Streifen und Streublümchen oder

Nicht jeder nur ein Kind

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Fein säuberlich hängen die Strampler, die Kleidchen und Bodys auf der Stange. Beste Baumwolle, gediegene Muster: Streifen für die Jungs, Streublümchen für die Mädchen. Die kleinformatigen Textilwunder sind französischer Herkunft. Petit Bateau heißt die Firma, kleines Schiff, und wer es sich leisten kann, vierzig Euro für ein Sweatshirt oder dreißig für die kleine Ringelhose auszugeben, dessen Kind strahlt darin weltläufiges Understatement auf Prenzlauer-Berg-Niveau aus.

Mitten im Verkaufsraum steht auch ein Kinderhochbett, dessen österreichischer Hersteller die so schöne wie abseitige Idee hatte, das verwendete Sperrholz mit echtem Lodenstoff zu beziehen. Und gleich neben der Kasse liegt Dream Bag, das Bodenkissen für Kinder. Hier im Kinder-Conceptstore gibt es alles, was für eine standesgemäße urbane Ausstattung denkbar wäre. Nötig ist es nicht, aber schön. Auch schön teuer. Das Kissen in Blütenform kommt 130 Euro, das Lodenbett 2100 – ohne Matratze und zuzüglich Versandkosten, versteht sich.

Kinder nur mit dem Besten versorgen zu wollen, ist ein nachvollziehbares Motiv. Nichts ist so einzigartig, nichts so wertvoll wie der eigene Nachwuchs. Aber mal ehrlich, tut es not, Einjährige mit Spielgeräten zu beglücken, die Designpreise gewonnen haben? Sie in Kleidchen zu stecken, die belgische alte Weiblein mit der Hand bestickt haben? Sie in Betten zu legen, die ein zauseliger Öko-Schreiner irgendwo in den Alpen verleimt hat? Macht gutes und teures Design aus ihnen bessere Menschen? Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was meine Kinder für minderwertige Klamotten und Spielzeuge hatten, wie viele Pestizide sie in sich reingesabbert haben, als sie auf einem nicht ökologisch korrekten Plastikring rumgekaut haben. Möglicherweise sind sie deshalb heute manchmal so aufmüpfig und egozentrisch, weil ich zugelassen habe, dass sie mit knisternden Alditüten gespielt haben, mit Löffeln aus Nirostastahl gegessen und in Töpfchen gekackt haben, deren Schadstoffwert heute dazu führen würde, dass die Europäische Umweltbehörde einschreiten müsste. Wie gut, dass das heute vorbei ist und Eltern in die Lage versetzt werden, ihren Kindern standesgemäße Ausstattungen und Einrichtungen zu kaufen.

Die Verkäuferin im Conceptstore ist sehr freundlich. Sie führt mich herum und erklärt mir die Trends: In diesem Sommer wird es wieder mehr kleine Mädchen im Laura-Ashley-Stil geben. Das Gouvernanten-Outfit der letzten Jahre klingt aus, die Zeiten waren ernst genug. Jetzt geht’s wieder Richtung Blümchen und Schleifchen, tausend kleine Sommerelfen sollt ihr sein, die den Kollwitzplatz bevölkern. »Wer kauft so etwas Teures«, frage ich, »Babysachen passen doch nach drei Monaten schon nicht mehr.« Die Verkäuferin weiß Bescheid. Im Prenzlauer Berg, sagt sie, haben ja die allermeisten mehr als ein Kind, da könne man so ein Buddelhöschen für 35 Euro gut weitervererben.

Sie hat nur ein Kind, einen neunjährigen Sohn. Und ganz ehrlich, schon damit fühlt sie sich hier, wo sich die Familien »stapeln«, wie sie das nennt, unterklassig. Ein Kind? Zu wenig für diesen Bezirk. Tatsächlich kenne auch ich Situationen, in denen ich die Idee, mich vor ein Café zu setzen, wegen scheinbarer Kinderlosigkeit ganz schnell wieder fallen lasse. Das sind jene Etablissements, vor denen hellblau oder weiß gestrichene Klappstühle stehen, auf den Tischen warten Lavendeltöpfchen und sorgfältig designte Speisekarten – dies sind die Eltern-Kind-Cafés. Dass hier nur zeugungs- und gebärerprobte Erwachsene samt Nachwuchs reinkämen, steht natürlich so nicht draußen dran. Die Läden haben hübsche Namen wie »Onkel Albert«, »Café Milchbart« oder »Knilchbar« – sie kommunizieren also schon auf den schnellen Blick regressiven Babytalk auf Konsumniveau.

