß. Die sechsjährige Raja schickt sie morgens allein zum Bäcker – jeder hier kennt das Kind, alle passen auf. Und wenn Frau Wissmann am Nachmittag zwischen Kita, Biomarkt und der Eigentumswohnung unterwegs ist, dauert das einfach mal etwas länger, so viele Schwätzchen gilt es zu halten. Susanne Wissmann genießt das. Sie kommt aus einer Kleinstadt in Westfalen, hier zu leben fühlt sich fast wie zu Hause an. Nur mit dem Unterschied, dass zum gewohnten und gewünschten dörflichen Ambiente auch sämtliche Annehmlichkeiten einer Weltstadt hinzutreten. Im Moment, mit den drei kleinen Kindern, ist ihr selbstredend das Provinzielle wichtiger, die schöne Überschaubarkeit, die Sauberkeit, der allen gemeinsame Lebensentwurf.

Was sie aber stört, sind die Vorurteile. »Was soll die ewige Anmache von wegen Latte macchiato und Prenzlauer Berg«, schimpft sie. »Ich verstehe es nicht. Mein Mann ist Ossi und wohnt seit Ewigkeiten hier, ich bin als ›Wessi-Tussi‹ vor zehn Jahren dazugestoßen. Latte macchiato mögen wir beide nicht, und unsere Kinder haben auch nie in einem dieser sauteuren Boogaboo-Kinderwagen gethront.« Die beiden Wissmanns fragen sich, was es so viele Jahre nach dem Mauerfall eigentlich zu meckern gibt daran, dass Leute wie sie und all ihre Freunde jetzt hier leben. Gerade Jürgen Wissmann kann das Ost-Gejaule nicht mehr hören – er kommt ja von da. »Mein Problem ist: Ich bin kein Ossi mehr. Ich bin zum Beispiel zweiundzwanzig Jahre nach 1945 geboren worden – ist der Krieg deshalb mein Thema? Sicher nicht. Und so ist es auch mit der DDR, die ist einfach vorbei, Gott sei Dank!«

Also gibt es im Osten keinen Osten mehr? Weil der Osten jetzt den Westlern gehört? Nein, nein, sagen beide, Überreste gebe es noch in ein paar Ecken: ein kruschteliger Schreibwarenladen in der Hauptstraße fällt ihnen ein, eine alteingesessene Textilreinigung … und natürlich die DDR in den Schulen, der alte Mief von Volksbildung. »Das«, stöhnt Jürgen Wissmann, »erledigt sich nur über Aussterben, da ist noch vieles superostig.« Er weiß, wovon er redet, Raja geht in die erste Klasse.

Aber bis auf die paar postsozialistischen Grundschullehrerinnen findet er es ganz und gar himmlisch hier im Bötzowviertel. Er schwärmt von der Infrastruktur für Familien, von den vielen Spielplätzen, den Straßenfesten und den kleinen Initiativen der Leute hier. Als zum Beispiel die Bibliothek geschlossen werden sollte, haben die Bewohner des Viertels dafür gesorgt, dass sie offen bleibt und die Ausleihe selbst organisiert. »So was geht ja auch nicht«, sagt Susanne Wissmann, »in Laufnähe von allein drei Grundschulen muss es doch eine Bibliothek geben!«

Nein, das geht natürlich nicht. Kinder gibt es hier jede Menge, sie sind das lebendige Prinzip des Viertels, Ausdruck von Lebensqualität und Gruppenzugehörigkeit. Leider, das finden auch die Wissmanns, sieht man in den Straßen so gut wie keine alten Leute mehr. Auch aus ihrem Wohnhaus sind inzwischen die letzten Altmieter ausgezogen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Mietobergrenzen hier im Bötzowviertel gekappt werden. »Wir gehen freiwillig, bevor wir dazu gezwungen sind«, haben sie zu den Nachbarn gesagt und ihre Sachen gepackt. »Schade«, sagt Jürgen Wissmann, es wäre gut, wenn die Kinder auch mal was anderes als Kinder und Eltern sehen würden, Abwechslung hätten, »aber es ist doch allgemein zu beobachten, dass die Generationen vereinzeln«. Hier die Jungen mit den Jüngsten, irgendwo anders die Alten, Armen, Schwachen. Warum sollte das hier anders sein?

