In Berlin ist ein sensationeller Frühling ausgebrochen. Die Linde im Hof des Wegwarte-Hauses knallt ein Grün ins Betongeviert, dass man schier irre werden kann daran. In den Straßen haben sich idealistische Prenzlauer Berger der kleinen Beetgevierte um die Straßenbäume bemächtigt und dort Tausendschön und Stiefmütterchen gepflanzt. Das ist mutig. Zwar gibt es bei Weitem nicht mehr so viele Hunde in der Gegend wie früher, aber doch immer noch genug, die ihre Blasen und Gedärme im städtischen Raum entleeren wollen und müssen. Die urbanen Gärtner kennen ihre natürlichen Widersacher, sie haben deshalb kleine Holzzäunchen drumherum gezimmert und ihre Kinder mit Edding Botschaften an die Hundehalter draufschreiben lassen. »Bite hier nicht hinkaken.« Süß.
Ich finde das natürlich großartig mit den kleinen Beeten. Da lernen sich die Nachbarn beim Pflanzen mal kennen, man kommt beim Buddeln ins Reden, und das Thema Häuschen-auf-dem-Land ist in solchen Situationen sicher nicht fern. Ich verfüge ja bereits seit Jahren über ein solches und weiß, dass die kleinen Primeln in der schlechten Abgasluft nur eine Andeutung dessen darstellen, was ich in Brandenburg seit Jahren habe. Ranunkelsträucher, krachende Fliederdolden und jede Menge Giersch, das unausrottbarste Unkraut, das es gibt. Unerbittlich zieht es mich beim Gedanken an die grüne Pracht nun in die frühlingsgeschwängerte Heimat. Und ich fahre los.
Man sieht es schon in der S-Bahn. Je weiter auswärts die Fahrgastgemeinschaft reist, desto klarer treten die sozialen Strukturen dieser Stadt, ihrer Bewohner sowie der Umlandanrainer hervor. In der City sieht man noch Hipster und coole Mütter, in den Außenbezirken steigen die Barbour-Jacken-Träger mit Manufakturfahrrädern und TÜV-geprüften Helmen aus. Was dann noch weiterreist, das sind wir Brandenburger. Erschöpfte Niedriglöhner in Takko-Klamotten, die Frauen haben seltsam verwuschelte Dauerwellfrisuren, die Männer zischen ihr Feierabendbier und blättern in der Bild-Zeitung. Wir mögen das, wir genießen die Ruhe in der ruckelnden Bahn und freuen uns auf unsere Gärten.
Angekommen, schaue ich mich nach einem kalten Winter im Prenzlauer Berg auf meinem vernachlässigten Grundstück um. Tatsächlich, alles Werden und Vergehen vollzieht sich wie in jedem Frühling. Ein Lavendel ist erfroren, auch eine Rose. Aber die Johannisbeeren haben schon stecknadelgroße Beerendolden angelegt, und die Himbeersträucher haben unterirdische Triebe gebildet, die der effektiven Ernte abträglich sind und deshalb von mir brutal gekappt werden. Ich hocke mich ins Beet und rufe mit der Gartenschere drei Stunden lang die Natur zur Ordnung, anschließend binde ich die Triebe hoch – jetzt könnt ihr wachsen, liebe Himbeeren.
Dort zu knien, den schreibtischfaulen Rücken zu spüren, den Wind in den Haaren und den märkischen Sand zwischen den Zähnen – das ist das Glück in Tüten. Und auf keinen Fall etwas, was sich im innerstädtischen Raum erleben ließe. Außer natürlich, man arbeitet beim Grünflächenamt. Klar sieht man im Prenzlauer Berg sensationell bepflanzte Balkone. Sicher gibt es auch umwerfende Dachterrassen – aber die sieht ja keiner außer den Besitzern, und mehr als hundert Quadratmeter wird wohl kaum eine davon messen. Nein, das Wühlen in der Erde, das Hinundherlatschen zwischen Kompost, Keller und Beet, das Weiträumige und Müßige, das alles sind Dinge, die ich so nur zu Hause finde.
