Es ist gar nicht so leicht, Elternschaft und gelungene Freizeitgestaltung miteinander zu verbinden. Was das betrifft, weiß ich, wovon ich rede. Als die Kinder klein waren, beschränkte sich unser Ausgehverhalten darauf, die Oma oder eine Singlefreundin als Babysitter zu engagieren. Erstere, damit sie die Enkel in unserer Abwesenheit nach allen Regeln der Kunst verwöhnen konnte, und Letztere, um ihr mal einen Blick in ihre Zukunft als Mutter zu ermöglichen und ihr die Option zu eröffnen, sich rechtzeitig dagegen zu entscheiden.
Hatten wir die Wohnung verlassen – die Schreie der Kinder hallten uns noch durchs Treppenhaus hinterher –, wussten wir oft gar nicht recht, etwas miteinander anzufangen. So gefangen waren wir im täglichen Vierundzwanzig-Stunden-Kinder-Modus, dass der Draht zwischen uns, was Vergnügungen und Coolness angeht, auf Spinnwebdünne zerschlissen war. Was kann man schon machen mit ein paar Stunden gemeinsamer Zeit? Essen, Kino … danach noch einen Absacker trinken. Ein mittelmäßiges Angebot für ein Paar, das sowieso jeden Tag fünfmal in logistischen Angelegenheiten telefoniert und abends zwischen Esstisch, Badezimmer und Kinderbetten rotiert – also im Großen und Ganzen ständig miteinander zu tun hat – und bei dem es vor allem um ein Thema geht: die Kinder und deren Einpassung in unsere Bedürfnisse und Obliegenheiten als Werktätige.
Nun sollten wir uns also amüsieren. Ich weiß nicht, wie es anderen Paaren geht. Aber wir neigten bei derlei Gelegenheiten dazu, uns erst mal ausgiebig zu streiten. Wann kamen wir schon mal dazu? Also nutzten wir unsere drei, vier Stunden, die virulenten, im Alltagsstress unterdrückten Konflikte auszusprechen und ausgiebig zu diskutieren. Oft genug schafften wir es nicht mal bis zur Kinokasse, sondern verbrachten unsere Zeit lieber damit, durch die Straßen von Prenzlauer Berg, Mitte oder Kreuzberg zu ziehen, uns dabei in halblautem Ton anzuzischen und wechselseitig das Spiel Ich-bleib-jetzt-einfach-stehen-du-bist-so-gemein-zu-mir zu spielen. Völlig erschöpft kehrten wir gegen Mitternacht heim, wo der Babysitter nicht merken durfte, dass die Ausgeheltern alles andere als Spaß gehabt hatten.
Als die Kinder größer wurden, entspannte sich die Lage zusehends. Wir waren nun in der Lage, ganz und gar freiwillig auszugehen, Zeitlimits waren ein Schrecken der Vergangenheit. Heute amüsieren wir uns nach Strich und Faden und so lange wir wollen und erinnern uns ungern daran, was für ein spaßbremsendes Paar wir mal waren. Auch die Kinder nutzen ihre altersentsprechenden Freiheiten. Sie verabreden sich zum Chillen und sicher auch zu Alkohol- und Drogenexperimenten. Tagsüber herrscht am Wochenende Ruhe im Häuschen am Ende der verkehrsberuhigten Sackgasse – die Damen erholen sich von ihren nächtlichen Aktivitäten.
Dass es im Ausgehsegment inzwischen anders läuft, erzählt mir Freundin Gina. In der bilingualen Privatschule ihrer Tochter nämlich nehmen die Eltern das Paaramüsement ganz professionell in die eigenen Hände: Sie organisieren sich einen Tanzabend, und den nennen sie dann Parents Disco. Als Gina mir davon erzählte, wollte ich es erst nicht glauben. Reichen diesen Müttern und Vätern nicht die quälend langen Elternversammlungen, die sie miteinander verbringen müssen? Haben die keine anderen Freunde? Können die sich wirklich alle leiden? Und wäre es nicht angemessener, auf eigene Faust in einen Club zu gehen? Nein, sagt Gina und erzählt, dass der Wunsch nach einer eigenen Tanzveranstaltung entstanden ist, weil die Schüler der Mittelstufe schon eine Disco hatten. Zu Hause hatten die Kinder dann erzählt, das sei so ein toller Abend gewesen, dass ihre Eltern eine Art Regressionsschub erlitten und nun auch noch mal ganz, ganz jung sein wollen. Na, sagte ich, das will ich sehen.
Am Freitagabend um acht machen wir uns auf den Weg. Still liegt der Schulhof – aber da, ganz oben unterm Dach, sehen wir grün-orangefarbige Lichtkonvulsionen, und jetzt, ja, jetzt hören wir auch dumpfe Bässe. Hier sind wir richtig, hier geht’s ab. Am Eingang stehen Kalle und Harry, die Hausmeister der Schule, und spielen Doormen. Ja, sagt Harry, er stehe hier, um ungebetene Gäste fernzuhalten, die Eltern wollten unter sich bleiben und schließlich sei der Stadtbezirk ja nicht nur Familien-, sondern auch Ausgehgegend. Er lacht wissend. Da hat Harry recht, hier kann nicht jeder rein. Aber wir.
Gina und ich erklimmen die Treppen bis unters Dach, in der Schulkantine haben helfende Hände die Tische und Stühle an die Wände geschoben. Sofas und Nussschälchen suggierieren Lounge-Atmosphäre, aus den hinteren Räumen bollert Neunzigerjahre-Rock, grün-orange erleuchtet dreht sich die Discokugel unter der Decke. An der zur Theke umfunktionierten Essensausgabe gibt es Becks, Bionade und Brezeln. Für gehobene Ansprüche Cremant, den Prosecco dieses Jahrzehnts.
