Flüstern und Schreien oder

Der Lärm in der Großstadt

Kinderwagen_sw

Ich hab’s nicht so mit Lärm. Um genau zu sein: Ich hasse ihn. Kein Wunder, in den letzten Jahren im Speckgürtel habe ich erfahren dürfen, was die schöne Formulierung »himmlische Ruhe« meint. Nämlich ungestörten Nachtschlaf, aus dem man in der Morgendämmerung von Vogelgezwitscher ganz langsam herausgebeamt wird, nur kurz durchbrochen vom Motorengeräusch des Zeitungsautos und dem metallischen Klappern des Briefkastens. Danach Abfahrt, Stille, Weiterzwitschern und -schlafen. So sieht Ruhe aus und so hört sie sich an!

Bis wir in das Haus am Ende der Sackgasse gezogen waren, wusste ich nicht einmal, dass es das tatsächlich geben kann: ein Leben ohne Lärm. Wie labil ich diesbezüglich nervlich bin, erfahre ich gerade schmerzhaft aufs Neue. Mein Zimmer in der Prenzlauer Berger Wegwarte ist ein sonniger Ort in einer Rechts-vor-links-Straße. Es gibt Doppelfenster und dicke Türen, die mich vor den Alltagsgeräuschen meiner Mitbewohner schützen. Aber. Es gibt auch eine dünne Wand in meinem Zimmer, hinter der offenbar ein kleines Mädchen wohnt und dessen vornehmste Freizeitbeschäftigung es ist, mit Holzklötzen, Blechautos, allerlei anderem Gerät sowie seinen eigenen kleinen Füßen den guten Dielenboden zu malträtieren.

So jedenfalls stelle ich mir das vor auf meiner Seite der Wand. Und so hört es sich an, wenn ich, der guten Ruhe bedürfend, an meinem Schreibtisch sitze und versuche, dieses Buch zu schreiben. Hack, klack, bumm, schrei, kruschtelkruschtel. Kurze Stille. Dann wieder: Hack, klack, bumm … Ich reiße mich zusammen.

Was soll denn das, rufe ich mich selbst zur Ordnung, du kannst doch nicht in die Innenstadt ziehen und erwarten, dass hier Ruhe herrscht!

Aber, wispere ich, könnte man dem Kind, das sicher süß und sympathisch ist, nicht wenigstens einen Teppich ins Spielzimmer legen?

Neeein, blöke ich zurück, genau dafür haben doch die Eltern die schönen Dielen- und Parkettwohnungen gemietet und gekauft – damit ihre Kinder sich entfalten können. Bist du etwa kinderfeindlich, hä?

Na das, denke ich, ist ja nun die größte Beleidigung für eine praxiserfahrene Mutter. Ich gehe in mich und erinnere mich, wie wir selbst damals hier gewohnt haben. Die Straße, an der wir unsere Zimmerflucht gemietet hatten, war breit, schmutzig und grauenvoll verlärmt. Am Haus vorbei dröhnte alles, was so eine Großstadt an Emissionsträgern zu bieten hat: eine vierspurige Fahrbahn samt Autos und dazugehörigen Straßenbahnen, obendrüber rammelte die Berliner U-Bahn übers Gründerzeitviadukt. Tagsüber streunten kalbsgroße Hunde umher und schnappten nach den Kindern, abends marodierten amüsierwillige Trinker und Touristenhorden die Allee hinauf und hinab. Sahen wir im Sommer bei geöffneten Fenstern fern, ging das nur unter Inkaufnahme von akustischen Unterbrechungen. Wir versuchten dann, uns im Geschepper der U-Bahn auszumalen, was die Schauspieler gerade einander zu sagen versuchten und wer beim »Tatort« der Mörder war.

Aber auch im Haus war es alles andere als leise. Unsere Wohnung verfügte über einen fünfzehn Meter langen Flur, durch den die Kinder mit altersentsprechendem Spielzeug jagten. Als sie klein waren, handelte es sich noch um Rasselautos für Krabbelkinder, nachdem sie laufen gelernt hatten, schenkte ihnen die Oma ein Bobbycar, also eines dieser riesigen roten Plastikautos, auf dem man den Flur hinunterfahren und dabei kräftig hupen konnte. Niemals wäre es uns eingefallen, die Fünfzehn-Meter-Rennstrecke mit störendem Teppich oder Läufer auszustatten. Hallo!? Das hier war Prenzlauer Berg, da sollten sich die Kinder mal richtig austoben können. Die Straßen waren damals schließlich noch nicht verkehrsberuhigt und die wenigen Spielplätze voller Hundekacke – die fielen also als Orte zum Ausagieren komplett aus.

