Transporträder im Familiengewühl oder

Ich hab nichts gemacht, Pablo!

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Als ich heute Morgen auf dem Balkon des Wegwarte-Hauses stehe, sehe ich sie vorbeifahren. Eine Mutter im Office-Outfit, gekleidet wie jemand, der bereit ist für diese Welt und die damit verbundenen Herausforderungen. Hellblaue Bluse, halblanger Rock, Fußbett-Pumps. Sie fährt Rad. Hinten hat sie eines ihrer Kinder in den gefährlich schwankenden Römer-Sitz gepackt, vorn zwischen ihren Knien klebt das größere Kind auf dem Lenkersitz. Eine mächtige, wertvolle Fuhre treckt sie da Richtung Kita, behäbig und nicht ganz spursicher auf dem löchrigen Bürgersteig.

Um alles noch einmal zu unterstreichen – die Eile, die Verantwortung, den Job, zu dem sie gleich muss –, hat sie sich praktischerweise das Fahrradschloss um den Hals gehängt. Ich sehe die Frau die Straße runterradeln. Müde sieht sie aus, gestresst, obwohl es gerade mal acht Uhr morgens ist. Sie hat schon ihre erste, die Kinderschicht hinter sich.

Ich kenne das. Besser: Ich habe das mal gekannt. Morgens pünktlich die Kinder wecken, ihnen den Schlafsand aus den Augen und die Zahnpasta aus den Mundwinkeln wischen, Cornflakes auftischen, Äpfel schnippeln, halbwegs gute Stimmung verbreiten und trotzdem fortwährend zur Eile mahnen. Und eigentlich schon jetzt, nach nur einer Stunde Tag, das erste Energiemanko spüren. Waren die Kinder schließlich in Schule und Kindergarten verklappt, musste ich erst mal kurz durchatmen. Der Tag einer erwachsenen Arbeitnehmerin, die auch noch etwas anderes als Kitafahrt und Impftermine im Kopf hatte, konnte beginnen.

So ist es heute offensichtlich immer noch. Nur wenig später, wenn auch die Männer in Anzug und mit Fahrradhelm mit ihren Kindern durch sind, beginnen die Macchiatomütter die Straße hinunterzutrudeln. Sie haben Zeit. Gemächlich ziehen sie mit ihrer Brut zum Eltern-Kind-Café, zum Spielplatz oder Babyyoga. Sie schieben ihre Räder, in deren Anhängern die lieben Kleinen sitzen. Die meisten Frauen reden unentwegt mit ihren Kindern, auch wenn sie zweieinhalb Meter hinter ihnen in ihrer Kalesche thronen.

Diese Anhänger, Planwagen gleich, sind sicher praktisch und ganz sicher richtig teuer. Eine Anschaffung für jenes Leben, das man mit Kindern zu führen bereit ist. Chariots heißen sie, »Kindertransporter« werden sie auf der Website des Anbieters genannt. Vielleicht bin ich zu alt – aber bei diesem Wort habe ich einfach andere, sehr ungute Assoziationen, die mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts verbunden sind. Doch sei’s drum, die Chariots sind eine Klasse für sich. Man kann mit ihnen so gut wie alles: joggen, radfahren, trekken, langlaufen … Schaut man sich die Websites an, ist dort irritierend wenig von Kindern, sondern viel von grenzenlosem Abenteuer die Rede.

Wie stets, wenn es um modernes Equipment-Marketing geht, tragen die Modelle verheißungsvolle Namen: Captain, Cabriolet, Corsaire heißen die Zweisitzer für die Stadt. Cheetah, Cougar oder schlicht CX werden die Outdoormodelle fürs Einzelkind genannt. Beim Captain, also dem, der alles hat und kann, geht es mit 750 Euro los. Dazu kommen noch die Fahrradkupplung, der Kinderwagengriff, eine Matratze, ein Fußsack oder das Regenverdeck – für zusätzliche 270 Euro ist man dann endlich ausgestattet und bekommt großzügigerweise die Reflektoren und den obligatorischen Wimpel geschenkt.

Dieser Wimpel, eine Art orangefarbenes Signalfähnchen, ist tatsächlich lebenswichtig. Denn nicht nur, dass der kostbare Nachwuchs in seiner Transportbox an ein Fahrrad gehängt und auf Auspuffhöhe von den Autos zugegiftet wird, er ist da unten für Autofahrer auch verdammt schlecht zu sehen und liegt in den Kurven wie ein Schwerlasttransporter. Er stellt also alles in allem eine echte Gefährdung dar, sowohl für seine Insassen als auch für andere Verkehrsteilnehmer, die ihres Lebens nicht mehr froh würden, sollten sie so ein fahrbares Zelt unter die Räder kriegen. Besonders raffiniert ist, dass der Chariot werkseitig ohne Licht ausgestattet ist. Das haben ja auch viele Radfahrer nicht. Möchte man da mainstream sein?

Eine Lichtanlage hingegen kann man bei den immer öfter zu sehenden Lastenfahrrädern gern dazubestellen. Die zu befördernde Last besteht hier aus Kindern, die in einem vorn montierten Kasten auf einem Bänkchen hocken und verdammt wenig von der Welt mitbekommen – gerade so kann man im Vorbeifahren ihre Mützchen oder Pagenschnitte erkennen. Diese Gefährte haben aber wenigstens Licht. 84 Euro kostet so eins, aber das fällt schon nicht mehr groß ins Gewicht bei einem Fahrzeug, das als Grundpreis 1575 Euro aufweist.