Eltern sind auch da. Und zwar gar nicht so wenige. Ich sehe Anzugmänner und Stiefelfrauen in Bürokluft, Lesebrillen und graues Haar. An der Fensterseite hat sich eine iPhone-Gruppe gebildet, deren Mitglieder entweder den Babysittern fernmündlich letzte Instruktionen erteilen oder noch dringende Geschäfte zu regeln haben. Also alles in allem ein musikuntermaltes Stehrümchen, wie man sie auch von Vernissagen und Betriebsweihnachtsfeiern kennt. Ein casual Friday der Turboelterngeneration.
Einige der Männer und Frauen kenne ich aus Funk und Fernsehen, sie sind Journalisten, Schauspieler, Buchautoren, Maler. Und die da hinten mit der sehr auffälligen Vintagebrille – ist das nicht die Hauptdarstellerin einer gar nicht mal so üblen Vorabendserie? Ja, sie ist es. Mein Provinzlerherz hüpft vor Freude über die Möglichkeit, diese wichtigen Eltern und Kulturschaffenden quasi in freier Wildbahn beobachten zu dürfen.
Gina ist in Gespräche vertieft, und ich nutze die Gelegenheit, mich mal wieder zu »Losing my Religion« von REM zu drehen. Als gleich darauf ein Engtanzsong erschallt, trolle ich mich von der Tanzfläche. Und wen sehe ich? Einen alten Schulfreund, fast hätte ich ihn nicht erkannt mit seinem Ralph-Lauren-Hemd und der Gelfrisur. Er weiß auch erst mal überhaupt nicht, wo er mich einordnen soll. Es fängt gerade an, peinlich zu werden zwischen uns, da schickt er sich doch noch an, sich über unser Wiedersehen zu freuen.
Was ist aus ihm, dem Ostler, geworden? Chris ist viel rumgekommen in der Welt, gerade ist er von Vancouver nach Berlin gezogen, um nun hier zu arbeiten. »Und was machst du?«, frage ich. »Ich versuche, die Welt zu einem besseren Ort zu machen«, antwortet er und drückt auf seinem iPhone einen Anruf weg. Weil ich einen Scherz vermute, grinse ich verständnisinnig. Aber es ist kein Witz, Chris baut in der Hauptstadt gerade eine wichtige Stiftung auf, und wenn sein Sohn, der ja hier Schüler ist, ihn fragt, was er im Unterricht über den Job seines Vaters sagen soll, gibt er ihm die gleiche Antwort: Sag ihnen, dein Vater versucht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. »Tja«, sage ich zu Chris, »ich schreibe nur Texte und hoffe, dass die Leute sie lesen.« »Das ist auch okay«, beruhigt er mich. Wir tauschen unsere Visitenkarten aus und versprechen uns, uns nicht mehr aus den Augen zu verlieren, das Übliche.
Ich kaufe mir ein Bier, kralle eine Hand voll Nüsschen und stelle mich wieder zu Gina. Sie erörtert mit einer Mitmutter die noch gar nicht so lange zurückliegende Schülerdisco der Mittelstufe. Dort, so höre ich, habe es einige Verwirrung bezüglich des Dresscodes gegeben. Weil die Schulleitung die Jugendlichen zuvor nicht ausreichend informiert habe, seien einige Eleven in Ballkleidern und Anzügen erschienen, andere – auch die Tochter der Mitmutter – in Jeans und T-Shirt. Eine atmosphärische, ja kulturelle Kluft habe sich an diesem Nachmittag aufgetan zwischen denen, die einfach nur mal rocken wollten, und denen, die die Tanzveranstaltung als Anlass sahen, an ihrem stilgerechten gesellschaftlichen Auftritt zu feilen.
Traurig sei ihre Tochter nach Hause gekommen, erzählt die Mitmutter und nimmt einen Schluck Bier. Denn am Schluss der Disco seien überraschend die fünf besten Outfits prämiert worden. Wer sich also brav in ein Abendkleid gezwängt und die jungen Füße in Riemchensandalen gesteckt hatte, wurde dafür belohnt. »Was waren das denn für Preise«, frage ich. Es stellt sich heraus, dass die Kinder iTunes-Gutscheine geschenkt bekommen haben, mit denen man auf sein iPhone Musik oder Spiele laden kann. »Wahnsinn«, sage ich, »das würde ja bedeuten, dass jede und jeder Halbwüchsige an dieser Schule ein Apfeltelefon haben muss.« »Ja«, sagt die Mitmutter, »das bedeutet es, und deshalb hielt sich die Trauer meiner Tochter auch in Grenzen – sie hat nämlich keins. Jedenfalls noch nicht.«
Kein Wunder, denke ich auf dem Nachhauseweg, dass die Glücksbezirkseltern nicht gerade krachende Partys feiern. Die müssen sehen, wie sie die monatlichen Raten für die Telefone ihrer Kinder erarbeiten. Was kommt als Nächstes? Werden bald Obligationsscheine für gutes Aufessen ausgeteilt, Bauhauslampen oder ein Mies-van-der-Rohe-Sofa für eine Eins in der Klausur, und bei bestandenem Abitur wird das Wohneigentum übertragen? Es ist wirklich nicht leicht für Eltern, gut drauf zu sein.