Die Grundschullehrerin oder
Ich bin Vollossi

Ich bin mit der Lehrerin vor ihrem Haus verabredet. Allerbeste Prenzlauer-Berg-Lage, Mütter, Kinder, Touristen flanieren hier ins Wochenende, hinter dem Haus liegt der verwunschene Jüdische Friedhof. Als sie herauskommt, drückt sie fest meine Hand, wir sind gleich beim Du. Das hier ist ein stinknormaler Sozialbau, sagt sie. Wir gehen Kaffee trinken.

Ich bin Vollossi. Wenn mich einer fragt, was bist du denn für eine – dann antworte ich: Vollossi. Das sagt doch alles, oder? Geboren bin ich in Brandenburg, aufgewachsen an der Ostsee, und hier im Prenzlauer Berg lebe ich seit bald dreißig Jahren. Aber jetzt will ich weg, jetzt will ich mich verändern. Denn irgendwie geht’s für mich hier nicht mehr weiter.

Ich bin Grundschullehrerin, und zwar sehr gerne. Ich bin so eine für die ganz Kleinen, die liebe ich über alles, mit denen macht mir die Arbeit richtig Spaß. Einmal, das ist schon einige Jahre her, habe ich eine Klasse bis zur Sechsten begleitet, da bin ich am Schluss echt an meine Grenzen gestoßen. Die Kinder fangen dann schon an zu pubertieren, und ich hatte ihnen auch Stoff zu vermitteln, den musste ich mir selbst erst mal draufschaffen … Seitdem weiß ich das ganz genau: Ich bin eine für die Kleinsten.

Seit zwölf Jahren arbeite ich an derselben Schule. Die hat einen sehr guten Ruf, die Eltern setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um ihre Kinder bei uns unterzubringen. Wir liegen ja auch da, wo der Prenzlauer Berg am schönsten ist. Wo es die meisten Kinder gibt und mit ihnen die Eltern, die das Beste, nur das Beste für ihre Kinder wollen. Das kann ich ja auch gut verstehen, ich würde es nicht anders machen, würde auch wollen, dass mein Kind, mein Schatz, die beste Schule besucht.

In meiner Klasse habe ich zweiundzwanzig Schüler, wir haben zusammen vor vier Jahren angefangen, gerade schreibe ich zu Hause die letzten Zeugnisse für sie. Das macht mich jetzt schon traurig, die hergeben zu müssen – wir hatten so eine wunderbare Zeit miteinander, haben unglaublich viel zusammen erlebt. Ach! Sie werden mir fehlen. Gleichzeitig ist das aber auch eine gute Gelegenheit, endlich etwas Neues zu probieren, mich noch mal zu verändern. Ich bin jetzt achtundvierzig, da wird’s Zeit, finde ich.

Meine Söhne sind groß, einer ist schon ausgezogen, der andere ist sechzehn. Vor einem Jahr habe ich noch mal geheiratet – die Liebe meines Lebens. Kutte ist so ein toller Mann, endlich mal einer, der mich auch stützt, den ich nicht immer betuddeln muss, ich bin so froh, den getroffen zu haben. Erst jetzt merke ich, wie nach all den Jahren der Druck von mir abfällt, alles alleine hinkriegen zu müssen: die Söhne, die Arbeit, mein Glück. Und weil das so ist, haben Kutte und ich uns vorgenommen, unser neues gemeinsames Leben ein bisschen zu entschleunigen. Wegzugehen aus dem Prenzlauer Berg, vielleicht sogar weg aus Berlin, irgendwohin, wo es ruhiger ist, weniger Druck, mehr Grün.

