Eigentum verpflichtet oder

Dann doch lieber in Marzahn wohnen

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Interessiert stehen die beiden da: Vater und Sohn. Beide – der Große das Fahrrad haltend, der kleine im Kindersitz – schauen zu, wie ein Bauarbeiter fein säuberlich die Fahrbahnmarkierung aufträgt. Sie werden Zeugen, wie eine viel befahrene Durchgangsstraße zur Fahrradstraße umgewidmet wird. Entsprechend riesig fällt das Fahrradzeichen aus, das der kundige Werktätige da auf den Asphalt aufträgt.

Die beiden genießen den Augenblick. Das sollten sie auch, denn hier geschieht gerade etwas ganz Seltenes: Eine gute stadtplanerische Idee wird ins Werk gesetzt, und das ist im Prenzlauer Berg eher selten. Ansonsten nämlich fällt die Bauverwaltung eher dadurch auf, viele Straßen und Wege gleichzeitig zu sperren, aufzureißen, zuzuschütten, um sie Wochen später unter Salutschüssen wieder für den Verkehr freizugeben. Wenig später werden sie erneut gesperrt und aufgerissen. Um den Leidensdruck für die Bewohner des Bezirks noch ein bisschen zu erhöhen, werden die Umleitungen dann so festgelegt, dass man selbst mit den besten Ortskenntnissen und dem aktuellsten Navi irgendwann unrettbar verloren ist.

Wenn ich da draußen sehe, dass wieder einmal unverhofft und wie von Zauberhand eine wichtige Straße gesperrt wurde, denke ich voller Zuneigung an die Bauverwaltung meiner Kleinstadt. Wenn da mal für drei Monate eine Hauptstraße »grundhaft erneuert wird«, bekomme ich im Amtsblatt erklärt, wann es losgeht mit der Störung meiner Abläufe, wie lange das Ganze dauern wird, was es kostet und welche Umleitung man für mich vorgesehen hat. Wird der Zeitplan nicht eingehalten, muss sich der Bauleiter in der Lokalzeitung öffentlich erklären. Und wird der Termin doch gehalten, kommt am Schluss der Bürgermeister, schneidet ein Band durch und dankt den Anliegern für ihre Geduld.

Ja, so ist das in der Provinz. Und obwohl auch der Prenzlauer Berg im Grunde eine Kleinstadt ist, gehört es hier offenbar zum guten Ton, dass die Verwaltung die Bürger gern ein bisschen leiden lässt, ihnen die Straßen versperrt, ohne vorher Bescheid zu sagen, sie umständliche Wege zurücklegen lässt und – vor allem – ihnen nicht erklärt, warum etwas passiert, wie lange es dauert und wer das Ganze letztlich bezahlt.

Wenn dann die Fußgänger und Radler, die Lieferfahrzeuge und Privatautos sich einen Weg durchs frisch verwirrte Straßenlabyrinth zu bahnen versuchen, fällt ihnen im Stau möglicherweise ein Schild auf, das sie noch nie zuvor gesehen haben. In einem rot umrandeten Warndreieck erkennen sie ein Haus, aus dem gerade in hohem Bogen ein Männchen rausfliegt. Nein, hier wird nicht vor Rutschgefahr in frisch gebohnerten Hauseingängen gewarnt – dieses Schild ist ein ziemlich intelligenter Protest gegen die Verdrängung der alteingesessenen Bewohner durch immer höhere Mieten, steigende Immobilienpreise und durch Leute, die sich all das leisten können und trotzdem noch Zeit und Geld für Milchkaffee haben.

Angebracht ist das Schild direkt vor einem der umstrittensten Immobilienprojekte der Gegend. Die Choriner Höfe sind in eine relativ schmale, dafür aber sehr, sehr tiefe Baulücke geklotzt worden. Verkaufsmotto: »The fine art of living«. Mag sein, dass die Bewohner sich an die ewigen Gerüste wegen der Fassadensanierungen gewöhnt haben, an die riesigen Kräne für die Dachgeschosswohnungen, sogar an die Dixi-Klos, deren pestilenzartigen Gestank niemand einfach ignorieren kann. Aber The fine art of living? Sind wir hier an der 5th Avenue, oder was? So ein bisschen abgeschabt soll es im Bezirk schon bleiben – da stört allzu offensiv zur Schau gestellter Reichtum.

Und tatsächlich, 3500 Euro kostet ein Quadratmeter fine art, und wer living mit der Loftwohnung im sechsten Stock verbindet, zahlt auch schon mal sechseinhalbtausend für die Größe einer Tischdecke. Das mag für die Eltern aus Schwäbisch-Gmünd, die die Immobilienpreise in der Stuttgarter Innenstadt parat haben, noch okay und halbwegs bezahlbar sein. Was aber das Projekt so unbeliebt macht, ist die zur Schau gestellte Schnöseligkeit, das hemmungslose Abschotten gegen die anderen in Gestalt von Türstehern, Videoüberwachungsanlagen und Bildtelefonen an der Klingelanlage. Und das in einer Gegend, die längst wohlhabend ist, in der man aber gesteigerten Wert darauf legt, das schön protestantisch nicht so raushängen zu lassen. Letztlich bedeutet das Drehen an der Schnöselschraube, dass selbst die Zugezogenen irgendwie unterklassig sind für Leute wie jene, die sich in die Choriner Höfe einkaufen. Eine große nachbarschaftliche Beleidigung!