Im Bötzowviertel sind eben nicht nur alle jung und gebärfreudig. Susanne Wissmann findet es zusätzlich angenehm, dass in den Straßen und Cafés, auf den Spielplätzen und Elternversammlungen alle gut und gesund ernährt aussehen. »Ich kenne hier kein fettleibiges Kind«, sagt sie, »das muss an der Ernährung liegen.« Und was ist mit Unterschieden, frage ich, soll ein Kind nicht wissen, dass es verschiedene Menschen gibt – auch Arme, Kranke, Benachteiligte? Gehört das nicht zum Erwachsenwerden, zu wissen, dass es Ungerechtigkeit gibt, Scheitern, manchmal einfach Pech? Susanne Wissmann stellt eine Gegenfrage: »Müssen wir in einen Problembezirk ziehen, um unseren Kindern die Realität zu zeigen? Wir sind nicht traurig, wenn wir das nicht haben, ehrlich.« Und Jürgen Wissmann erklärt: »Ich fahre ja auch nicht zum Ballermann, um den Kindern Säufer zu zeigen.« Ihm ist dennoch wichtig, dass die Kleinen nicht wie im Gewächshaus aufwachsen, deshalb waren sie erst neulich mit der ganzen Familie bei der Langen Nacht der Museen. Da hätten die Kinder in den Galerien eine sehr breite Mischung verschiedenster Leute sehen können: Rentner, Intellektuelle, andere Kinder. Na gut, keine Armen oder so. Aber es war doch insgesamt sehr schön.

Außerdem: Natürlich gibt es auch hier im Viertel Reibungen. Nicht jeder findet es großartig, morgens beim Bäcker erst einmal Linn und Carl-Josef den Vortritt zu lassen, weil die so süß sind und heute mal ganz alleine üben sollen, Laugenstangen zu kaufen. Nicht jeder ist stets bereit, auf dem Weg zur Arbeit einen verkehrsbehindernden Cluster aus Buggys, Lauf- und Erwachsenenrädern zu umkurven. Nicht jeder lächelt, weil die frisch gewaschene und abgefrühstückte Familienformation die Ampel blockiert. Manche werden ungemütlich. Unnötig findet das Jürgen Wissmann. Als er neulich vor der Haustür an Rajas Fahrradhelm rumfummelte, kam eine Frau vorbei und maulte was von »Scheißgören!«. »Du bist doch auch mal klein gewesen!«, hat er ihr hinterhergerufen. »Ist doch so«, sagt er. Das große Problem dieser Gesellschaft seien die blöden Pauschalisierungen. Kinder, Hunde, Ausländer – wer so denkt, kommt nicht weiter. Für ihn verlaufen die Grenzen nicht zwischen oben und unten, wie es die politische Linke einst postuliert hat, sondern »zwischen dir und mir«.

Er will nicht ausgegrenzt werden, weil er Kinder hat. Verständlich. Und normalster Normalalltag hier im Viertel. Man möchte gar nicht darüber nachdenken, welchen Schock die Wissmanns erleiden würden, wenn mit ihren Kindern so verfahren würde wie anderswo in deutschen Städten: misstrauisch, grob und abkanzelnd. Schattige Spielplätze, schlechte Kitas, dröhnender Verkehr – also bundesdeutsche Normalität. Derlei müssen die Wissmann-Kids nicht befürchten. Hier sind sie kleine Könige, wer sie ärgert, muss mit Ärger rechnen.

Seit letztem Herbst zum Beispiel boykottiert Susanne Wissmann ein sehr angesagtes Café im Kiez. Dort hatte man ihr und den drei Kindern einen Tisch neben der Tür zugewiesen. Unmöglich findet sie das, inakzeptabel. So nicht, liebe Leute, sagte sie, bei euch habe ich zwar meine Hochzeit gefeiert – aber wer mir kinderfeindlich kommt, der muss sich andere Gäste suchen. Und genauso hält sie es jetzt. Sie trinkt sowieso nicht besonders gern Latte macchiato. Und es tröstet sie, dass sie hier nicht allein ist mit ihrer Haltung. Die Familien halten zusammen, zelebrieren ihren Lebensentwurf. »Ich wollte immer Karriere machen«, sagt Susanne Wissmann, »ich habe in einer Umwelt-Consultingfirma gearbeitet. Aber nun habe ich die Kinder. So ist das jetzt in meinem Leben, und dafür gibt es einfach keine bessere Ecke als diese hier. So wie ich bekommen auch andere Frauen nicht nur ein, sondern zwei, auch drei Kinder. Das finde ich toll. An der Supermarktkasse werde ich vorgelassen, jemand packt mir die Lebensmittel ein, wo findet man so was schon?«

