Stille Tage im Kiez oder

Wo ist zu Hause, Mama?

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Seltsame Dinge ereignen sich im Prenzlauer Berg. Plötzlich gibt es freie Parkplätze, in den Cafés bleiben Stühle im Sonnenschein unbesetzt, und auf den Spielplätzen ist es ungewohnt still. Sogar die sonst so begehrten Schaukeln baumeln leer im Frühlingswind. Aufgrund fehlender Buggygeschwader sieht man plötzlich Menschen im Straßenbild, auf die sonst die Sicht verstellt ist: ganz normale Leute, die mit Einkaufstaschen statt Kindern an der Hand von der Arbeit kommen. Was ist passiert? Ah ja, es ostert. Die Zugereisten haben ihre Volvos und Saabs mit Kindern und Taschen bepackt und sind »nach Hause« gefahren.

Es ist ein im Kern unemanzipierter Vorgang, die Feiertage bei den Eltern zu verbringen. Wozu ist man einst aus der Heimat fortgezogen? Doch wohl um jede Menge Dinge zu erleben, von denen die eigenen Eltern niemals erfahren dürfen. Etwas Besseres als den Tod findet man allemal weit weg von daheim. Gute und falsche Freunde, unbekannte Speisen, weiche Drogen, Sex und möglicherweise tatsächlich jemanden, mit dem man Kinder macht. Wenn die dann in der Welt sind, werden auch die hartgesottensten Selbstverleugner zu Renegaten ihrer selbst. Was zuvor des Teufels war – Mutti, Vati und die zurückgelassene Heimatstadt –, erfährt aufgrund von selbsterlebten Fortpflanzungsprozessen eine gefühlte Wiederauferstehung. Und wenn der beste Singlefreund kurz vor Weihnachten anruft und fragt: »Was macht ihr am Vierundzwanzigsten?«, dann flutscht einem schon mal dieser ungute Satz raus: »Weihnachten sind wir zu Hause.« Also bei Mutti.

Als meine Kinder kleiner waren, war es auch für uns eine Gesetzmäßigkeit, das Osterfest bei den Großeltern zu verbringen. Auch wir haben damals unseren Corsa vollgepackt mit Schokoeiern, Reisebett und Kinderkarre und sind aufgebrochen zu Ömchen und Öpchen. Vor Reiseantritt malten wir uns all die guten Speisen aus, die uns in der Heimat meines Mannes kredenzt werden würden, der damals noch mein Freund war. Er freute sich auf die langen Spaziergänge durchs ehemalige Revier und das irre Gefühl, mal wieder im alten Jugendbett zu schlafen. Aber wenn wir dort angekommen waren, verspürten wir recht bald sehr schnell und sehr intensiv den Wunsch, auf der Stelle wieder aufzubrechen. Nach Berlin.

Denn machen wir uns nichts vor: Feiertagsferien wie Ostern oder Weihnachten in Familie sind für alle Beteiligten eine echte Kraftprobe. Man begibt sich auf fremd gewordenes Terrain, wo längst andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als die einer vierköpfigen Familie im Dauerstress. Allein die unzähligen gemeinsamen Mahlzeiten sind eine Herausforderung, die es anzunehmen gilt. War es in Berlin üblich, den Kindern morgens wortkarg eine Schüssel Cornflakes mit Milch hinzustellen, wurde bei den Großeltern jeder neue Tag mit einer Art Brunch eingeläutet. Flankierend wurden auch Lächeln und Konversation erwartet, also Dinge, die im normalen Alltag bei uns nicht vor elf Uhr stattfanden.

Kaum waren schließlich die gute Bauernwurst, der Lachs und Omas Marmelade abgetragen, ging es auch schon an die Vorbereitungen fürs Mittagessen. Stand das dann auf dem Tisch, zeigte sich, wie gut – meist aber eher wie schlecht – die Tischsitten der Enkelkinder ausgeprägt waren. Die forderten Milchnudeln statt Tafelspitz. Ständig sprangen sie auf und krabbelten unter großem Hallo auf dem Boden herum, und wenn man nicht aufpasste, ergoss sich blitzschnell ein Orangensaftsee über Omas gute Tischdecke. Der Vater und ich zickten uns bei solchen Gelegenheiten ein bisschen an. Und die Großeltern warfen einander Blicke zu, denen unschwer zu entnehmen war, dass sie zwar das Verhalten der Kinder missbilligten – weitaus mehr jedoch unsere verdammt inkonsequente Kuschelpädagogik nach dem Motto »Sei jetzt mal lieb und bleib sitzen«. Dass es zu Hause in Berlin in solchen Situationen durchaus mal laut, mitunter auch sehr laut werden konnte, wussten die kritischen Altvorderen ja nicht.

