Wer
bist du? oder
Die Westlerin in meinem Kiez
Gut sieht sie aus. Weiße Hose, cremefarbene Bluse, das kastanienfarbene Haar leuchtet in der hereinbrechenden Vormittagssonne. »Wer bist du?« heißt ihre Galerie, ein langer schmaler Raum, in dem ihre Bilder hängen. Sie erzählt, wo sie fotografieren gelernt hat und dass ihr Studio nicht hier, sondern bei ihr zu Hause ist. Dort lassen sich die Bewohner des Prenzlauer Bergs von ihr porträtieren – diese Frau muss wissen, wie sich die Menschen hier fühlen. Sie schaut ihnen Tag für Tag ins Gesicht.
Ich würde nirgendwo anders leben als hier, das sage ich Ihnen ganz klar. Im Prenzlauer Berg gibt es vielleicht zehn Straßen, in denen ich wohnen möchte, zehn Straßen in einem ziemlich engen Radius – wenn ich hier nicht schon meine Wohnung hätte, müsste ich mir eine suchen. Als ich vor zwölf Jahren herkam und mir unser Dachgeschoss im Rohbau angeschaut habe, musste ich weinen vor Glück. Ich wusste: Jetzt bin ich angekommen. Und dieses gute Gefühl ist geblieben all die Jahre.
Es gibt so unsagbar blöde Klischees über den Prenzlauer Berg, die ärgern mich. Klar, man kann die bedienen, ich bediene sie ja scheinbar selbst. Ich bin aus dem Westen, ich habe eine Dachgeschosswohnung und bin Fotografin mit einer kleinen Galerie mitten im Touristenviertel. Da treffen alle Vorurteile über die neuen Reichen zu, nicht wahr? Aber so einfach ist es eben nicht. Die Bezeichnung »neue Reiche« erscheint mir im Zusammenhang mit meiner Familie einfach nur komisch. Ein Lehrer und eine Spätstudierende mit drei Kindern, die sich allen Warnungen zum Trotz mit dem Kauf einer Berliner Dachgeschosswohnung dem finanziellen Dauerstress verschrieben haben. Bis heute jammern meine Kinder, dass nie Geld da ist, dass andere von ihren Eltern unterstützt werden. Aber das sieht natürlich keiner, nach außen wirken wir wohlhabend.
Nach so vielen Jahren möchte ich mich nicht mehr dafür verteidigen müssen, dort zu wohnen, wo ich es möchte. Denn ich liebe den Prenzlauer Berg. Ich liebe den Osten. Ich wollte hier unbedingt hin und gehe auch nicht mehr weg. Wir sind damals aus der Pfalz hergekommen. Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern Ende der Neunziger. Mein Mann ist Lehrer, der wollte erst gar nicht, er hätte genauso gut dort bleiben können. Und meine Töchter waren damals in der Pubertät, die haben gekämpft darum, nicht hierher zu müssen, heute sind sie gottfroh. Aber ich hatte das Gefühl: Ich muss. Berlin ist die einzige Stadt für mich. Ich wäre auch allein gegangen, das weiß ich heute.
Ich habe schon einmal als junge Frau hier gelebt, in Westberlin, ich war Krankenpflegerin. Durch den Mauerfall ist mir das alles wieder bewusst geworden: also meine Geschichte als Deutsche, der Zweite Weltkrieg war plötzlich wieder ein Thema, die Erzählungen meiner Großmutter von jenem verlorenen Land im Osten. Als ich zwölf war, ist meine Mutter einmal mit mir nach Ostberlin gefahren. Ich erinnere mich an die unglaublich breite windige Straße am Alexanderplatz, den Hackepeter, den ich essen musste, damit das Geld ausgegeben wird. Und an die geheimnisvollen dunklen Straßen, in die wir nicht gehen durften.
Als ich mit siebzehn Jahren nach Berlin gezogen bin, hatte ich Discos und freie Liebe im Kopf. Der Osten war nur präsent als der lästige Streifen Land, der durchquert werden musste. Später hat es meinen Mann und mich dann in den Hunsrück verschlagen, die DDR war verdammt weit weg. Erst als ich im November 1989 im Fernsehen die Bilder vom Mauerfall sah, überschwemmte mich die Erinnerung an die Erzählungen meiner Großmutter. Ein sehr, sehr starkes Gefühl war das.