Diesmal, also beim dritten Kind, gönnt sie sich den Luxus, ein zweites Jahr zu Hause zu bleiben. Erst wenn sie so weit ist, wenn der Kleine zuverlässig in die Kita eingewöhnt ist und sie Lust hat, wieder zu arbeiten, will sie ihren früheren Chef anrufen und fragen, ob er wieder was für sie zu tun hat. Zum Glück ist ihr Mann verbeamtet. Bei seinen Schülern sieht er ja, wo es hingeht in diesem Land. Wer nicht an sich arbeitet, wer nichts bringt oder versagt, hat es schwer.

Den Wissmann-Kindern wird das nicht passieren, ihre Eltern achten von Anfang an darauf, dass sie sich optimal entwickeln, dass sie gesund sind, gut gefördert werden, eine glückliche Kindheit haben. Das fängt schon mit dem richtigen Kindergarten an. Der mittlere Sohn besucht die Waldkita, da war Raja auch schon, und der Jüngste wird als Geschwisterkind ebenfalls dort hingehen. Es mag ein bisschen seltsam wirken, dass Kinder aus dem Herzen einer Großstadt jeden Morgen emissionsintensiv aufs Land gefahren werden. Aber die Wissmanns haben gute Gründe. Sie wollen, dass ihre Kinder von klein auf jeden Tag mehrere Stunden lang an die frische Luft kommen, und leider haben sie in der Großstadt keine andere Kita gefunden, bei der das so gehandhabt wird wie in einer Waldkita.

Dafür bringt Susanne Wissmann den mittleren Sohn pünktlich halb neun zum Kollwitzplatz – eine logistische Herausforderung, wenn man außerdem jeden Tag ein Grundschulkind in die Spur setzen muss und ein einjähriges Kleinkind hat. Von dort, von der urbanen Mitte der Hauptstadt, werden die Kinder zwanzig Kilometer weit an einen Brandenburger See gefahren, wo sie sich wie gewünscht bis halb eins und bei allen erdenklichen Witterungsbedingungen in der freien Natur aufhalten. Anschließend geht’s wieder mit dem Bus zurück in den Prenzlauer Berg, wo sie Mittag essen und anschließend bis fünf Uhr nachmittags betreut werden.

Ich frage die Wissmanns, warum sie nicht aufs Land ziehen, wenn ihnen für die Kinder die frische Luft, die grünen Wiesen und der weite Blick so wichtig sind. Auch in Kleinstädten könne man glücklich werden, das wüsste ich sicher. Nein, sagt Susanne Wissmann, das würde nichts bringen – »im Osten gibt’s ja keine Waldkitas«. Ja klar, sage ich, aber die braucht’s ja auch nicht, wenn da alles grün ist. Nein, sagt auch Jürgen Wissmann, sein Job ist in der Stadt, da werde er gar nicht erst mit dem Pendeln anfangen. Er züchte ja auch keine Hühner, um Eier essen zu können. Viele hier kämen vom Land, da sei es doch logisch, dass die für ihre Kinder ein Stück Natur haben wollten, oder?

Ach, diese Wissmanns! Ökonudeln, Kinderkrieger, Landeier, Großstädter – alles in einem. Als ich wieder draußen vor ihrer Haustür stehe, in der kleinen ruhigen Straße, habe ich das dringende Bedürfnis, auf der Stelle etwas Falsches zu tun. Mich zu betrinken zum Beispiel. Zwanzig Zigaretten hintereinander zu rauchen. Gegen ein Lauflernrad zu treten. Oder einen Doppelwhopper aus Industriefleisch mit genmanipulierten Pommes zu essen. So etwas. Nichts dergleichen tue ich. Ich schiebe mein Rad durch die feuchte warme Nacht, in den Pfützen schwimmen die Lindenblüten. Und bei den Wissmanns schnarchen drei süße Kinder in ihren Betten, einem neuen, gesunden, aufregenden und vollwertigen Junitag entgegen.