Bruno mag nicht oder

Jetzt mal nicht so wild hier!

Kinderwagen_sw

Du, Bruno, jetzt mal nicht so wild!«, ruft die Frau. Es ist Sonntagmittag halb eins beim Vietnamesen, sie hat sich für das Treffen mit der befreundeten Mutter eine bequeme Strickjacke angezogen und die XL-Sonnenbrille aufgesetzt – trotzdem erkennt man auch auf fünf Tische Entfernung noch das quälende Nachtschlafminus der Mittvierzigerin. Weiß Gott, es ist hart, selbst am Wochenende um halb sechs Uhr morgens geweckt zu werden von einem Dreijährigen, der auf der Stelle etwas erleben will, den man aber aus pädagogischen Prinzipien nicht vor dem RTL2-Frühprogramm parken möchte.

Fünf Stunden sind seit dem ersten Morgenschrei vergangen, das Kind hat zu Hause die halbe Wohnung zerlegt, der Vater braucht Platz, um endlich mal das sauteure Shabby-Chick-Regal zusammenzuschrauben – gut, dass die Mutter ihre Freundin hat, mit der sie sich zum Lunch beim Vietnamesen verabreden kann.

Ich bin schon da. Ich war überhaupt schon vorher da, weil das kleine Restaurant nicht an einem der Hotspots des Prenzlauer Bergs liegt. Sondern jene manchmal entscheidenden sechzig Meter weiter, wo es sonnig ist und ruhig und es einen sensationellen Blick auf den Fernsehturm gibt.

Alles ist schön, ruhig, sonnig und lecker, bis Brunos gestresste Mutter und ihre Freundin hier eintreffen. Beide Frauen verfügen über jeweils zwei Kinder sowie insgesamt zwei wuchtige Kinderwagen und ein Laufrad. Dass Bruno Bruno heißt, war nicht zu überhören, weil dieser kleine Ausbund an Lebensfreude gleich zur Einstimmung eine Blumenvase vom Tisch gefegt hat. Also Bruno, denke auch ich: Nicht so wild, bitte!

Aber das ist natürlich zwecklos. Bruno hat einen halben Tag wochenendbedingten Wohnungsknast hinter sich. Wäre heute ein Wochentag, hätte sich der kleine Kerl im Kindergarten längst ausagiert. Zehnmal wäre er als Ritter ums Gartenrund gedüst, zwanzigmal im Tiefflug in die Kissenburg gesprungen, dreißigmal hätte er beim Mittagessen den schönsten Kartoffelbreikrater zur Explosion gebracht. Das muss jetzt alles nachgeholt werden. Zuerst einmal begibt sich Bruno auf die Knie und robbt zwischen den eng gestellten Gasthaustischen umher. Wo immer er besonders interessante Schuhe sieht, hebt er den Kopf auf Tischkantenhöhe und schreit zu seiner Mutter hinüber: »Mama, gaaaanz komische Füße hat die Frau!« Auch meine schwarzen Halbschuhe scheinen Bruno komisch vorzukommen. Er zieht sich an meinen Knien hoch, legt den Kopf in den Nacken und sagt: »Du bist ja lustig!«

Ja, Bruno, denke ich, ich bin lustig. Eigentlich jedenfalls. Aber hier und heute würde ich doch recht gern in Ruhe meine Wantan-Suppe löffeln und die grandiose Aussicht genießen. Ich zeige mit dem Finger Richtung Mutterschiff und sage: »Ich glaube, du kannst dir jetzt was Lustiges zu essen bestellen, guck mal, deine Mama wartet auf dich.« Und ja, sie wartet auf ihn, und auch der Kellner steht schon mit dem Schreibblock bereit. »Bruno«, ruft seine Mutter über die fünf Tische herüber, »magst du eine Mangolassi?« Gegenfrage: »Was ist das?« Antwort: »Das ist Obst mit Joghurt zum Trinken! Magst du das, Bruno, ja, magst du das?«

Nichts für ungut, aber solange ich denken kann, möchte ich bei dieser Formulierung brechen. Magst du dies, magst du das? Das ist nicht nur unzureichendes Deutsch – einem dreijährigen Kind wäre meiner Meinung nach eher geholfen, wenn es einen handfesten Fragesatz serviert bekäme. In diesem Fall lautete er: Bruno, möchtest du etwas trinken? Wenn ja, komm her und wir besprechen alles Weitere.