Ich wollte dann unbedingt hierher, in den Osten natürlich, denn den kannte ich noch nicht. Ich wollte was fühlen. Und ich habe sofort was gefühlt. Als ich Ende der Neunzigerjahre das erste Mal durch dieses Viertel gegangen bin, habe ich all die wunderschönen Häuser gesehen, die Leute waren gut drauf, und am Kollwitzplatz hatte grad Bill Clinton gegessen. Ich war genau dort gelandet, wo der Prenzlauer Berg am schönsten ist, und genau dort war auch die Wohnung, die wir im Auge hatten. Fügung ist so etwas wohl. Ein Adlerhorst zwischen Ost und West, mit ganz weitem Blick.
Den bröckelnden Putz, das irgendwie Dunkle, unfertig Provisorische des Ostens, das mich schon als Kind so fasziniert hatte, gab es im Prenzlauer Berg da schon nur noch an manchen Ecken. Ich stürzte mich auf die Eltern der Freunde meiner Kinder. Echte Ostler, die ich mit hartnäckigen Fragen in Verlegenheit brachte. Ich war empört über die Landnahme der anderen Westler, litt mit den neuen Freunden am Ausverkauf des Prenzlauer Bergs. Dass auch ich Teil dieser Entwicklung war, schmerzte, und am liebsten wäre ich dauernd mit einem Schild um den Hals rumgerannt: »Ich bin nicht so.«
Sie sind ja zum Beispiel eine Frau, die genau zu jener Zeit von hier weggegangen ist, als ich mit meiner Familie hergekommen bin. Sie hatten damals die Nase voll von Leuten wie mir. Aber wie soll ich nun bitte damit umgehen? Das ist ein Problem, über das wir miteinander reden, aber das wir nicht mehr lösen können. Leute wie wir, Zugezogene wie mein Mann und ich, sind jetzt hier in der Mehrheit. Das ist so, das hat sich so entwickelt, und das wird sich erst einmal auch nicht mehr ändern. Es hat sich hier unheimlich viel getan. Das kann man unmöglich ignorieren. Ich sehe kaum noch alte Leute auf der Straße, manche sind gestorben, aber manche mussten einfach gehen, es ist ja alles teurer geworden hier. Diesen Leuten gegenüber habe ich mich mitunter geschämt, ich wollte nicht, dass die weggehen und nur noch Leute wie ich es sich leisten können zu bleiben.
Ich finde es gut, dass es hier jetzt aufgeräumter ist, sauberer. Wenn ich morgens die Galerie aufschließe, schmeiße ich ein paar Bierflaschen und Zigarettenkippen weg, das war’s aber auch schon an Spuren der Nacht. Bis vor ein paar Jahren war das noch ganz anders, da war der Prenzlauer Berg das Ausgehviertel von Ostberlin. Aber heute haben die Partymeister selbst Kinder, sie gehen früh ins Bett und wollen nachts ihre Ruhe haben. Was mich stört, sind die Touristenbusse, die manchmal hier am Laden vorbeischleichen. Wir sind doch hier kein Tierpark! Früher, in den Achtzigerjahren, habe ich in Charlottenburg gewohnt, da war’s irgendwann auch so: ordentlich, es gab gute Restaurants, und die Touristen sind durch die Straßen gezogen.
Manchmal habe ich hier dieses Déjà-vu: der Kollwitzplatz als der Savignyplatz des Ostens, ordentlich, bürgerlich, bunt. Obwohl mir das gefällt, kann ich nicht den spöttischen Ton überhören, mit dem Alteingesessene dieses Wort aussprechen: BUNT. Wo ist es hin, ihr Land? Es gibt eine Stelle am Anfang der Knaackstraße, wenn man von der Prenzlauer Allee kommt, dort liegen am Boden große, abgelaufene Steinplatten. Jeden Tag gehe ich drüber und verkneife mir, meine Wange da draufzulegen, um zu spüren, wer und was sie so platt getreten hat. Ich fühle Geschichte hier, die wird die neue Buntheit nie übertünchen können.