Um so größer ist die Häme, als endlich mal jemand was unternimmt gegen diese Neuen im Kiez. »Sie sind herzlich eingeladen!«, steht auf dem Flyer, den die Nachbarn der Choriner Höfe in ihren Briefkästen gefunden haben. Eine nette Geste, mit der man sich bei den Nachbarn für den Lärm und den Staub, für die Behinderung des Buggy-Verkehrs und den frühmorgendlichen Lärm des Steinschneiders während der Bauphase erkenntlich zeigen möchte. Nichts für ungut. Aber dann – nach der Einladung zu Champagner und gemeinsamem Kennenlernen – kommt’s: »Einige nicht sanierte Häuser in unserer gemeinsamen Nachbarschaft passen jetzt nicht mehr in das neue, gehobene Erscheinungsbild unserer Straße. Deshalb haben wir uns im Sinne der guten Nachbarschaft bereiterklärt, die unansehnlichen Gebäude zu erwerben und stilgerecht zu sanieren.« Dabei, so geht es weiter im Text, wolle man die jetzigen Mieter nicht mit dem Problem der höheren Mieten allein lassen. »In naher Zukunft entstehen neue qualifizierte Arbeitsplätze für Servicekräfte in den Bereichen Security, Facility Management, Gastronomie, Grünanlagenpflege und Housekeeping.« Im Klartext: Wenn ihr hierbleiben wollt, wird’s teuer, aber ihr könnt euch bei uns ’ne Mark dazuverdienen – wir brauchen Gesinde: Diener, Gärtner und Aufpasser.

Am Ende des Briefes wird den Leuten im Kiez auch noch mit der Enteignung des identitätstiftenden öffentlichen Platzes gedroht, und zwar mit dem Mittel der Bürgerbewegung: »Die Familien und Käufer haben eine Kinderspielplatz-Initiative gegründet und freuen sich über eine rege Teilnahme aus der Nachbarschaft. Die Zukunftsvision ist ein sicherer, abgeschirmter Spielplatz auf dem Areal des Teutoburger Platzes, exklusiv für Mitglieder der Initiative. Ziel ist es, die Kontakte unserer Kleinsten untereinander zu stärken und Sicherheit vor unkontrollierten Einflüssen zu gewährleisten. Pädagogisch geschultes, mehrsprachiges Personal wird für die Betreuung unseres Nachwuchses sorgen. In unsere Kinder investieren heißt, in unsere Zukunft investieren. Wir freuen uns auf Sie!«

Es hat ein bisschen gedauert, bis auch dem Letzten auffiel, dass die Einladung zum Schampus ein Fake war, in dem stand: Verpisst euch, das hier ist jetzt alles unseres. Was wäre daran bitte neu? Genauso ist es ja längst. Dennoch scheint irgendwas nicht so recht geklappt zu haben mit dem Immobilienbusiness. Es stehen noch Wohnungen zum Verkauf, und sogar einmieten kann man sich mittlerweile.

Die Lage ist ziemlich klar: In einem Bauprojekt wie diesem, das einen derart schlechten Ruf in der Gegend genießt, kauft keiner die Wohnungen und Lofts zur Straße hinaus. Denn da leben ja echte Menschen mit echten Leben und möglicherweise – man möchte gar nicht so genau drüber nachdenken – mit weniger Geld als man selbst. Und die könnten doch darauf kommen, Farbbeutel zu werfen oder den Cayenne zu zerkratzen. Wohnungen, aus denen man all dessen ansichtig werden könnte, verkaufen sich nicht. Und so kommt es, dass man sich jetzt einmieten kann. Aber will man das?

In der Musterwohnung wartet der schöne Gideon. Gideon öffnet mir die Tür und führt mich herein. Er duzt mich und schaut mich aus bemerkenswert grünen Augen an. Was mir denn so vorschwebe, fragt Gideon. Ich fasele was von kleiner Citywohnung für Berufspendler. Gideon schiebt mir die Preisliste und den Lageplan herüber. Hier ist noch was frei, da schon was reserviert, Eichenparkett, Bulthaup-Küche sind inklusive, Tiefgaragenplatz 120 Euro. »Und was ist mit Kindern«, frage ich, »wo spielen die hier?« Gideon zeigt auf das gesamte Areal. »Kinder können hier überall spielen«, erklärt er mit raumgreifender Geste, »erst hatten wir zwei Spielplätze geplant, aber dann haben wir entschieden: Die Kleinen sollen hier ihre Freiheit genießen.« Darauf ich: »Ach so? Mich stören Kinder aber eher, ich zahle hier eine Menge Geld, da will ich meine Ruhe.« Gideon ist jetzt ein bisschen ratlos. Auf solche Kundinnen haben sie ihn beim Verkaufstraining nicht vorbereitet. Er tut das Naheliegende und rät mir zu einer weit oben gelegenen Wohnung: 65 Quadratmeter für 14,50 Euro Kaltmiete. Ich lächle, packe die Tabellen und Lagepläne ein und verspreche, mich wieder zu melden. Trotzdem lächelt er beim Abschied.

Draußen im Hof schaue ich mich noch einmal um. Das Ensemble sieht aus wie ein zu eng bebauter All-inclusive-Ferienclub, dicht an dicht reihen sich die Balkone und Loggien, schmale Wege teilen den schattigen Hof. Noch wohnt kaum jemand hier, aber wenn, wird es hier hallen und schallen, die Eigentümer werden einander weitaus besser kennenlernen, als sie das je vorhatten. Und wenn dann noch durch das kleine Millionärsdorf eine Kinderhorde marodiert, liegt der Gedanke nahe, dass hier zu wohnen ungefähr so schön ist wie in der Marzahner Platte. Da weiß man wenigstens vorher, was einen erwartet. Und spannender und billiger ist es da allemal.