In
Rufbereitschaft oder
Die angesagte Hebamme
Letzten Sommer ist sie wiedergekommen. Zurück nach Deutschland, zurück nach Berlin. Die Hebamme war mit Mann und Kindern drei Jahre lang in China, ihr Mann hat dort gearbeitet. Sie hat sich in Akupunktur und Traditioneller Chinesischer Medizin ausbilden lassen. Jetzt sitzt sie in einem dieser sauber duftenden Zimmer des Geburtshauses und erzählt von sich. Davon, was sich hier verändert hat und wie die Mütter und Väter versuchen, alles perfekt hinzukriegen. Dabei, das weiß sie genau, funktioniert das nicht, wenn ein Kind geboren ist. Kann es nicht und soll es nicht.
Ich bin schon ewig Hebamme, vor fünfundzwanzig Jahren habe ich meine Ausbildung beendet an der Berliner Charité, da war ich gerade volljährig, wahnsinnig jung eigentlich. Bis 1990 habe ich in einem Krankenhaus am Stadtrand gearbeitet, dann, gleich nach dem Mauerfall, bin ich als Entwicklungshelferin in den Jemen gegangen. Das war eine ganz tolle Zeit. 1994 bin ich beim allerersten Ostberliner Geburtshaus eingestiegen, du hast ja auch hier entbunden, nicht wahr? Damals habe ich quasi mein Privatleben zugunsten des Berufs aufgegeben. Wenn ich samstags über den Kollwitzplatz gegangen bin, musste ich erst mal zehn Gespräche führen, bis ich die andere Platzseite erreicht hatte. Überall Frauen, die bei mir ihre Kindchen bekommen haben. Meinen Mann hat das manchmal genervt, ich fand’s aber toll. So wollte ich immer arbeiten: mitten unter den Familien. Mit der Arbeit im Geburtshaus war das endlich so.
Was sich in den letzten Jahren verändert hat, ist die Haltung der Schwangeren. Sie möchten gern ein Rundum-sorglos-Paket buchen, sind sehr serviceorientiert. Das wundert mich nicht. Mutter werden, Mutter sein war in Deutschland schon immer eine aufgeladene Angelegenheit, in den letzten Jahren ist das nach meiner Beobachtung noch mehr geworden. Und hier im Prenzlauer Berg bilden Mütter, Eltern überhaupt, eine riesige Gruppe. Das macht stark und sehr selbstbewusst. Aber Mutter zu sein ist ja in der Realität nur für kurze Zeit etwas Besonderes, der Alltag holt dich sehr schnell wieder ein. Wenn du mit deinem Schreibaby oder einer Brustentzündung zu Hause sitzt – so etwas erdet. Und da helfen wir Hebammen dann weiter.
Die Frauen hier in der Ecke, die sind gut ausgebildet, sehr gut informiert, viele kriegen relativ spät ihr erstes Kind. Die bringen von ihren Krankenkassen eine ellenlange Checkliste, auf der sie schwarz auf weiß nachlesen können, was alles schiefgehen könnte. Die gehen wir mit ihnen durch, das macht ihnen natürlich Angst, und deshalb soll die Hebamme des einzigen Kindchens aber dann bitte auch hoch professionell sein. Mit diesem Druck mussten wir im Geburtshaus auch erst einmal umgehen lernen. Inzwischen haben wir hier eigentlich alles im Angebot, was die Frauen sich zusätzlich wünschen könnten: Akupunktur, traditionelle Chinesische Medizin, Schwangerenyoga, Ernährungsberatung, fremdsprachige Hebammen. Das sind so unsere Nischen, die unterscheiden uns von den Geburtskliniken.
Ich sehe zu, dass nach der Geburt auch wieder die professionelle Distanz einzieht zwischen den Frauen und mir. Das fängt damit an, dass ich und meine Kolleginnen hier im Geburtshaus die Paare beim Infoabend erst einmal siezen. Erst später, wenn wir sie durch die Schwangerschaft und Geburt begleiten, wenn man körperlich wird, duzen wir uns, das kommt ja dann ganz selbstverständlich. Nach der Entbindung, am Ende der Wochenbettnachsorge, signalisiere ich ihnen: »Dann und dann ist mein letzter Besuch bei dir.« Da machen wir die ganze Dokumentation fertig, halten noch ein Schwätzchen, und dann war’s das mit uns beiden. Vielleicht bis zur nächsten Schwangerschaft.