Mit Zusatzelementen wie Sitzen für die Kinder, Bremsen, die tatsächlich bremsen, Regendach und Licht kommt man ganz schnell auf 2500 Euro. Nach oben ist da noch alles offen, und das Kettenschloss für 135 Euro eine schlichte Selbstverständlichkeit. Ich hoffe, dass Leute, die sich so ein massiges dänisches Transportding zulegen, stattdessen wenigstens aufs Auto verzichten. Es geht die Rede, dass viele der zugezogenen Ausländer Probleme haben, ihre Führerscheine anerkannt zu kriegen und deshalb auf diese Räder ausweichen. Verstehen kann ich das gut. Aber es wird halt verdammt eng hier.

Denn wenn es Nachmittag wird im Prenzlauer Berg, bricht das Cruising aus, die Parade der längsten, breitesten und behinderndsten Kinderbeförderungsmittel. Die Eltern holen ihre Kleinen aus den Kitas ab, sie fahren nun nach Hause, zum Biosupermarkt oder auf den Spielplatz. Richtig voll wird es dann und im Fahrzeugbegegnungsfall auch schon mal ungemütlich. Denn wo sich zwei Kutscher auf dem Bürgersteig begegnen, wo sie stehen bleiben und ein Schwätzchen halten, wird der Weg unpassierbar. So vertieft sind die Mütter oder Väter in ihre Gespräche, dass ihnen schlicht entgeht, wie sich die Passanten vorbeiquetschen müssen, wie sie »Entschuldigung?« murmelnd den doppelten Schubverband zu passieren versuchen. Das alles sehen, hören und spüren sie nicht.

Erst dann, wenn eine autorisierte Person um Durchlass bittet, wird die Gasse freigemacht. Wer autorisiert ist? Natürlich eine Mutter oder ein Vater, die mit ihrem Kinderwagen, seinem Lastenrad oder dem Chariot beim besten Willen nicht mehr durchkommen. Glück haben jene Fußgänger, die in solchen Momenten zur Stelle sind und unbeschadet den Stau passieren können. Alle anderen müssen auf die Straße ausweichen oder geduldig warten, bis die Mutterschiffe die wichtigsten Informationen erschöpfend ausgetauscht haben. Erst dann kann’s für alle weitergehen.

Es sind solche Momente, diese Me-first-Situationen, die selbst im elternfixierten Prenzlauer Berg immer mal wieder zu Unmut führen. Schließlich können ja die anderen Bewohner nichts dafür, dass der Familienrat beschlossen hat, seinen Nachwuchs in sauteuren riesigen Gefährten durch den urbanen Raum zu karren. Und sie sind auch nicht daran schuld, wenn Eltern ihre Kinder nicht etwa in einer verkehrsarmen Ecke im Park Fahrradfahren oder skaten lernen lassen. Sondern schön sichtbar und maximal behindernd auf dem frisch verfugten Bürgersteig der Kollwitzstraße.

Unter großem Gejauchze und Getöse schettert gerade ein Ein-Meter-Fahranfänger auf mich entgegenkommende Fußgängerin zu. »Der wird doch nicht! Du wirst doch nicht?«, kann ich gerade noch denken – da wummert er auch schon direkt vor mir aufs Pflaster.

Alarm! Ein Kind ist hingefallen! Der kleine Pablo ist nicht verletzt. Aber mächtig erschrocken. Zwei Sekunden nach seiner harten Landung auf den schönen neuen Granitplatten fängt er an zu weinen. »Mensch, du kleiner Kerl!«, sage ich zu ihm und beuge mich runter, »bist du hingefallen?« Doch Pablo kommt nicht dazu, mir zu antworten. Denn nun ist auch seine Mama eingetroffen, die sich zwischen uns drängt, ihren Sohn auf den Arm nimmt, ihn fest an sich drückt und auf ihn einredet: »Ogottogottogott, Pablochen, hast du dir sehr wehgetan? Ist dir die Frau ins Fahrrad gelaufen, hm?«

Ich weiß, was sie fühlt: Ihr Schätzchen hat sich wehgetan. Aber das heißt ja noch nicht, dass ich daran schuld bin, und deshalb stottere ich wie ein ertapptes Kind: »Ich hab doch nichts gemacht.« Nach einer ziemlich kurzen Denkpause erwidert sie: »Na das hab ich gern: Das Kind behindern und dann nicht mal entschuldigen.« Ich tue, wie mir geheißen, entschuldige mich und trolle mich nun zügig. Ehrlich, ich habe nichts gemacht, der kleine Troll ist einfach in mich reingesaust. Hinter mir schmäht mich lautstark die Frau, solche wie ich würden hier die Sicherheit gefährden, und ob ich es für angemessen hielte, dass nun schon die Kinder gucken müssten, wo sie hinfahren … Du lieber Himmel, ist das gefährlich und anstrengend, hier einfach von A nach B die Straße runterzugehen! Und da, was kommt da auf mich zu? Ein kleines Mädchen auf seinem pinken Rad, den Helm schön tief ins Gesicht gezogen. »Die wird doch nicht! Du wirst doch nicht?«