Die kleine Lady oder

Sokrates für Achtjährige

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Würdest du mir bitte mal den Pastetenteller reichen?«, fragt die kleine Lady. Ich tue wie geheißen. »Danke«, sagt sie, »das Entenconfit ist ja leider alle, aber so ein einfaches Rillette tut es für heute auch.« Beherzt greift die Kleine zu. Zwischen Käse- und Pastetenhäppchen spült sie brav mit etwas Evian nach, und die Baguette-Krümelchen in ihren zartrosa Mundwinkeln wischt sie beherzt mit dem roten Pulloverärmel weg.

Die kleine Lady ist acht Jahre alt. Sie ist ein ganz und gar wunderbares Kind, munter, gewitzt, von properer Körperlichkeit. Sie isst halt gern. Und gut. Ihre Mutter ist eine begnadete Köchin, die hier, in ihrer Altbauküche, eine große Wärme und Gastlichkeit verbreitet. Sie steht am Herd, schnippelt und rührt und redet, sie bestreicht kleine Sandwiches als Vorspeise, während im Rohr das Biofleisch bei hundert Grad seiner Bestimmung entgegensummt. Die kochende Mutter sieht, wo der Wein fehlt, bevor der Gast selbst es bemerkt hat, und sie pflegt eine erfrischende Konversation bei Tisch. Kein Wunder also, dass die kleine Lady weiß, wie ein gutes Olivenöl zu schmecken hat, was ein gelungener Abend ist oder dass sie in ihrem zarten Alter Spaß am Verzehr Grüner-Mandel-Tapenade findet.

Wir sitzen also da und reden und spachteln, der gute Wein fährt in die Köpfe, das feine Essen macht die Beine schwer, die kleine Lady, einziges Kind in unserer Runde, nippt am Wasserglas und unterhält mit Schnurren. Nebenbei malt sie auf Vaters iPad ein paar ganz raffinierte Bilder mit Zauberblumen und Pferden, die »Shut up!« wiehern. Es ist einer jener großartigen Momente purer Freude am Nachwuchs. Kinder, denke ich, sind so was Großartiges. Was für ein Glück, wenn sie gesund sind. Und was für ein grandioses Leben wir mit ihnen führen …

Die Eltern der kleinen Lady zum Beispiel tun eine ganze Menge dafür, dass ihre Tochter umfassend auf das Leben da draußen vorbereitet wird. Gut, ihre Wohnung ist recht klein, schließlich brauchen sie das Geld, um dem Kind die zweisprachige Privatschule zahlen zu können. Aber das ist auch schon alles an Einschränkung: ein bisschen weniger Platz als die Lofthouse-Angeber-Familien in der Nachbarschaft. Dafür jede Menge Spaß für eine dreiköpfige Familie, in der das Kind mit allem ausgestattet ist, was Erwachsene mögen: Intelligenz, Schönheit und – wichtig! – Humor. Als die kleine Lady neulich im Linolschnittverfahren ihre Katze besonders lebensecht porträtiert hatte, haben die Eltern das Kunstwerk in kleiner Auflage als Postkarten drucken lassen – so begeistert waren sie vom Talent ihres Kindes. Nun überreicht die kleine Lady Besuchern beim Abschied den gelungenen Katzen-Druck.

Man sieht und spürt sie, die enge Vertrautheit zwischen Eltern und Kind. Es wird geschmust und sowohl in deutscher als auch englischer Sprache gescherzt. So wie ihr Vater liebt auch die Tochter den Dichter Erich Kästner – und unter großem Gegacker tragen beide gern Gästen die lustigsten Verse aus Kästners Lyrischer Hausapotheke vor. Und wenn die kleine Lady, nur mal zum Beispiel, einen Naturkunde-Workshop in der Schule hat, wird das Ganze von allen dreien, Mutter, Vater und Kind, engagiert vorbereitet und mitgetragen. Im Fachhandel wird das nötige Equipment erworben, und nachmittags ist auf dem Spielplatz keine Grille mehr sicher vor der Botanisiertrommel aus Plastik, die die Kleine stets bei sich trägt. Aus der Bibliothek werden die Pflanzenbestimmungsbücher herbeigeschafft und abends vor dem Schlafengehen gemeinsam durchgeblättert. Im Grunde, dieser Eindruck drängt sich auf, sind sie drei beste Freunde, die nur ein paar Lebensjahre trennen, deren Erfahrungswelt aber gleich schön, groß und aufregend ist.

Erst heute hat die Familie wieder einen schönen Erfolg feiern dürfen. Die kleine Lady ist nämlich nicht nur klug und kregel, sie verfügt auch über ein besonderes Talent: als Judoka wirft sie kleine Mädchen ihrer Alters- und Gewichtsklasse gekonnt und mühelos auf die Tatami. Da macht ihr keiner was vor, schließlich hat sie bereits den gelben Gürtel und wurde prompt zur Berliner Schüler-Meisterschaft eingeladen. Heute Morgen war der Wettkampf. Die kleine Kämpferin und ihr Vater sind um sieben Uhr zur Sporthalle aufgebrochen, und weil die Ladymutter ausnahmsweise mal länger schlafen wollte, hat der Lord den – siegreichen – Kampf der kleinen Lady mit der Handy-Kamera aufgenommen.