Als Fotografin habe ich sehr viel mit den Leuten zu tun, die hier leben und sich von mir porträtieren lassen, ich sehe also unmittelbar, wie die drauf sind. Da kommen Künstler oder Menschen aus dem Coaching-Bereich, die für ihre Website ein gutes Bild brauchen. Aber auch Ältere und Alteingesessene, ja, die kommen auch. Meine Idee ist es, mit den Leuten so lange zusammen zu sein, bis ich ein Bild aufnehme, das sie wirklich zeigt. Mein künstlerisches Konzept heißt »Wer bist du?«. Damit verbinde ich, dass sich die Kunden fragen können: Wie sehe ich mich? Wie sehen mich andere? Wie will ich gesehen werden oder wer wollte ich schon immer mal sein? Das erfordert Mut, macht aber auch unglaublich viel Spaß.
Ich mache das jetzt seit drei Jahren, und ich kann sagen: Jeder Mensch ist schön – wenn er loslässt. Und das ist das Besondere an meinen Bildern. Wenn die Menschen zu mir kommen und ich zu Beginn auf den Auslöser drücke, damit sie sich an die Studiosituation gewöhnen, dann schaue ich in verschlossene Gesichter. Ich sehe Angst, eingeübte Stärke, anerzogene Lockerheit. Ihre Münder sind verkrampft, sie machen die Augen nicht richtig auf, das ist ja auch alles schwierig und ungewohnt für sie. Am Ende zeige ich ihnen ihre Bilder: die zwanzig guten, auf denen sie toll aussehen, aber auch die anderen, vor denen sie Angst haben. Oft weinen sie dann, weil sie sich schön finden und sie so glücklich sind.
Die Leute hier aus der Ecke sehen gut aus: gesund, gepflegt und gebildet. Das heißt natürlich nicht zwingend, dass sie zufriedener sind. Es ist auch eine Herausforderung, im Prenzlauer Berg zu wohnen. Man muss sich das leisten können. Der Kollwitzmarkt zum Beispiel ist scheißteuer, ehrlich, ich kaufe da nichts mehr ein. Vor zehn Jahren habe ich dort noch junge Leute gesehen, die für ihre Wohngemeinschaft die Sachen besorgt haben. Von denen gibt’s aber kaum noch welche. Schade eigentlich … Wenn ich mir hier so zuhöre, krieg ich echt Angst. Wo geht es hier mit uns hin? Jede Zeit hat ihre Regeln. Hier und heute braucht es Erfolg, Stärke, Forschheit, und das überfordert uns oft. Ich merke das ja, wenn ich bestimmte Leute für mein privates Projekt porträtieren möchte. Da geht es um das Thema Stille, ich möchte gern zeigen, was Stille mit Menschen macht. Diese Leute möchten auch mitmachen, sie wollen diese Fotos – aber sie haben nie Zeit dafür. Das sagt doch alles, oder?
Stille und Zeit sind mittlerweile sehr wertvoll geworden, finde ich. Es ist unglaublich schwer, diesem Sog aus Erfolg und Stärke nicht nachzugeben, sich auf das zu besinnen, was wichtig ist und ganz Vieles einfach nicht mitzumachen. Mir tut diese Hast nicht gut, das habe ich gelernt, und deshalb leiste ich mir, so zu leben, wie ich das tue. Ich habe seit Jahren keinen Urlaub gemacht. Ich will jeden Tag so leben, dass ich keinen Urlaub brauche. Und das mache ich. Was kann ich schon tun gegen dieses Laute, Grelle des Zeitgeistes, außer meine Bilder der Stille dagegenzuhalten und die Preise nicht am Kunstmarkt, sondern am Geldbeutel des Normalbürgers zu orientieren.
Inzwischen ist es auch mir hier manchmal zu viel. Deshalb vermieten wir von Zeit zu Zeit unsere Wohnung an Touristen und flüchten in eine Hütte in Brandenburg. Das genieße ich, aber gehen werde ich nicht. Ich weiß, ich werde mich noch mit achtzig meine Treppe hochquälen. Hier bin ich richtig. Ich muss hier leben.
Ich verabschiede mich und verspreche, ihr den Text noch einmal zuzumailen. In den nächsten Tagen werden wir eine anrührende Korrespondenz haben: Es geht um Lebensentwürfe, Selbst- und Fremdbilder und natürlich um die Frage nach Heimat. Meine ist nun ihre.