Du musst machen, dass das burnt
Um mal was anderes zu sehen als immer nur ausgestellte Familienherrlichkeit oder pädagogische Willfährigkeit, fahre ich übers Wochenende mit Sibylle ins Grüne. Drei Tage Auszeit vom Muttibezirk: Hotel, Spa, gute Küche, volles Programm. Für den Saunaruheraum habe ich mir »Mutter« von Rammstein auf den iPod geladen, ich will nachdenken über die Frage, warum Elternthemen eigentlich immer so durch die Decke gehen. Warum ich, wenn ich davon erzähle, was für ein Buch ich gerade schreibe, automatisch diese Reaktion bekomme: »Ha, schreib das alles auf! Die gehen mir ja so auf die Nerven.«
Frage ich dann genauer nach, kommt meist gar nicht so viel. Eher so allgemeines Gegrummel und Genörgel von Leuten mit Kindern, die sich von den Prenzlauer-Berg-Müttern nur insofern unterscheiden, als sie gerade mal vierhundert Meter weiter im benachbarten Stadtbezirk wohnen und deshalb meinen, etwas ganz anderes darzustellen als ihre gescholtenen Geschlechtsgenossinnen. Um ehrlich zu sein machen einige dieser Frauen, die mich anspornen, mal richtig auf ihren Mitmüttern rumzuhacken, auf mich den Eindruck, als würden sie mich in selbstverletzender Absicht um Schmähungen bitten. Wie kommt das bloß?
In der ländlichen Idylle angekommen, wandere ich mit Sibylle um den kleinen grünen See, der praktischerweise gleich neben dem Hotel ans Ufer schwappt. Wir reden darüber, woher diese stutenbissige Missgunst rührt und ob all diese Väter und Mütter in den Familienbezirken da möglicherweise etwas ins Werk setzen, was wir als Eltern einst so nicht hingekriegt haben: gute Planung, richtiges Familienleben, volle Aufmerksamkeit fürs Kind, Qualitätsbildung und -versorgung. Was ist daran eigentlich falsch, frage ich. »Klar habe ich meine Kinder auch lieb gehabt. Aber Liebe – gut und schön. Reicht die? Hätte ich sie doch mehr Richtung Spracherwerb und Reiten drücken sollen, statt sie nach dem Abendessen vor den Simpsons abzustellen?«
»Nichts gegen die Simpsons!«, mahnt Sibylle. »Ein bisschen ist es doch wirklich so gewesen, dass unsere Töchter mit uns fast schon nebenher groß geworden sind. Wir haben manchmal ganz schön improvisiert, vor allem, wenn es um den Job ging. Aber«, und jetzt wird Sibylles Stimme gefährlich laut, »ich lass mir von den Macchiatotussis doch nicht erklären, was ich falsch mache. Lucia kriegt nächste Woche ihr Zeugnis: Einskommaeins in der elften Klasse! Und das als Kind einer alleinerziehenden, voll arbeitenden Mutter? Irgendwas muss ich wohl richtig gemacht haben.« Ich klopfe Sibylle auf die Schulter. Selbst meine schlagfertige Freundin geht gerade mal wieder ab wie Lumpi beim Thema neue Eltern. Zeit, ins Hotel zurückzugehen und uns eine Runde Entspannung in der Sauna zu gönnen. Wir kochen wie vorgesehen unsere Körper und hauen uns danach auf die Ruheliegen, ich mit Rammstein im Ohr, Sibylle löst Kreuzworträtsel. Das Leben kann so einfach sein, wenn man mit sich und der Umwelt harmoniert. Wozu nur all der Streit?