Zum anderen offenbart sich in dieser Frage, was den Unterschied an Lebenserfahrung und Kompetenz zwischen Kindern und Erwachsenen ausmacht. Denn mögen soll doch der Nachwuchs alles, was er tut und kriegt. Und wenn er mal was nicht mag, mündet das in dieses knautschig gegreinte, geweinte, geschriene »Dasmagichniiiicht!« Ein Satz wie eine Säge. Beispiel gefällig? Gerade war ich Zeugin eines Magst-du-Dialogs in einem sehr angesagten Schuhgeschäft hier im Viertel. Es frühlingte heftig, die handgefertigten Biolederkreationen waren ansprechend preisgesenkt. Schnäppchenzeit für jene, die sich keine 280-Euro-Stiefel leisten wollen, da mögen die Leder spendenden Ziegen und Rinder noch so glücklich gelebt haben und gestorben sein.

Während ich dort also auf einem unbequemen Hocker saß, ein Paar praktische Winterstiefel anprobierte und darüber nachdachte, ob antizyklisches Kaufen tatsächlich den modischen Trend des kommenden Winters klug voraussehen kann, enterten Mutter und Tochter den Laden. Die Frau hatte im Gegensatz zu mir offenbar beneidenswert kleine Füße, weshalb sie gleich ein sehr schönes, sehr preiswertes Paar rote Boots fand. Innerlich beglückwünschte ich die Frau zu ihrem guten Geschmack, das waren ja vielleicht mal tolle Schuhe! Sie klemmte sich auf den Hocker neben mir, streifte sie über, schloss die silbernen Schnallen und sah damit einfach glänzend aus.

Aber nun ging’s los: »Alma«, sprach sie ihre Tochter an, »Alma, magst du die? Soll die Mama sich die kaufen?« Alma war schätzungsweise zwei. Ein Kleinmensch mit altersentsprechendem Geschmack und einem langen Kitatag hinter sich. Ich bin sicher, Alma wird später, wenn sie groß ist, eine Menge von Schuhen verstehen, aber heute war es einfach noch nicht so weit. Trotzdem, Alma hatte eine Meinung. Und zwar? Na? »Magichniiiich!«, jaulte sie durch den Laden. Klar, hätte ich auch gesagt, wenn ich nach Hause zu meinen Bauklötzchen wollen würde. »Aber die sind doch hübsch«, intervenierte Almas Mama, »also ich mag die.« Worauf Alma ihr Urteil lautstark wiederholte. Und was tat Almas Mama? Sie zog die Schuhe aus, ging vor ihrer Tochter in die Hocke und sagte: »Na dann stellt sie die Mama wieder zurück.«

Ich überlegte kurz, entweder dieser sympathischen Frau in den Arm zu fallen oder sie in den Arm zu nehmen und sie zu drängen, sich jetzt diese verdammten Schuhe zu kaufen – schon um Alma zu zeigen, wie der Hase ab heute läuft. Aber ich spürte auch eine gewisse Grunderschöpfung, ein Hadern und Zagen bei ihr. Was ist angemessen in einer Beziehung zu einem Kleinkind? Wie viel Frustration verträgt Alma, wie viel Magichnicht ihre Mama? Heute war offenbar noch nicht der Tag, an dem das zwischen den beiden ausgekegelt würde.

Zurück zu Bruno. Der überlegt, an meine Knie gekrallt, immer noch, ob er Mangolassi nun mag oder nicht mag. So sehr beschäftigt ihn die Frage seiner Mutter, so lange muss er grübeln, dass er in einer körperlichen Übersprungshandlung entschlossen an meinem Tisch rüttelt. Es geschieht, was geschehen muss: Meine Wantan-Suppe folgt den Gesetzen der Physik und ergießt sich über seine kleinen Hände und anschließend über meine Knie. Großes Geschrei und Gerenne.

Der Kellner kommt mit Lappen und konfuzianischem Lächeln herbei, und auch Brunos Mama ist nun doch mal da. »Was soll denn das?«, blafft sie mich an, »das haben Sie doch absichtlich gemacht!« Ich schaue sie zweifelnd an und überlege kurz, ob ich ihr mal ausführlich meine Ansichten zum Themenkomplex Kleinkinder, Mangolassi und Magst-du-Fragen darlege. Bruno schreit und schreit – so heiß war die Suppe nun auch nicht mehr, denke ich. Aber die beiden haben es eh schon schwer genug. Brunos Mama, weil ihre geruhsame Sonntagsverabredung gerade den Bach runtergeht. Und Bruno, weil er immer noch vor der Frage steht, was er nun mögen soll. Dass ich mit meinen lustigen schwarzen Halbschuhen und der lebensbedrohlichen Suppe eindeutig nicht in diese Kategorie falle, das hat ihm seine Mutter ja gerade vermittelt.