Weg in den Wedding oder

Wenn Kinder unsexy machen

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Ich bin inzwischen schon reif für den Wedding«, seufzt Micha. Dies könnte der schöne Satz eines genervten In-Bezirk-Bewohners sein, dem es hier irgendwie zu voll und zu anstrengend geworden ist. Ist es aber nicht. Die Sache ist, Micha und seine Freundin haben sich getrennt, und weil die Kinder bei ihr, also in Kitanähe bleiben sollen, muss Micha nun ausziehen und sich eine andere Wohnung suchen. Eine, in der der Freiberufler wohnen und arbeiten kann und in der sich an den Kinderbesuchstagen auch Clara und Paul wohlfühlen. Aber hier im Prenzlauer Berg findet er nichts Bezahlbares. Und nun muss Micha darüber nachdenken, in den Westen zu ziehen.

Tatsächlich sind es von dort, wo Micha zurzeit noch wohnt, nur ganz wenige Meter in den Bezirk Wedding, denn seine schöne preiswerte Altbauwohnung liegt unmittelbar an der innerstädtischen Zonengrenze. Ein Umzug nach drüben sollte eigentlich kein Problem sein, ist ja nur ein anderer Stadtbezirk. Es ist aber ein Problem für einen wie Micha, der seit Anfang der Achtzigerjahre im Prenzlauer Berg wohnt. Vor dem Mauerfall hat er von Osten her manchmal die Aussichtstürme auf der anderen Mauerseite fotografiert. Da standen die Westler, manchmal ganze Schulklassen, und starrten zu ihm herüber, manche winkten auch. Micha fühlte sich wie im Zoo. Da hat er halt zurückgeknipst. Er konnte sich damals tatsächlich einen cooleren Ort als den Osten vorstellen – aber innerhalb dieses Ostens war der Prenzlauer Berg das maximal Coolste, was es gab. Das begriffen die auf dem Turm natürlich nicht, die sahen nur ein Altbauviertel mit kaputten Fassaden. Micha gefiel’s. Und es gefällt ihm noch immer. Er will hier wirklich nicht weg. Aber zu Hause ist die Stimmung geladen, seine Freundin und er reden seit Wochen nicht mehr miteinander. Paul und Clara fangen schon an, aggressiv zu werden – Micha muss raus. Aber wohin? Im Prenzlauer Berg gibt es keinen Wohnraum mehr für einen wie ihn, einen Teilzeitvater in seiner größten Lebenskrise. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass er ausgedient hat im Prenzlauer Berg, wo Wohnen immer öfter mit kreditfinanzierten Townhouses und Lofts assoziiert wird und die letzten preiswerten Mietwohnungen fest in der Hand jener sind, die schon immer hier gelebt haben. Also eigentlich solchen wie Micha.

Dabei hatte er alles richtig gemacht, zumindest in Hinsicht auf die geschlechterpolitische Neuausrichtung in diesem Land. Als die Kinder geboren wurden, hat er als Freiberufler weniger Aufträge angenommen und sich um Clara und Paul gekümmert. Seine Freundin, die voll arbeitete, fand das gut so, es war ja auch gerade schwer Avantgarde, dass die Väter in Elternzeit gehen. Er hat den Kindern Frühstück und Abendbrot gemacht, hat sie zur Kita und zurück gefahren, hat gekocht und geputzt, die Biowürstchen für die Kindergeburtstage aufgewärmt, Topfschlagen gespielt und Preistütchen verteilt. Hat Paul und Clara nachts Wadenwickel gemacht und tagsüber im Wartezimmer der Kinderärztin gehockt, das von den Hustenattacken kleiner Stadtbewohner widerhallte. Und wenn er gute Laune hatte, hat er sich zum Spielplatz einen Latte macchiato to go mitgenommen. Wie er dann da so saß und zwischen zwei Schlückchen Kaffee Clara und Paul die Nasen abgewischt hat, ist ihm keineswegs entgangen, dass die Mütter zu ihm rübergeguckt haben: was für ein toller Mann, dieser Micha.

Und dann das. Erst meckerte seine Freundin, die Wohnung sei nicht so sauber, wie das eigentlich zu erwarten sei, wenn ein Elternteil zu Hause bleibt. Dann fragte sie, warum es immer der teure Andechser-Joghurt sein müsse, wieso das Spülmaschinensalz nicht nachgefüllt wurde und wieso eigentlich erst die Kita-Erzieherin sie darauf aufmerksam machen müsse, dass Paulchen seinen S-Fehler logopädisch behandeln lassen muss. Was er eigentlich den lieben langen Tag so mache, während sie das Geld für alle verdiene.

Es entspann sich eine ungute Stimmung in der schönen Wohnung im Prenzlauer Berg. Micha dachte nach und signalisierte schließlich seinen früheren Auftraggebern Arbeitsbereitschaft. Ab und zu kamen wieder Aufträge rein: mal eine Konzertkritik, dann eine Ausstellungsrezension, das Ganze verbunden mit Abendterminen und sehr schmalen Honoraren. Aber auch das gefiel Michas Freundin nicht. Was er da treibe, dieses Geschreibsel für das bisschen Zeilengeld, das sei ja wohl eher eine Art Selbstfindungstrip, nörgelte sie. Micha solle sich mal einen richtigen Job suchen – der Mann, der er jetzt sei, sei ein anderer als der, den sie einst kennengelernt habe.

