Blut, Schweiß und Freudentränen
Der Fencheltee dampft aus der Thermoskanne. Die Sofakissen sind dick, fluffig und dunkelrot. Ruhig liegt der Pezzi-Ball in seiner Ecke. Es ist alles immer noch so wie damals im Geburtshaus Prenzlauer Berg. Wunderbar.
Vor achtzehn Jahren hatte ich in diesen Räumen eine ziemlich bewegte Nacht. Um genau zu sein: Hier habe ich einen Zwölf-Stunden-Marathon absolviert, den man beschönigend Geburt nennt. Es war mächtig was los, ein großes Gestöhne, Getöse und Gewarte, schmerzhafte Wehen, unterbrochen von meinen immer wiederkehrenden Stoßseufzern. Wie lange das denn noch dauere mit dieser Geburt, fragte ich. Ob die Hebamme dieses Martyrium nicht mal eben für ’ne halbe Stunde homöopathisch unterbrechen könne, winselte ich. Und warum, verdammt, der künftige Vater denn bitteschön fast einschlafe, während ich direkt neben ihm den Streckenkilometer 37 absolviere. Unvergessliche, oberwichtige, megaemotionale Stunden, an deren Ende ein winziges zusammengekrümmtes Mädchen am Horizont des Lebens erschien. Wow!
Damals war die Option Geburtshaus eine viel diskutierte Sache. Meine Mutter, die künftige Oma also, schlug die Hände über dem Kopf zusammen bei dem Gedanken, dass ihre Tochter ein so gefährliches Abenteuer wie Kinderkriegen in einer finsteren Parterrewohnung im Prenzlauer Berg zu bestehen beabsichtigt. »Dafür gibt’s doch Krankenhäuser«, barmte sie, »Hebammen sind doch keine Ärzte. Was ist, wenn was schiefgeht? Das würdest du dir nie verzeihen.« Nun, da hatte sie, Mutter von drei Kindern, wohl recht. Aber meine erste Geburt unter realsozialistischen Bedingungen in einer Ostberliner Klinikfabrik war derart traumatisierend verlaufen, dass ich unter den neuen, auch körperpolitisch befreiten Gegebenheiten fest entschlossen war, das Kind diesmal auf meine Weise zur Welt zu bringen.
Der Vater und ich absolvierten brav den Vorbereitungskurs, bei dem zwanzig Erwachsene auf Sisalmatten lagerten, Männer wie Frauen gemeinsam Atemtechniken erlernten und die schwangeren Väter angehalten wurden, »die Partnerin zu spüren«. Wir putzten unsere Wohnung, räumten eine Ecke fürs Körbchen frei und lasen der großen Schwester allerlei pädagogisch wertvolle Bücher vor, in denen sie schon mal darauf eingestimmt wurde, dass in ihrer Familie demnächst eine knallharte Geschwisterkonkurrentin eintreffen würde. Schließlich kauften wir einer Freundin ihren gebrauchten Teutonia-Kinderwagen ab, von dem wir geduldig die Sabberspuren des kleinen Vorbesitzers entfernten. Und als es dann tatsächlich losging, als die Nacht der Nächte anbrach, lief alles genau so ab, wie Mutter Natur das seit Millionen Jahren vorsieht. Nämlich schmerzhaft, zäh und – bis auf das Ergebnis – alles andere als beglückend.
Was bin ich froh, dass es damals noch keine Internetforen gab, in denen unbekannte Frauen einander die blutigsten und schleimigsten Details ihrer Niederkunft berichten. Da ist vom »MUMU« die Rede, was eine Abkürzung für Muttermund ist, »der drei Zentimeter offen und butterweich ist«. Von einem »Peng-Platsch, als die Fruchtblase platzt«, von der »alten Naht vom Dammschnitt, die aufreißt wie ein Reißverschluss«. Später kommen in diesen Intimbeichten dann Neugeborene vor, die »nach Fruchtwasser und Blut« riechen, sowie Nachgeburten, die vom Vater in die mitgebrachte Kühltasche verfrachtet werden, um sie zeitnah unter einem Bäumchen vergraben zu können. Und es tauchen natürlich und immer wieder gern Hebammen auf, die wahlweise »Hebi«, »Hexe«, »Retterin« oder »Stümperin« genannt werden.