Aber spätestens wenn gegen elf die ersten Müttergruppen mit ihren Kindern vom Turnen, von der Ergotherapie oder vom Friseur kommen, versperren gigantische Buggygeschwader den Gehweg. Da sitzen die Frauen, trinken eine laktosefreie Latte, bestellen einen Plunder und blinzeln in die Sonne. Derlei sozial eindeutige Cluster umschiffe ich wenn’s geht großräumig, da kann der Kuchen noch so gut sein.

Denke ich ein wenig länger über das Phänomen der verrammelten Bürgersteige nach, erinnert mich vieles hier an das Dorf meiner Großeltern. In dem kleinen Ort, dessen Ruhe nur ab und zu von einem Trecker gestört wurde, war es das Privileg der alten Männer, vor dem Dorfkrug zu hocken. Da saßen sie dann, in Hosenträger-Cordhosen, Rentnerhütchen auf dem Kopf und billige Zigarillos zwischen Daumen und Zeigefinger, vor einem schalen Bier. Ab und zu sagte mal einer was – zustimmendes Murmeln. Ansonsten herrschte behagliches Schweigen. Diese Männer hatten ihr Leben gelebt, sie waren sich ihrer Sache sicher, ihrer Entscheidungen und Überzeugungen. Und so ähnlich verhält es sich offenbar auch mit diesen Frauen hier, die ja ebenfalls über endlos viel Zeit für Muße und ausreichend Geld für Kaffee und Kuchen verfügen. Wie machen die das bloß, denke ich, müssen die nicht auch irgendwann mal wieder arbeiten?

Es ist ein Phänomen der Gentrifizierung, dass sich solche sozialen Phänomene herausbilden. Nicht jeder hier kann das gut ab. Auf die Angebotstafel des Cafés Milchbart haben kritische Bürger FUCK gesprüht. Ob das als Aufforderung oder Drohung gemeint ist, kann sich jeder selbst zusammenreimen. Aber der Laden ist gut besucht, der Milchschäumer zischt fleißig, und die Serviererinnen tragen ihr schönstes Tantenlächeln zur Schau – draußen auf dem Gehweg lungern die Frauen mit ihren Kinderwagen wie eine Gruppe Seekühe in der Polarsonne.

Die Verkäuferin vom Conceptstore fragt sich indes, wohin das alles führt. Auch ihr ist es hier inzwischen zu voll, zu kinderig, zu hermetisch, sagt sie. Klar, sie verkauft diesen Familien ihre Waren des nicht alltäglichen Bedarfs – dennoch spricht sie von Druck, den die ständig zur Schau getragene Familienheiligkeit ausübt. Schon ziehen viele weg aus dem Casting-Bezirk, die Mieten sind zu teuer, die Kitaplätze zu knapp, in den Geschäften gibt’s weder Milch noch Brot, sondern jede Menge sinnlosen Schnickschnack. Aber sie hat ja den Job in diesem Laden, einem von fünf derartigen allein in diesem Karree. Und sie hat ihr Kind. Froh ist sie, dass der Sohn schon neun ist, da muss sie mit ihm nicht mehr endlos auf dem Spielplatz hocken. Das, seufzt sie, sei doch die wahre Folter für Eltern, das endlose Warten: auf Spielfreunde, auf Elternfreunde, darauf, dass die Wippe frei wird, darauf, dass es endlich, endlich Zeit fürs Abendessen wird. Jetzt sei der Junge endlich groß genug, sich auch mal selber zu beschäftigen.

Und tatsächlich kann auch ich mich noch gut erinnern, wie ich einst hier auf dem Kollwitzplatz gesessen habe. Knallende Sonne, kein Baum nirgends, Kind im Buddelkasten, Mutter am Rand – es gibt wahrlich Schöneres. Man kann ja nicht mal ein Buch dabei lesen, bei der kleinsten Unaufmerksamkeit könnte dem Kind was passieren. Dann dieses gegenseitige Belauern der Eltern, das leicht verkniffene Lächeln und das verlogene »Macht doch nichts«, wenn das eigene Kind mal wieder in Verletzungsabsicht seine Schippe gebraucht hat. Wir waren Frauen, die einander alle vom Sehen kannten, aber nur ganz selten ins Gespräch miteinander kamen. Wozu auch? Worüber sollten wir reden? Wir beäugten uns gegenseitig und taxierten, welche von uns die schwerste, die teuerste, die aggressivste Lederjacke hat. Das coolste Fahrrad, das abgefahrenste Kind. Wir waren alle so wahnsinnig erschöpft.

Ich mache mich auf ins Wegwarte-Haus. Auf Wiedersehen, du aufrichtige Verkäuferin, danke für die ehrlichen Worte und guten Umsatz noch! Ich schiebe mein Rad am Kollwitzspielplatz vorbei. Knallende Sonne, kein Baum nirgends, Kinder im Buddelkasten, Mütter am Rand. Alles wie immer. Was bin ich froh, hier weggezogen zu sein. Etwas Besseres als das hier habe ich allemal gefunden.