Denn zu Hause ist das hier inzwischen tatsächlich geworden. Auch ohne guten Latte macchiato to go, Sushi-Restaurants und Spätverkaufsstellen. Dass dies hier der zu mir passende Ort ist, diese Erkenntnis kommt mir mal wieder beim Grubbern im Gemüsebeet. Eine Erkenntnis, für die ich Jahre gebraucht habe. Denn machen wir uns nichts vor, der Wegzug vom Prenzlauer Berg in die brandenburgische Pampa war ein soziales Experiment, an dessen Erfolg ich immer wieder aufs Neue gezweifelt habe. Sei es, weil Ende der Neunzigerjahre dieses platte, karge Bundesland über ein handfestes Neonaziproblem verfügte. Weil ich arrogante Großstädterin befürchtet hatte, dass in Sachen Kita und Schule hier noch der DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker gehuldigt würde. Oder weil meine brandenburgischen Grundstücksnachbarn gartenfaschistoid Tulpen und Rosen in Reih und Glied zwischen Waschbetonwege pflanzen würden.
Tatsächlich war alles genau so, wie ich es befürchtet hatte. Und doch wieder ganz, ganz anders – wie eigentlich immer, wenn Vorurteil auf Wirklichkeit trifft. Die Glatzen mit den Stecknadelaugen gab und gibt es tatsächlich, sie waren und sind furchterregend. Jedoch sind sie bei Weitem nicht so viele, dass der Wochenendbesuch aus der Stadt ihrer ansichtig würde und deshalb immer mal wieder nachfragt, wo denn nun hier die Nazis blieben. Kitas und Schulen waren genauso schlecht und gut wie in Berlin, aber wie überall in diesem Land gibt es ja die Möglichkeit zu wechseln. Und die Nachbarn? Die sind okay. Irgendwann entwickelte ich eine absolute Gleichgültigkeit ihren Vorstellungen von geordneten Gartenverhältnissen gegenüber. Was geht mich das an? Sie halten sich ja auch mit ihrer Meinung zurück, wenn bei mir mal wieder der Rasen zu versteppen droht. Jeder nach seiner Fasson, das hat schon der Alte Fritz gesagt, und so halten wir Brandenburger es immer noch miteinander.
Und weil eben dieser Rasen dringend eines Schnittes bedarf und mein zwölf Jahre alter Mäher nur noch unter stotterndem Getöse seinen Dienst versieht, mache ich mich auf in das soziale Zentrum jeder Kleinstadt: den Baumarkt. Was im Prenzlauer Berg der Spielplatz oder der Biomarkt ist, das ist hier die Welt der praktischen Dinge. Nach meinen ersten urbanen Wochen zwischen gut gestylten Menschen, Macchiatodestillen und Schnickschnackläden namens »Kaufrausch« ist der Besuch des Baumarkts eine Art Hinüberzoomen in die wirkliche Welt mit wirklichen Menschen und wirklichen Gärten und Häusern. Hier geht’s ums Praktische, nicht um die Pose. So etwas wie den in Innenstadtlagen beliebten Schmetterlingslavendel oder die empfindliche Ranunkel sucht man hier vergeblich. Hier gibt’s zwanzig Regalmeter Geranien (stehend und hängend), Fuchsien, Tomatensetzlinge, Rattenfallen, Grubber und Erdbeerfolie. Und natürlich eine große Auswahl an Rasenmähern, von denen einer, der mir gefallen könnte, erfreulicherweise im Angebot ist.
