Interessiert schaut Fine sich die Fotos an, die ich vor ihr auf dem Caféhaustisch ausgebreitet habe. »Hier sieht sie toll aus«, sagt Fine und zeigt auf ein fünf Jahre altes Passbild. »Findest du?«, antworte ich, »guck mal, das hier – da hat sie so schöne lange Haare, das fand ich damals sehr schick. Heute trägt sie sie ganz kurz.« Fine weist auf die Nase: »Die ist ja gar nicht Müller’sch. Aber die Augen schon!«, sagt sie und lacht.
Nicht dass Sie denken, ich säße gerade mit dieser bezaubernden Fünfzehnjährigen beisammen, um mit ihr die aktuelle Bravo durchzublättern und die ästhetischen Alleinstellungsmerkmale junger C- oder D-Prominenter zu diskutieren. Nein, so weit sind wir noch lange nicht, wir treffen uns ja heute zum ersten Mal und versuchen wechselseitig, einen guten bis sehr guten Eindruck zu hinterlassen. Sie bei mir und ich bei ihr. Denn auf eine seltsam vertrackte Art und Weise sind wir so etwas wie verwandt miteinander, die Fünfzehnjährige und ich.
Oder besser: Fine und meine große Tochter. Denn beide haben denselben biologischen Vater, und nun möchte Fine mich kennenlernen, um ihrem Vaterbild ein weiteres Puzzleteil hinzuzufügen. Andere Möglichkeiten hat sie leider nicht, der Mann ist seit vierzehn Jahren absent. Schlechte Karten für eine Pubertierende in der Selbstfindungsphase. Deshalb trifft sie sich nun mit mir.
Ein gut gepflegter Mythos des untergegangenen Ostens ist ja, dass die Bürger in der DDR ausgiebig das getan haben, was Fürstin Gloria zu Thurn und Taxis einmal »schnackseln« genannt hat. So unfrei das Leben, so frei und ungezügelt der Sex – so in etwa geht die Rede über die zwischenmenschlichen Beziehungen in jenem versunkenen Land. Mancher Westler denkt dann neidisch, mancher aber auch mitleidig: Die armen Ostler hatten ja sonst nix. Tatsächlich mangelte es uns an Schlagbohrmaschinen und Badezimmerfliesen, an Pelikano-Füllern und guten Tampons. Woran es uns aber nicht mangelte, war der Dialog der Geschlechter inklusive aller biografischen Folgen, die das Aufeinandertreffen von Mann und Frau nun einmal haben kann. Kinder also und alles, was damit zusammenhängt: Alimente, Umgangsstreitigkeiten, veränderte Lebenspläne, Jugendamt und so weiter und so fort. Natürlich auch immer mal wieder glückliche, gut und langfristig funktionierende Familien.
Alleinerziehend zu sein ist im Großen und Ganzen nichts Besonderes. War es auch früher nicht. In der DDR hieß die Zweierfamilienkonstellation »alleine mit Kind«. Bedeutet: Mist, hat nicht geklappt zwischen den lieben Liebenden, traurig das Ganze. Aber wenn man sich entscheiden muss zwischen täglichem Genörgel auf der einen Seite und der Möglichkeit, noch mal neu durchstarten zu können ohne das ungute Gefühl, mit dem falschen Menschen seine Jahre verbringen zu müssen, dann ist es wohl auch für die dazugehörigen Kinder besser, mit manchmal gestressten, hin und wieder auch traurigen Eltern zu leben, statt jeden Abend vom Kinderzimmer aus zuhören zu müssen, wie Mama und Papa sich gegenseitig fertigmachen.