Hier ist mir das zu viel Stress. Der Prenzlauer Berg ist heute alles andere als entspannt, die Ecke hat sich unheimlich verändert. Rausche-Alltag nenne ich das immer – also zu viel Hektik, zu viel Repräsentation, zu viel Missmut dabei. Das will ich nicht so haben, ich bin nämlich ein grundsätzlich positiver Mensch. Und gerade deshalb spüre ich sehr deutlich, wie die Situation hier an mir nagt, dass ich auch empfindlicher werde. Als Lehrerin habe ich ja einen Beruf, wo jeder mitmischt, jeder eine Meinung hat. Vor allem natürlich die Eltern. Ich spüre ihr Misstrauen, ich kriege mit, was für einen schlechten Ruf wir Lehrer haben. Das nervt mich.

Bis vor einigen Jahren waren die Kinder in meinen Klassen noch gemischt von der Ost-West-Herkunft. Das ist aber inzwischen komplett gekippt, mittlerweile sind die Wessis weit in der Überzahl. Von meinen zweiundzwanzig Elternpaaren in der Klasse sind – Moment, ich muss mal nachzählen – zwei Mütter aus dem Osten und ein Vater, nein Moment, zwei Väter sind es, mehr nicht. Natürlich spüre ich, dass viele mir als Ostlehrerin mit Vorurteilen begegnen. Manchmal glaube ich, die denken, da kommt gleich Margot Honecker um die Ecke. Und dann bin’s aber doch ich.

Ich kann mich noch gut an die erste Elternversammlung meiner jetzigen Klasse erinnern. Oh Gott, war ich da aufgeregt! Du kannst fünfzig Jahre Lehrer sein, vor Elternversammlungen machst du dir immer in die Hose. Also, die Mütter und Väter sind so reingewischt in den Klassenraum, viele waren schon älter, einige haben nicht mal gegrüßt. Ihre Blicke sagten: »Na, ob du das kannst? Das gucken wir uns erst mal an.« Ach du Schande, dachte ich, die haben überhaupt kein Vertrauen, prost Mahlzeit!

Eine Stunde später war’s geschafft. Am Ende der Versammlung kamen Eltern zu mir und haben gesagt: »Jetzt wissen wir, bei Ihnen sind wir richtig.« Wie ich das gemacht habe? Ich war einfach ich selbst. Zuerst mal bin ich zu jedem hin und habe ihm die Hand gegeben. Das hat die Eltern ein bisschen irritiert. Der Vollossi in mir, der will und muss die Hand geben und möchte damit auch zeigen, woher er kommt. Dann habe ich erzählt, wie ich arbeite. Dass es bei mir jede Menge Rituale gibt, feste Abläufe, damit die Kinder Strukturen kriegen: also den Morgenkreis zum Beispiel und den Wochenplan, bei mir wird außerdem viel gesungen. Dann habe ich gesagt, dass ich jedes Jahr mit den Kindern eine Klassenfahrt mache, und erklärt, warum ich welche Unterrichtsmaterialien benutze und welche nicht. Bei mir gibt es zum Beispiel keine Fibel, das irritiert die Eltern immer. Wie, was, keine Fibel? Ich sage dann: »Wozu brauchen die Kinder die? Wir basteln uns selber eine, das macht auch mehr Spaß.«

Ganz wichtig fanden die Eltern natürlich, dass ich nicht benote. Ich schreibe verbale Beurteilungen. Das kostet viel Kraft und Zeit, aber ich finde, man kann mit Zensuren nicht die Persönlichkeit eines Kindes ausdrücken. Wenn da eine Zwei im Zeugnis steht, weiß kein Mensch, ob und wie viel das Kind dafür arbeiten musste, das hilft ja keinem weiter, nicht dem Schüler und nicht den Eltern, die wissen möchten, wie sich ihr Kind in der Schule so macht. Deshalb schreibe und schreibe ich, erst gestern Abend wieder bis in die Puppen.

Natürlich gibt es auch Grenzen. Ich habe zum Beispiel nie meine private Telefonnummer rausgegeben – wer mit mir reden wollte, konnte über die Elternsprecher an mich herantreten. Das hat auch immer gut funktioniert. Aber dann sind wir auf Klassenfahrt gefahren, und ich habe in den Elternbrief meine Handynummer geschrieben, ganz klein und mit dem groß gedruckten Hinweis: NUR IM NOTFALL! Was soll ich sagen? Ich habe unterwegs SMS bekommen wegen Nichtigkeiten, Zähneputzen und so was. Das habe ich dermaßen bereut. Bis heute werde ich privat angerufen, wenn eine Mutter abends um zehn wissen möchte, wie Luises Nilpferd-Vortrag gelaufen ist.