Ich schaue mir die Kerndaten des Geräts an. 37 Zentimer Messerbreite, 40 Liter Fangkorbvolumen, fünffache Schnitthöhenverstellung und dann noch um 20 Prozent preisgesenkt – da kann man nicht meckern. Während ich sinniere und ein bisschen am Startknopf herumspiele, gesellt sich ein Landsmann zu mir, um die Vor- und Nachteile dieses Rasenmähers zu erörtern. »Schön leicht ist der«, spricht er mich an, »das is was für ’ne Frau wie Sie, da muss Ihr Mann nich mähen.« Ich schaue ihn an. Der genderungeübte Herr ist eines jener brandenburgischen Exemplare, wie man sie hier häufiger trifft: gut genährt, ausgestattet mit jeder Menge Zeit und entsprechend gesprächig. Für den Ausflug in die Öffentlichkeit hat er seinen besten Adidas-Jogginganzug übergestreift: schwarz mit güldenen Streifen.
Er ist ein Klischee auf zwei Beinen, natürlich. Aber ich bin so gottfroh, dass er mich anquatscht! Weil das eben bei mir zu Hause so ist, so handfest. Wir Brandenburger reden nicht über den neuesten Experimentalkinofilm, nicht über Luhmann oder den Aufmacher des FAZ-Feuilletons. Wir reden über das Preis-Leistungs-Verhältnis von Rasenmähern in zupackenden Frauenhänden. Und das, genau das habe ich gesucht, als ich einst die Hauptstadt verlassen habe. Weniger Selbstinszenierung, mehr Erdung, das, was man im Allgemeinen unterkomplex nennt. Ich kaufe diesen wunderschönen Rasenmäher, der goldgestreifte Mann hievt ihn mir auf den Transportwagen, und die Kassiererin mit der pink-schwarzen Frettchenfrisur gratuliert mir zu meiner Entscheidung.
Wieder zu Hause angekommen, düse ich mit dem Mäher übers Grundstück. Achthundert Quadratmeter bei siebenunddreißig Zentimeter Messerbreite – das dauert. Kann es auch, soll es sogar. Stumpfe Arbeit, Motorenlärm, großflächiger Erfolg: Am Ende liegt der Rasen wie ein sauber rasierter Igel vor mir. Ich koche einen Kaffee, setze mich raus ins Grüne, bin zufrieden und beschließe, heute ausnahmsweise mal über Nacht am Stadtrand zu bleiben und die Einladung von Bekannten aus dem Ort zum Grillen wahrzunehmen.
Punkt acht Uhr sitzen wir alle ums Feuer. Das Spalierobst an der Loggia kämpft gegen seine Drähte, im Kräuterbeet lugen Liebstöckel und Petersilie in die Dämmerung. Sechs Erwachsene trinken Bier und Met, essen Bratwürste und Salat, und gegen Mitternacht gibt’s dann noch ein ordentliches Stammtischgespräch über Politiker im Allgemeinen, blöde Wessis im Besonderen sowie die Untauglichkeit der Demokratie. Mein Mann und ich versuchen, unter dem beträchtlichen Einfluss von Alkohol die zweifellos unvollkommenen, aber bislang alternativlosen Vorzüge des westdeutschen Gesellschaftssystems zu verteidigen. Hätten wir bloß den Mund gehalten. Unsere Brandenburger Mitbürger legen immer entschiedener ihre Sicht der Dinge dar. Politiker – alles Raffkes. Westler – auch Raffkes, nur dümmer. Demokratie – da war es ja in der DDR mit ihrer kommoden Diktatur noch besser.
Ich werde zusehends stiller und denke an meinen schönen Nachmittag im Baumarkt, als ich mich aus ganzem Herzen über die handfeste Unterkomplexität gefreut habe. Dieser Abend am verglimmenden Feuer ist eine weitere Lektion in Demut. Die braucht man nämlich, wenn Vorurteil auf Wirklichkeit trifft. Egal ob man von der Hauptstadt in die Pampa zieht oder ob man – wie ich – in den Prenzlauer Berg geht und dort das Wesen und Wirken eines gentrifizierten Stadtbezirks zu erkunden versucht. Am nächsten Morgen mache ich mich ganz fix wieder auf in die Innenstadt. Frühling gibt’s auch dort.