Immer wieder entscheiden sich Paare dafür, es lieber sein zu lassen mit dem Vater-Mutter-Kind-Projekt. Statistisch sind im Prenzlauer Berg 27 Prozent aller Eltern alleinerziehend, ein Prozent von ihnen sind Männer. Man erkennt Alleinerziehende nicht auf der Straße und im Bioladen. Woran auch? Die Zeiten, da diese Lebensform eher selten und mit dem Hautgout sozialen Absteigertums behaftet war, sind lange vorbei. Alleinerziehende hungern und frieren nicht, sie haben nette kleine Wohnungen, sind sozial ausgezeichnet vernetzt und haben – wenn sie sich mit dem jeweils anderen Elternteil sinnvoll abstimmen – mehr Zeit als ihre komplettfamiliären Freunde. Weil sie nämlich jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien kinderfrei haben. Da laufen sie dann Halbmarathons, posten lustige Partyfotos auf Facebook und gucken mal nach, was aktuell so auf dem Beziehungsmarkt läuft.
Wie entspannt das sein kann, wie wohltuend die neue Lebensphase ohne den ganzen Beziehungsstress, lassen die alleinerziehenden Mütter aber nicht zu sehr raushängen. Manche jammern ein bisschen über den »Erzeuger«, der nicht pünktlich zahlt oder mal wieder zu spät zur Elternversammlung gekommen ist, der erstaunlicherweise plötzlich auch mehr freie Zeit hat und erst kürzlich in einem guten Restaurant mit einer seiner Mitarbeiterinnen aus der Agentur gesehen wurde. Und das, obwohl er doch vor Jahren mal versprochen hatte, sich sozial, sexuell und – vor allem – wirtschaftlich um seine Familie zu kümmern.
Du machst die Kinder, ich besorge das Geld – das ist die Beziehungsformel des verklungenen zwanzigsten Jahrhunderts kapitalistischer Prägung. Dass es Frauen gibt, die sich auf ein derart unwürdiges Agreement überhaupt eingelassen haben, ist zwar traurig, aber keineswegs selten. Denn solange alles wie geplant lief, konnten sie sich vormittags mit dem Buggy in die Lavendeltöpfchen-Cafés setzen und nachmittags nach Kita- und Schulschluss komplettfinanziert auf dem Spielplatz Latte macchiato schlürfen. Und nun? Kümmern sie sich immer noch um die Kinder, sollen sich aber plötzlich auch eine Arbeit suchen, denn ohne Job wird es schwierig, die gute Privatschule, die gesunden Biolebensmittel und den ganzen leckeren Kaffee zu finanzieren.
So sind manche. Die meisten aber Gott sei Dank nicht. Denn Kinder zu haben in sozial und finanziell gesicherten Verhältnissen ist zwar noch immer eine schöne Idee und wird im Prenzlauer Berg und den anderen Muttivierteln der Republik exzessiv zelebriert. Aber es funktioniert eben nur, wenn die Eltern sich lieben. Und wenn sie bei Nichterfüllung dieses Traums trotz Trennung interessante Menschen bleiben, die es vorziehen, abends lieber mal gestresst als gelangweilt ins Bett zu fallen.
Fines Mutter zum Beispiel hat einst nach dem Scheitern des Müller’schen Mutter-Kind-Projekts noch eine Zeit lang nach Luft geschnappt. Aber dann hat sie getan, was wichtig war: Sie hat für Fine einen anständigen Krippenplatz gesucht, ihre Diplomarbeit geschrieben, sich mit anderen Alleinerziehenden vernetzt und mit ihrer Tochter ein gutes, wenngleich nicht vollversorgtes Leben im angesagtesten Bezirk der Stadt gelebt. Herr Müller? Pah! Das ist Jahre her.
Fine will wissen, wie er so war, ihr Vater. »Na«, versuche ich Zeit zu schinden, »das ist nun auch schon sagenhafte zwanzig Jahre her.« Dafür, dass wir Erwachsenen dafür sorgen, dass Finekinder wie dieses erfolglos nach einem Zipfel Identität haschen müssen – hasse ich ihn nun doch wieder ein bisschen. Ich könnte ihr jetzt erzählen, was ich alles Mieses über ihn weiß und dass ich letztlich auch verdammt froh bin, dass er sich nie mehr in unser Leben eingemischt hat. Aber ich sage: »Er hatte bemerkenswerte blaugrüne Augen, so wie du sie hast.« Fine freut das.