Anders ginge es auch gar nicht. Das ist schon ziemlich happig mit der Dauerrufbereitschaft. Immer ist mein Handy an, ich kann Tag und Nacht von den Frauen angerufen werden. Sich mal einen antrinken, spontan übers Wochenende wegfahren, mit der Familie oder Freunden feste Verabredungen treffen – das geht in meinem Job nicht. Zigmal bin ich schon zu Hause vom Essenstisch losgedüst, zigmal im dunklen Kino über die Sitzreihen nach draußen geklettert, zigmal habe ich Freundinnen versetzt, weil eine Frau ihr Kindchen bekommen hat. Und doch – ich kann mich davon nicht trennen, so ist mein Beruf.
Seit wir aus China zurückgekommen sind, mache ich einmal im Jahr drei Monate ohne Rufbereitschaft, das habe ich mir fest vorgenommen. Bald ist es wieder so weit, ich freue mich schon darauf, wenn das Ding hier einfach mal ausbleibt. Ich bin jetzt vierundvierzig und fange an, auch nach mir selber zu gucken. Ich sehe, es gibt Kolleginnen, die sind ganz dicht am Burnout: Hebammen müssen immer gute Stimmung machen, für jedes Problem eine Lösung finden – das schlaucht. Wichtig ist in unserem Job vor allem die permanente Empathie für die Frau und ihre Probleme, aber wir Hebammen sind auch Persönlichkeiten mit eigenen Leben. Es gibt unter uns ganz Weiche und eher Coole – all das muss wiederum mit den Bedürfnissen der Schwangeren zusammenpassen. Und genau da muss jede von uns aufpassen, dass sie sich gegen Überforderung schützt, dass sie sich gut fühlen kann bei ihrer Arbeit.
Wichtig ist, gerade in so kinderreichen Gegenden, der Ruf einer Hebamme. Es gibt ja welche, die sind angesagt, das läuft über Mundpropaganda, und man wird dann in Freundes- und Bekanntenkreisen regelrecht rumgereicht. Geburt ist halt ein sensibles Thema, manche Frauen haben in Kliniken schlechte Erfahrungen gemacht, sie haben Einsamkeit erlebt, Angst, Schmerz, manche möchten solche Erlebnisse im Geburtshaus heilen. Und das bieten wir zusätzlich zu unserem geburtshilflichen Können: persönliche Zuwendung, Aufgefangensein, vor allem Zeit. Zeit ist das Wichtigste. Die allermeisten sind mit unserer Arbeit sehr zufrieden, das wissen wir aus den Befragungen, die wir gemacht haben. Klar gibt es da auch mal ein, zwei Unzufriedene drunter, das sind eher Frauen, die wir unter der Geburt doch ins Krankenhaus verlegen lassen mussten, so etwas kann traumatisch sein. Mit ihnen führen wir dann Nachgespräche, oder wir vermitteln ihnen eine gute psychologische Betreuung.
Die Eltern von heute unterscheiden sich von denen vor, sagen wir mal, gut zwanzig Jahren. Frauen, die Anfang der Neunzigerjahre bei uns entbunden haben, die haben damit echt Mut bewiesen. Ein Geburtshaus, so etwas gab es bis dahin gar nicht, das Ganze war also eine moderne Situation, ein Wagnis, das sie eingegangen sind, um selbstbestimmt außerhalb der Kliniken zu entbinden. Viele dieser Frauen wurden sehr ernsthaft von ihren Müttern gewarnt, das Kindchen nicht einer solchen Gefahr auszusetzen, sie sollten doch besser ins Krankenhaus gehen zum Entbinden. Wir waren hier im Prenzlauer Berg ein Haufen sehr aktiver Leute. Die Familien von damals haben viel bewegt: Kitas gegründet und Schulen. Nach so was, nach Selbstbestimmtheit, moderner Erziehung, hatten wir alle eine große Sehnsucht.