Da sitzen wir nun alle bei Tisch: vier Erwachsene und ein Kind. Inzwischen ist der Braten aufgetragen, wir spachteln und schauen uns dabei ein paarmal hintereinander den Film an. Wie die kleine Judoka die Tatami betritt, wie sie und ihre nicht minder sympathische Gegnerin sich voreinander verbeugen, um anschließend brutal übereinander herzufallen. Es wird gehebelt und geworfen, ein großes Durcheinander von Armen, Beinen und Zöpfen – und am Ende des Gezappels ist die kleine Lady Meisterin in ihrer Altersklasse. Wahnsinn!

Dabei habe ihre Tochter kaum etwas getan für diesen Sieg, ergänzt beiläufig die Mutter. Nur die Drohung des Trainers, sie nicht am Wettkampf teilnehmen zu lassen, habe die Achtjährige bewegen können, in den letzten vier Wochen tatsächlich pünktlich zum Training zu gehen und an ihrer Wurftechnik zu arbeiten. »Was denn«, frage ich die kleine Lady und stupse sie in die Seite, »du gewinnst in einer Sportart, die du nicht mal richtig magst?« Die Angesprochene reagiert kaum, sie ist satt und müde und außerdem damit befasst, sich den Film noch einmal anzuschauen. Deshalb antwortet ihre Mutter für sie. »Naja, das Training ist immer montagnachmittags um fünf, weißt du. Ein ziemlich ungünstiger Termin, denn vorher hat sie im Hort noch Sokratisches Gespräch.«

Fast spucke ich den guten Rosé aufs Leinentischtuch vor Lachen. Zu irre ist der Gedanke, dass da mit mir am Tisch ein Kind sitzt, das mit seinen acht Jahren Dinge treibt, Denksportarten, der gehobenen Sorte, die ich gerade mal vom Hörensagen kenne. Sokratisches Gespräch ist eine Art Gruppenkommunikation, in der so lange gefragt und gegengefragt wird, bis alle einer Meinung sind. Also im Grunde so etwas wie eine SED-Parteiversammlung, nur dass nicht schon vorher das Ergebnis feststeht. Ich sage: »Das ist nicht euer Ernst – eine Achtjährige führt im Schulhort sokratische Gespräche?«

Die drei schauen mich irritiert an. Ich spüre, dass mir im Hinblick auf zeitgemäße, effektive Pädagogik irgendwas fehlt: Toleranz womöglich, höheres Verständnis, Coolness. Meine Töchter haben gebastelt im Hort, Kuchen gebacken oder Hopse gespielt. Und wenn ich Glück hatte, waren, wenn sie nach Hause kamen, die Schularbeiten gemacht und sie konnten entspannt die Simpsons gucken. Heute tun sie so etwas zwar auch, aber dafür heißt das jetzt Science-Workshop, Ernährungs-AG und Workout, und alles ist total nützlich und bildend. Selbst Hausaufgaben sind jetzt Exercises und werden im Team erledigt.

Ich habe die kleine Lady wirklich gern. Dieses Kind erfreut mein Herz mit seiner Neugierde, seiner Unverkrampftheit und Lebensfreude. Es ist bei ihm wirklich nullkommanix von Überforderung zu spüren, von Eiskunstlaufmutti-Wesen oder anderen Auswüchsen mitteleuropäischen Leistungsüberdrucks. Und doch macht es mich ganz nervös, dass ausgerechnet dieses betörende Zopfmädchen so perfekt ist. Und dass ihre Eltern, meine guten Freunde also, dieses Überangebot an guten Eigenschaften nicht irritiert. »Sokratisches Gespräch«, hake ich bei ihnen noch mal nach, »ist das nicht total kompliziert? Ich weiß nur, dass man da Fragen stellen muss – aber die müssen irgendwie ganz besonders formuliert sein, das habe ich ehrlich gesagt nie ganz verstanden.«

Es stellt sich heraus, dass weder Vater noch Mutter so genau wissen, was ihre Tochter da montagnachmittags tut. Und vor allem: wie sie es tut. Und während wir uns an unsere Philosophiekurse zu erinnern versuchen, hat die wunderbare kleine Lady den Kopf auf ihren roten Strickärmel gelegt und die Augen halb geschlossen. Gleich wird sie eingeschlafen sein, schon sehe ich einen kleinen Spucketropfen im zartrosa Mundwinkel quellen. Aber eins murmelt sie noch, bevor der Tag endgültig aus ist: »Jaaa Mann, ich kapier das ja auch immer nicht mit den blöden sokratischen Fragen da.« Und dann ist sie weg. Sehr beruhigend finde ich das übrigens, kleine Lady.