Micha zappelte noch ein bisschen, er versuchte, seine Freundin milde zu stimmen und den Kindern den Grundsatzstreit ihrer Eltern vom Halse zu halten. Aber irgendwann konnte auch er nicht mehr die Augen verschließen vor der Erkenntnis, dass seine engagierte Vaterschaft ihn für seine Freundin zum unsexysten Mann unter der Sonne gemacht hatte. All die schönen gesunden Biobreirezepte, seine ausgefeilte Gute-Nacht-Geschichten-Vorlesetechnik, seine Art, mit dem Fahrradanhänger gekonnt die Spielplätze des Prenzlauer Bergs anzusteuern – umsonst. Die Frau liebte ihn nicht mehr. Und um ihm noch mal richtig eine zu verpassen, betonte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre finanzielle Macht und seine soziale Ohnmacht.

Wir sitzen im Café, Micha dreht seine Bionade-Flasche nervös in der Hand. »Ich habe alles falsch gemacht«, sagt er in seinem weichen Sächsisch, »ich habe meiner Freundin vertraut, habe alles gemacht, wie sie es wollte, und jetzt kann ich abhauen. Verträge oder so was, was wem gehört oder so, haben wir natürlich nicht gemacht. Mensch, ich bin doch aus’m Osten, so was hab ich doch nie gebraucht. Naja«, sagt er, »dachte ich jedenfalls.«

Micha, schwant mir gerade, ist eigentlich so etwas wie eine Macchiatomutter, nur mit dem kleinen Unterschied, dass er im Körper eines Mannes gefangen ist. Es gibt viele solche Frauen hier im Prenzlauer Berg. Frauen, die vertraut haben in das Familienmodell längst zurückliegender Jahrzehnte, als der eine das Geld ranschaffte und der andere die rückwärtigen Dienste versah. Anfangs ist ein derartiges Arrangement eine Verheißung: eine Auszeit vom Arbeitsalltag, vom Anspruch, etwas werden, schaffen, darstellen zu müssen. Man tauscht diese Rolle gegen eine Zuschreibung, die gesellschaftlich geadelt ist: die der Vollzeitmutter. Oder, wie in Michas Fall, die des Vollzeitvaters. Man gibt sich her für das Beste, was man hat: die Kinder.

Aber dann hakt es irgendwann. Und zwar nicht unbedingt deshalb, weil die Liebe schwindet. Sondern weil dieses Modell im einundzwanzigsten Jahrhundert kaum noch funktioniert. Arbeitsplätze sind heute Zeitverträge, Tariflöhne ein Wort aus einer anderen Zeit. Sichere Arbeitsbiografien sind einfach passé! Und wer sich da mal eine Zeit lang rausbeamen möchte, für den kommt ein Kind manchmal gerade recht. Endlich mal frei vom Druck sein, sich beweisen zu müssen, davon, Kollegen zu haben, die alles andere als nett sein können, sich tagsüber die Freiheit nehmen, Kaffee zu trinken und dem Baby beim Wachsen zuzusehen. Ein schöner Gedanke, der auch mir nicht fremd ist. Als es im Job eine Zeit lang mal weder vor noch zurück ging, stellte auch ich zu Hause den Antrag auf ein weiteres Kind. Gott sei Dank verfüge ich über einen Mann, der diese Idee als das enttarnte, was sie war: Flucht vor Verantwortung. Wir ließen das dann mal schön bleiben.

Und Micha? Der muss nun gehen. Muss seinen geliebten Prenzlauer Berg verlassen und in den billigeren Wedding ziehen, weil das eigentlich ja liebevoll und zeitgemäß gedachte Arrangement zweier Erwachsener gescheitert ist. Eine Wohnung, die er bräuchte für sich und die Kinder, gibt es hier schon lange nicht mehr. Er hat wirklich alles versucht.

Micha, der arglose Teilzeitvater, kann sich das alles nicht mehr leisten. Er fragt sich nun, was das eigentlich für Leute sind, mit denen er in den letzten Jahren so locker und entspannt auf den Spielplätzen rumgesessen hat. Wie die sich das leisten können: sich um die Kinder kümmern, Zeit haben, gut zu leben. Er sieht ihre Autos, die groß sind und dunkel. Er hört sie von Tilgung und Abschreibung reden, und erst jetzt fällt ihm bei einigen der schwäbische, der fränkische, der Hamburger Akzent auf. Es ist die westdeutsche Erbengeneration, deren Eltern den Kindern rechtzeitig was Eigenes in Berlin gekauft haben und ihnen – wegen der Enkel – den zehn Jahre alten Audi vor die Tür gestellt haben. Die waren in solchen Dingen einfach schlauer und schneller, und vor allem finanziell besser gepolstert.

Micha nimmt ihnen das nicht krumm, er ist kein Übelnehmer. Er ist nur traurig, weil er gehen muss. Er ist jetzt Ende vierzig, im Spätsommer kommt Paul in die Schule, eigentlich bräuchte der kleine Schulanfänger nichts mehr in dieser Zeit als sichere Verhältnisse. Eltern, die sich lieb haben, jemanden, der aufpasst, dass das Turnzeug eingepackt ist, der ihn tröstet, wenn er schon wieder nicht den Aufschwung beim großen A hinkriegt.

Micha muss jetzt los, Clara und Paul vom Kindergarten abholen. Er wird ihre Schuhe zubinden, auf dem Spielplatz noch eine Runde das Karussell drehen, und dann werden sie gemeinsam nach Hause gehen, Abendbrotzeit. Seine Freundin und er werden sich anschweigen, und wenn Micha abends in sein Zimmer geht, wird er darüber nachdenken, wie das alles kommen konnte und was er eigentlich mitnehmen kann aus der Wohnung, wenn er rüber in den Wedding umzieht.