Was unsere Mitbewohner im Haus lange klaglos ertragen haben mussten, wurde uns erst klar, als über uns ebenfalls eine Familie mit Kind einzog. Nur einem Kind, wohlgemerkt. Aber das, ein süßer Knabe namens Kaspar, war der geliebte und einzige Enkel einer Großfamilie, die den Jungen mit sämtlichem Lärmequipment beschenkte, das der Einzelhandel zu bieten hatte. Kaspar bekam nicht nur das obligatorische Bobbycar, nein, dazu gehörten auch ein zweiachsiger Anhänger sowie eine chinesische Fahrradklingel. Als Kaspar drei wurde, legte die ganze Familie zusammen und schenkte ihm ein Trampolin. Da sein Zimmer direkt über unserem Schlafzimmer lag und Kaspar insgesamt eher Spätzubettgeher und Frühaufsteher war, wurden wir halbe Nächte hindurch und sehr frühe Morgen lang Ohrenzeugen seiner unstillbaren kindlichen Lebensfreude. Ich will nicht verhehlen, dass auch dieses an sich sehr sympathische Kind ein Glied in unserer langen Argumentationskette darstellte, warum wir die Innenstadt verlassen wollten. Aber das haben wir natürlich niemandem gesagt. Wir waren schließlich nicht kinderfeindlich!

Das waren nämlich ganz andere. Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, aber damals gab es tatsächlich noch Menschen im Prenzlauer Berg, die sich Ruhe vor schreienden, lärmenden Kindern ausbaten. Wenn sich die Kleintochter mal wieder brüllend in der Kaufhalle querlegte und versuchte, auf diese Weise ihrem Wunsch nach »Bummibärchen« Ausdruck zu verleihen, beeindruckte mich das wenig. Ich stand auf dem pädagogischen Standpunkt, das Kind müsse sich jetzt mal ausschreien, irgendwann sei es leer gebrüllt und wir könnten den Wochenendeinkauf fortsetzen. Ein älterer Mann teilte diese Ansicht leider nicht. Er blieb mit seinem Einkaufswagen vor der sich am Boden windenden Kleintochter stehen, besah sich eine halbe Minute das kreischende Bündel und gab mir schließlich den Rat, dem da unten »mal richtig eine zu drömmeln, das kapieren die dann schon«.

Okay, das waren die Neunziger. Eltern wie wir fingen gerade damit an, eine Art Nachwendepädagogik und ein anderes Leben auszuprobieren. Die ersten privaten Kitas waren erst wenige Jahre alt und krankten noch an allem, was derlei mit sich bringt: unzuverlässiger Putzdienst, nicht gezahlte Beiträge, mittags immer nur Vollkornnudeln. Unsere Kinder, von denen es im Osten nach dem Mauerfall nur noch irritierend wenige Exemplare gab, mussten nun nicht mehr zügig durchschlafen, sie wurden gestillt, solange sie das brauchten, und sie konnten so lange ihre Windeln vollmachen, wie sie wollten. Wir hatten Zeit und einen neuen Plan von Erziehung. Und dann das! Ein alter Mann, der sich nicht nur Ruhe ausbat, sondern auch gleich eine Steinzeitidee hatte, wie die herzustellen sei: eine drömmeln, ha!

Heute ist das natürlich anders. Die Verhältnisse haben sich komplett zugunsten der Kinder und ihrer Eltern verschoben. Ihre schiere Masse verursacht selbst bei Leuten wie mir, die sich nicht durch Kinderbegleitung ausweisen können, fast so etwas wie Minderwertigkeitsgefühle. Wer hier im Bezirk unter fünfzig ist und nicht einen Unter-eins-dreißig-Menschen mit sich führt, muss lesbisch, schwul oder gynäkologisch beeinträchtigt sein. In riesigen Pulks trecken die Buggy-Armadas die Straßen entlang, auf den Gehwegen schlingern späte Mütter verkehrswidrig und lebensbedrohlich mit Kindern auf Fahrradstange und Rücksitz herum. Sie machen dabei so viel Lärm, wie sie wollen, und wenn ein Kind gesenkten Blicks in einen Passanten rennt, erntet der vorwurfsvolle Blicke, weil er dem kostbaren Nachwuchs nicht regelgerecht ausgewichen ist. Allein die Vorstellung, ein wütender Rentner würde den Erziehungsberechtigten körperliche Züchtigung empfehlen! Der Mann würde mit Name, Foto und Postanschrift noch am selben Tag auf Facebook gepostet und könnte schon mal den Umzugswagen bestellen.

Dies wissend, bin ich eine duldsame, nette Nachbarin im Wegwarte-Zimmer. Ich höre die kleine unbekannte Nachbarin kraftvoll ihre Bauklötzer und Puppen in den Boden rammen, leide stumm, wenn ihr nebenan etwas nicht gelingt und sie in spitze Schreie ausbricht. Ich kenne inzwischen akustisch auch ihre Eltern, die sagen: »Macht nichts, probier’s halt noch mal mit dem Lego!« Und ich höre auch, wenn sie nachts beruhigend auf sie einreden, weil das Kind, aus schweren Träumen erwachend, ins Bett gemacht hat, wie es greint und ruft. Ich höre Tritte und Schritte, Flüstern und Schreien, Türen und Klötzchen. Und? Es ist okay. Das hier ist Großstadt.