Meine Eltern, die einst im Zuge einer gigantischen innerfamiliären Fortpflanzungswelle binnen zwei Jahren Großeltern von vier Enkelkindern geworden waren, hatten ihre eigene Methode, uns zu kommunizieren, was sie vom Verhalten der Kinder bei Tisch hielten. Tauchten wir im Viererpack bei ihnen zum Festtagsmahl auf, hielten sie zwar entspannt literweise Milchnudeln bereit. Aber sie hatten – wegen der Kinder – die Essecke mit Hilfe jeder Menge alter Küchenhandtücher in eine Art Katastrophenzone verwandelt. Die Tür zum Wohnzimmer, in der die neue Rolf-Benz-Couch stand, hatten sie gleich ganz zugeschlossen. Ihnen war egal, ob uns das irgendwie ungastlich erschien – sie gaben unumwunden zu, keine Lust auf Saftflecken und Babykotze auf ihren Möbeln zu haben. Ich fand das kinderdiskriminierend und hielt ihr Verhalten für eine anmaßende Art, meine pädagogischen Fähigkeiten in Zweifel zu ziehen.

Heute denke ich ungefähr so wie sie. Aber auch so zu handeln wie sie, bin ich noch nicht bereit. Wenn sich bei uns im grünen Vorort befreundete Familien aus der Stadt ankündigen, verschließe ich zwar schon mal die eine oder andere Tür und räume die Bollhagen-Vase oben ins Regal. Aber wenn dann die lieben Kleinen eingetroffen sind und es sich mit ihren handgesteppten dreckigen Sandalen auf meiner Leinencouch bequem machen, würde ich mir eher die Zunge abbeißen, als sie zu bitten, doch erst ihre Latschen auszuziehen und dann auf dem Sofa Ritterkämpfe auszutragen. Diese Toleranz verdankt sich wohl der schonungslosen Art, die meine Eltern einst meinen Kindern gegenüber an den Tag gelegt haben – so weit will ich es nie kommen lassen.

Die Einzige, die beinhart erwachsen ist und bleibt, ist Sibylle. Sie hat sich schon vor vielen Jahren mit ihrer Familie zerstritten und ist sich und ihrer Tochter deshalb selbst Familie. Zu Weihnachten und Ostern finden in ihrer Prenzlauer-Berg-Wohnung tagelange Festlichkeiten statt, zu denen alle kommen, die die Wo-ist-zu-Hause-Frage nicht so eindeutig beantworten können wie die mehrheitlich hier lebenden Vater-Mutter-Kind-Einheiten. Also Geschiedene, Verwaiste, Langzeitsolisten, Schwule, Lesben und – wenn ich keinen Quatsch rede – auch ich. Unvergessen ein Essen am ersten Weihnachtsfeiertag, bei dem an Sibylles Küchentisch zwölf Leute saßen, die sich vorher kaum kannten und die das Fest unter großem Getöse und Gegröhle begingen, wie sie es bei Mami und Papi so nie hinbekommen hätten. Wunderbar war das und sollte jedem Familienphobiker als psychosoziale Schnelltherapie verordnet werden.

Während nun also während der Ostertage der Prenzlauer Berg so kinderarm wie nie ist, nutze ich die Gelegenheit und gehe in eines der schönstgelegenen Cafés. Unter normalen Umständen, also im gentrifizierten Alltagsbetrieb, wäre an diesem sonnigen Tag kein Platz zu finden. Das Café, sehr ansprechend in einer verkehrsberuhigten Straße gelegen, ist normalerweise in einer Art Dauerausnahmezustand – so viele Eltern und ihre Kinder samt ihren Kinderwagen, großen und kleinen Fahrrädern blockieren hier sonst den Gehweg. Heute aber hat der Wirt eine Tafel auf die Straße gestellt: »Demeter-Milch günstig abzugeben. Nur 60 Cent pro Liter!« Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass man wegen des schönen Wetters und des damit zu erwartenden Besucherandrangs Küche und Keller mit allen nur denkbaren guten Dingen gefüllt hatte: Kuchen, Kekse, gefärbte Eier, extra viel Joghurtmüsli. Aber dann ist keiner gekommen, und nun wird die Milch sauer, weil die lieben Zugezogenen über Ostern lieber fünfhundert Kilometer in die Heimat gefahren sind, statt die Eier in den räudigen innerstädtischen Grünanlagen zu verstecken.

»Ach«, sage ich zum Wirt und bezahle meinen Kaffee, »ist doch auch mal ganz schön, wenn die Kinder sich rar machen.« Und es stellt sich heraus, dass auch dieser Geschäftsmann die eingetretene Ruhe zu schätzen weiß. Am besten gefallen ihm die freien Parkplätze und die fehlende Sturzgefahr wegen umherkrabbelnder Babys. Scheiß auf die saure Milch!

Nach dem Osterwochenende wird es dann doch wieder voll im Bezirk. Im Wegwarte-Zimmer mit der dünnen Wand erschallt pünktlich um halb sieben das Kindergetöse des unbekannten Nachbarkindes, der Berufsverkehr zerreißt meinen letzten dünnen Traumfaden, und schon krawumst das Müllauto die Straße herauf. Es nimmt alles mit: den Schmutz und die ganze schöne Ruhe, die hier vier Tage lang geherrscht hat, als alle zu Hause waren.