So was nervt mich, das berührt mein Privatleben, und da, finde ich, ist bei mir auch irgendwann mal Feierabend. Außerdem: Was lernen die Kinder daraus, wenn ihre Eltern sich so verhalten? Meine Schüler können schon sehr früh erstaunlich viel, woran es ihnen aber mangelt, das sind Umgangsformen. Höflichkeit, Respekt, Grüßen, einfach Erziehung im ursprünglichen Sinn. Das ist ein Punkt, an dem ich immer wieder ansetzen muss bei den Kindern. Viele kennen überhaupt keine Grenzen, sie können Gesten ihres Gegenübers nicht deuten und denken, die Welt gehört nur ihnen. Eine gute Tat – was ist das? Ich übe das mit ihnen ein. Sie tun dann jemandem einfach mal einen Gefallen, sie sagen etwas Freundliches oder legen der Mama abends einen lieben Zettel auf den Teller. Einfache Dinge, mit denen sie anderen eine Freude machen und aus denen sie auch selber ein gutes Gefühl schöpfen können.

Toll ist an den neuen Zeiten im Prenzlauer Berg, dass die allermeisten Familien keine Geldprobleme kennen. Wenn ich einen Ausflug nach Brandenburg plane, kostet das mit der Fahrkarte 10, 15 Euro. Die Klassenfahrt nach Mecklenburg hat 120 Euro gekostet. Oder neulich habe ich die Eltern gefragt, ob ich von einem Lesebuch, das nicht im Rahmenplan vorgesehen ist, einen Klassensatz bestellen kann, Kostenpunkt 8 Euro pro Kind. Das war alles kein Problem, Geld ist da, und wer einen Zuschuss für die Klassenreise braucht, beantragt das beim Amt, und im Nu ist es auf dem Konto.

Immer schwieriger wird es aber, in den Kindern die Lust auf Abenteuer zu wecken. Womit kann man jemanden noch verzaubern, der schon alles hat? Jemanden, der alles kriegt und schon so irre viel in seinem kurzen Leben gesehen und erlebt hat? Die Kinder haben ja einen riesigen Freizeitstress, nach der Schule ist bei denen längst nicht Schluss, sie gehen zum Sport, Tanzen, Sprachunterricht, praktisch jedes Kind in meiner Klasse lernt ein Instrument. Und wenn ich dann komme und sage, wir gehen ins Museum – stöhnen sie natürlich: Och nee, muss das sein? Es sind satte Kinder, denen es an Anstrengungsbereitschaft fehlt, viele sind lustlos und meckern rum. Das stört mich offen gesagt.

Mit meiner Klasse, das war toll, wie gesagt. Aber ich will auch noch mal was Neues anfangen, mit Kindern, die neugierig sind und die ich noch mitreißen kann. Um mich herum sind viele Freunde krank geworden in den letzten Jahren, einige sind an Krebs gestorben. Ich höre die Uhr ticken. Und ich möchte, dass meine jetzt mal ein bisschen langsamer geht, ich will mehr Lebensqualität. Hip sein, in sein – Dinge, die hier in der Ecke sehr wichtig sind, das ist mir zunehmend egal geworden. Ich will jetzt die guten Jahre mit Kutte.

Die Lehrerin sagt, sie muss nach Hause. Auf ihrem Schreibtisch warten die Zeugnisse. Zwei Tage später telefonieren wir. Sie ist krankgeschrieben, vom vielen Schreiben hat sie eine Sehnenscheidenentzündung bekommen. Jetzt erledigt sie das portionsweise: vormittags zwei Stunden, nachmittags zwei. In drei Wochen beginnen die Ferien. Das schafft sie noch.