»Kurz nach ein Uhr«, so der anschauliche Online-Geburtsbericht einer Geschlechtsgenossin, »Pausen zwischen den Wehen gibt es kaum noch. Schnell noch mal pieseln, reichlich Blut dabei. Ich weiß nun, dass es nicht mehr lange dauern kann. Wieder auf dem Bett geht der restliche Schleimpfropf ab. Plötzlich muss ich schieben. Drei Presswehen, der Kopf ist am Damm. Noch eine Wehe, die mir unendlich lange vorkommt: Der Kopf ist geboren. Endloses Warten auf die letzte erlösende Wehe: Toni ist endlich da. In intakter Fruchtblase wie schon ihre große Schwester.«
Mal ehrlich, wer will das wissen? Soviel ich weiß, vergisst das Internet nichts und niemals. Allein die Vorstellung, dass die hier beschriebene Toni dereinst im digitalen Nachlass ihrer Frau Mama stöbern könnte und sich dabei in äußerst privaten schleimpfropfigen Zusammenhängen dargestellt fände, ist doch eher beunruhigend. Und das Posting einer Online-Mama »Jo, so hätte ich’s mir auch gewünscht: schnell und schmerzhaft« wird Toni später nicht gerade ermuntern, es auch mal mit dem Kinderkriegen zu probieren. Auch ich hätte mich als junge Frau möglicherweise gegen den Exzess einer Geburt entschieden, hätte ich gewusst, was online-affine künftige Eltern darüber heute alles lesen dürfen und müssen. Gott sei Dank hat Mutter Natur in jede Gebärende auch eine Deponie eingebaut, in die sie die Erinnerungen an ihre Entbindung verklappen kann; gäbe es die nicht, würde sich keine Frau bereitfinden, mehr als ein Kind zu gebären.
Sei’s drum, hier im Geburtshaus geht es an diesem Abend keineswegs um Blut, Schweiß und Freudentränen. Sechs werdende Eltern sind zum Informationsabend gekommen: zwei Paare und zwei alleinreisende Frauen. Ich höre zu, wie die beiden Hebammen den neugierigen Besuchern ihren Job erklären. Wie sie vom »Raumgeben für das Baby« sprechen, von Kennenlernen und Zusammenarbeiten, Wärme geben und Zeit lassen.
Zeit ist das Zauberwort – das weiß ich, seit ich bei meiner ersten Entbindung erlebt habe, was es heißt, wenn eine Hebamme keine Zeit für ihre Patientin hat. Ich wartete allein und schmerzzerschlissen Stunde um Stunde in einem neonbeleuchteten, weißgekachelten Raum darauf, dass sich entweder mal jemand um mich kümmert oder – noch besser – dass das Kind endlich kommt. Gegen Ende dieser Folter kehrte sich ohne Vorankündigung das Zeitkontinuum komplett um, alles musste plötzlich ganz schnell gehen. Nach dreißig Stunden Wehen wurde meine Tochter in einem Gewaltmarsch von zwanzig Minuten geholt. »Geboren« würde ich das wirklich nicht nennen, was sich da unter Geschrei in einem Ostberliner Krankenhaus vollzog.
Heute ist das Gott sei Dank anders. Die Hebammen hier verfügen über reichlich Zeit für Männer, Frauen und Kinder. Sie zeigen den neugierigen Elternaspiranten die Geburtszimmer, in denen es terrakottafarben und kiefernholzig zugeht und wo nur das CTG-Gerät auf dem Nachttisch stumm davon kündet, dass es in diesen Räumen Tag für Tag mächtig zur Sache geht. Nur ganz leise wehen mich meine eigenen Erinnerungen an diese Nacht im Mai noch an. Tausendmal besser war das als in der Ostberliner Kachelfabrik. Aber machen wir uns nichts vor: Ein Kind zu gebären ist, wie eine Kokosnuss zu kacken. Mein süßes Verdrängen ist umso erstaunlicher, als ich in den ersten Jahren nach der Geburt bei diesem Thema heulend in Schnappatmung verfallen bin – selbst dann noch, wenn ich im Fernsehen eine Schauspielerin sah, die sichtlich aus rein dramaturgischen Gründen nur so tat, als gebäre sie. Wie gesagt, das Vergessen hat Mutter Natur klug eingefädelt.
Eine erstgebärende Interessentin schaut nun versonnen auf die blank gewienerte Geburtsbadewanne. Man sieht: Sie hat sich schon entschieden, sie will ihr Kind genau hier zur Welt bringen. Da wäre nur eine Kleinigkeit: »Ich möchte meine Mama, meine Schwester und meine Schwiegermutter mitbringen. Ach so, und ihn hier natürlich auch«, sagt sie und deutet auf ihren sehr sympathisch aussehenden Mann. »Geht das? Also so was wie ’ne Geburtsparty?« Die Antwort ist relativ naheliegend. Das Zimmer hat schätzungsweise vierzig Quadratmeter inklusive Toilette, Wanne, Doppelbett und dem guten alten Pezzi-Ball. Würden hier sechs Leute herumschwirren, gäbe das ein nicht nur logistisches, sondern garantiert auch ein gruppendynamisches Fiasko. Aber die Hebamme nickt und sagt begütigend: »Darüber können wir ja noch mal reden.« Und ich denke: Party? Was für ’ne Party? Das hier, Schätzchen, wird ein Marathonlauf. Und du wirst verdammt froh sein, wenn du endlich das Ziel erreicht hast und die Kokosnuss auf der Welt ist.