Von dieser Zeit, dieser Dynamik profitieren die Familien hier bis heute. Es ist alles da an Strukturen, mehr, als man wirklich braucht und in Anspruch nehmen kann. In jeder Straße gibt es jetzt eine Hebammenpraxis, überall werden die Frauen umworben: hier ein bisschen Pekip, da ein Pilateskurs, vielleicht noch Massage, Babyschwimmen oder Erste Hilfe fürs Kind … Diese Konkurrenz erzeugt auch Druck bei den Frauen: Wie schaffe ich das bloß mit dem Baby, wie mache ich alles richtig? Wenn ich meine Hausbesuche mache, sehe ich einen unbedingten Anspruch, perfekt zu sein. Ich komme in perfekt eingerichtete Wohnungen, in denen perfekte Beziehungen geführt werden. Aber natürlich weiß ich, es ist immer problematisch, wenn ein Kindchen dazukommt. Anstrengend, schlafraubend, das volle Programm, ist doch ganz klar. Da haben die frisch gebackenen Eltern schnell mal das Gefühl, überfordert zu sein.
Oh Moment, mein Telefon klingelt, da muss ich ran. Ja? Aha, aha, ja, ich verstehe … Dann schau jetzt erst mal, was die Wehen machen. Lass dir eine Wanne ein und guck mal, was die Wärme macht, und dann rufst du mich vielleicht noch mal an. … Na klar, ist ja klar, wenn die Geburt jetzt losgeht. … Was? Nein. Nein, keine Termine mehr machen, ruf deinen Mann an, das geht jetzt los. Tschüss, du, bis später. Ja, ich komme dann, na klar. Tschüss!
Also das war jetzt typisch. Eine ganz nette Frau, da werden wir heute Nacht bestimmt noch das Kindchen kriegen. Und sie? Fragt, ob sie ihren Sohn jetzt noch zur Musikschule bringen kann. Als gebe es nichts Wichtigeres im Moment! Wo waren wir?
Ach, weißt du, letztlich ist Hebamme für mich immer noch der tollste Beruf der Welt. Ich gehe mit den Familien in dieser Zeit wie in eine Blase, es wird ein süßes Baby geboren, die Frau ist dann eine Mutter, der Mann ein Vater geworden, eine unglaubliche Zeit! Und am Ende darf ich da auch wieder rausgehen. Das ist auch schön. Diese Arbeit ist so vielfältig und überraschend. Früher gab es nicht weit entfernt von hier eine Wagenburg, da haben wir manchmal kostenlos beraten und geholfen. Dort habe ich mal eine Geburt erlebt, wo die Frau ganz frei, ganz easy im Bauwagen entbunden hat, neben sich den Hund im Bett. Frauen haben auch schon im Wald entbunden. Oder die lesbischen Paare, bei denen eine der Frauen per Samenspende schwanger geworden ist – da gibt es dann zwei glückliche Mütter und einen glücklichen Vater. Solche Erlebnisse machen mich froh, das wäre doch früher in der DDR nie möglich gewesen. Darüber freue ich mich als Ossi immer, immer wieder.
Inzwischen gilt der Prenzlauer Berg als super hip, der Bezirk ist angesagt bei Eltern, er ist schnell und international, die verschiedenen Lebensentwürfe treiben hier bunte Blüten. Aber natürlich, letztlich kochen alle nur mit Wasser, ich sehe das ja bei den Familien zu Hause. Wobei – schön wäre, wenn die Mütter hier wenigstens kochen könnten. Viele von denen haben das einfach verlernt: Eine einfache, gesunde Mahlzeit für sich und ihr Kind kochen, das können sie nicht. Am Herd zu stehen ist nicht hip, das zögern die Frauen lange hinaus. Ist ja auch ganz einfach, hier kriegst du an jeder Ecke preiswertes Essen. In China isst man dreimal am Tag etwas Gekochtes, wenn ich hier in Berlin durch die Straßen gehe, sehe ich die Mütter mit ihrem Salatgestocher – als wäre es verboten, nach einer Schwangerschaft ein paar Kilo mehr draufzuhaben. Da ist er wieder, der Hang zur Perfektion.
Sie muss jetzt los. Die Frau mit den Wehen, der Wanne und dem Musikschulkind wartet. Und spät in der Nacht wird die Hebamme wohl wieder einem der vielen, vielen Kindchen hier den Weg in den Prenzlauer Berg gebahnt haben.