Abends im Hotelrestaurant serviert uns die Kellnerin gerade das Spargelmenü, als wie aufs Stichwort eine geradezu klassisch zu nennende Edel-Eltern-Familie den bis dahin lediglich vom Knistern des Kaminfeuers erfüllten Raum entert. Ein später Vater, eine nicht so späte Mutter sowie die gemeinsamen Söhne. Die drei kleinen Lockentrolle, mit denen ihre Eltern mal auf Deutsch, mal auf English kommunizieren, bringen im Handumdrehen »die Verhältnisse zum Tanzen«, wie man das früher formuliert hätte. Sie lärmen und stören, kreuzen munter durch den Gastraum, werfen ihre schweren Holzstühle um, spucken angewidert ihre Vorsüppchen über den Tisch und fordern lautstark von der Kellnerin, sie möge unverzüglich Kaminholz nachlegen. »Du musst machen, dass das burnt!« Die Serviererin ist dienstbar, ihren Job in diesem guten Hotel verdankt sie nicht nur ihrem möglicherweise guten Schulabschluss, sondern auch einem gerüttelt Maß an Duldungsfähigkeit in diesem Landstrich, den besorgte Bundespolitiker gern strukturschwach nennen. Kurzum, sie tut, wie ihr geheißen und legt Holz nach. Die Buben geben nun eine Minute Ruhe.
Sibylle und ich schauen uns tief in die Augen. Welches Schicksal hat uns denn dieses Horrorquintett hierhergezaubert? Gerade waren wir dabei, in die versöhnliche, ja beinahe selbstkritische Phase einzutreten – da tauchen diese Nervensägen auf. An Reden ist nicht mehr zu denken. Wir essen, schweigen und beobachten das muntere Treiben im Gastraum, das Getöse, Genöle und Gerenne. Die Mutter ist damit beschäftigt, in ihren hohen Riemchensandalen ihre Kinder abwechselnd aufs Klo, nach draußen, zum Feuer oder zum Stören der anderen Gäste zu begleiten. Den späten Vater hingegen schert all das nicht. Wozu gibt es Personal? Er öffnet die Knöpfe seines Dinnerjackets, nestelt die Lesebrille hervor, streicht sich versonnen durch die vollen grauen Locken und bestellt bei der Kellnerin »das Lammkarree medium und dreimal Kartoffelpüree für die Jungs«. Seine Frau ist gerade mal wieder nicht da, um auch mal einen Blick in die Karte zu werfen.
Fünfzehn Minuten später kommt das Essen für Daddy und die Jungs. Mummy ist unterwegs. Das Biolamm streckt anmutig seine Rippchen Richtung Gasthausdecke, die drei Breiteller schimmern in goldbrauner Butter. Doch irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Die Trolle verfallen in ein bilinguales Geheule, weil die Küche es versäumt hat, den Kartoffelpamps in Vulkanform anzurichten und die Butter in den dazugehörigen Krater zu füllen. Daddy winkt mit schlaffer Hand der Kellnerin und fordert sie auf, diesen unhaltbaren Zustand zu beseitigen und »den Jungs« Vulkanbrei aufzutragen. Und so geschieht es.
Als kurz darauf goldgelbe Krater aufgetragen werden, haben die Trolle keinen Appetit mehr – die Kellnerin kann »das« gleich wieder mitnehmen. Und da taucht auch wieder die Mutter auf, im Arm hält sie den kleinsten Troll, er ist müde geworden und eingeschlafen. Und nun ist es auch Zeit für Mama zu essen. Sie setzt sich auf ihren Stuhl und gabelt – den Kleinsten auf dem Schoß – ein bisschen in Papas Lammresten herum. So dünn, wie sie ist, scheint das für sie eine vollwertige Mahlzeit zu sein.
Sibylle und ich schauen uns über unsere Teller hinweg an. Was genau stört uns hier eigentlich? Es ist das Edel-Eltern-Prinzip. Zwei Erwachsene entschließen sich, mit ihren drei Kindern in ein Hotel zu reisen und dort ihren Mitgästen einen kleinen Auszug aus ihrem Alltag zu präsentieren: mittelalterliches Rollenverständnis, gepaart mit schlechtem Benehmen. Machen sie dabei etwas falsch? Im Grunde nicht. Sie haben ja dafür bezahlt, dass sie sich hier wie zu Hause fühlen können. Machen sie etwas mit den Kindern falsch? Nein, denn die Kinder kennen es nicht anders. Stören sie ihre Umgebung? Ja. Aber diese anderen – also Kinderlose wie zum Beispiel Sibylle und ich – sollen einfach die Klappe halten und weiteressen. Sonst burnt‘s!