Das Sommergras fühlte sich frisch an unter Sabihas bloßen Füßen. Von Lichtflecken besprenkelt, saß sie unter einer Trauerweide. Der riesige alte Baum ragte weit über den Fluss, sein Blätterdach warf flirrende Schatten auf das funkelnde Wasser, dessen Lauf zu stocken schien. Enten schwammen vorbei und sahen sich neugierig um. John Patterner lag hinter Sabiha auf dem Rücken, die großen Hände unter dem Kopf verschränkt. Er blickte sie mit halb geschlossenen Augen an, während sie die leuchtend grünen Gräser betrachtete, die im Wasser trieben, und sich ausmalte, sie wären die Schwanzspitzen exotischer Fische. Sie brach ein weiteres Stück vom Baguetterest ab und zerbröselte das weiche Brot zwischen ihren Handflächen. Die Krümmel warf sie schwungvoll ins glitzernde Wasser. Das Entenpaar paddelte gemeinsam mit seinen fünf Küken darauf zu. Mit angezogenen Knien beobachtete Sabiha, wie die Enten ihre milde Gabe verzehrten. Vom Fluss kam kühle, im Schatten der Weide fast schneidende Luft auf, als trüge das Wasser die Nacht bereits in sich. Sabiha umschlang ihre Knie noch fester.

Hinter ihr erklang leise die Stimme von John Patterner. »Ich liebe dich.«

Sie drehte sich zu ihm. »Hör damit auf. Wie soll man jemanden lieben, den man kaum einen Tag kennt?«

»Ich habe dich schon immer gekannt.«

Über diesen Satz musste sie lächeln, denn darin steckte für sie beide eine ganz eigene Wahrheit. Schon immer, tatsächlich. Ihre Zugfahrt war unendlich lange her. Die beiden, die am Morgen im Abteil noch wie Fremde nebeneinandersaßen, hatten nichts mit den beiden zu tun, die nun am Flussufer unter den Weiden lagen. Bevor sie die Kathedrale betraten, hatte er sie zurückgehalten und die feierlichen Worte gesprochen: »Durch dieses Tor führt der Weg zum ewigen Leben.« Da Sabiha ihn noch kaum kannte, fragte sie: »Sind Sie religiös?« John erzählte ihr, dass seine Mutter zwar eine katholische Erziehung genossen hatte, Religion für sie aber keine Rolle mehr spielte, seit sie mit seinem Vater zusammen war. »Und du?«, fragte er. Stolz erzählte sie ihm vom politisch-sozialen Engagement ihres Vaters, der ein überzeugter Atheist war. »Ich habe noch nie eine Moschee von innen gesehen.«

»Du strahlst in diesem Licht«, sagte er.

Sie hob den Kopf, schob sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn, dann schloss sie die Augen und zitierte in ihrer Muttersprache: »Mein ist die Farbe von Wüstensand bei Sonnenuntergang.«

Er war von ihr beeindruckt, entzückt vom geheimnisvollen Klang ihrer Sprache. »Wie schön sich das anhört«, sagte er. »Was bedeutet es?«

Sie übersetzte es ihm. »Aber diese Wörter haben im Arabischen eine Bedeutung, die sie im Französischen nicht besitzen. Auf Französisch bedeuten sie etwas anderes. Bedeuten sie nicht so viel.« Diese Wörter hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, der Mutter ihrer Mutter. Es war die erste Zeile eines uralten Liedes. Seine Bewunderung brannte ihr wie Sonnenlicht auf der Haut, und sie hätte ihm das Lied gern vorgesungen, aber sie traute sich nicht.

»Ich werde immer nur dich lieben«, sagte er ernst.

Sie lachte ihn aus. »Wie kannst du dir da so sicher sein? Eines Tages lernst du vielleicht eine wunderschöne Frau kennen, die dir den Kopf verdrehen wird.«

»Das ist kein Spaß«, sagte er und streckte den Arm aus, um sie sanft zu sich hinunterzuziehen.

Sie ließ sich widerstandslos neben ihn ins Gras fallen. »Eines Tages singe ich dir meine Lieder vor.«

Er nahm sie in die Arme. »Ich werde deine Sprache lernen«, sagte er, »damit ich sie verstehe.«

Es gefiel ihr, seinen kraftvollen Körper zu spüren.

»Meine Sprache ist für dich zu schwierig. Du wirst sie nie verstehen«, sagte sie. »Fang besser gar nicht erst an.«

Schweigend hielten sie sich in den Armen, über ihren Köpfen rauschten die Weidenblätter im Wind.

»Nie wird es für mich eine andere geben als dich, Sabiha. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«

Sie äußerte sich nicht zu seinem tiefen Ernst, seinem Wunsch, sie zu überzeugen, seinem Bedürfnis, zwischen ihnen ein festes Band zu knüpfen. Was er sagte, machte sie glücklich. Aber es war zu viel. Es war zu früh. Das bedrückte sie. Sie wollte es hören und auch wieder nicht. Vor allem wollte sie mit ihm lachen. Mit ihm rennen und Verstecken spielen, wie Kinder rennen und Verstecken spielen und sich gegenseitig necken. »Deine Augen haben die gleiche Farbe wie die von Tolstoi«, sagte sie.

Das brachte ihn zum Lachen. Er nahm ihre Hand und küsste die Fingerspitzen. »Und woher weißt du, was Tolstoi für eine Augenfarbe hatte?«

»Du kannst dich nachher selbst überzeugen. Tolstoi ist der alte Windhund unseres Vermieters. Seine Augen haben in weite Ferne gesehen, wie deine. Seine Vorfahren haben in der russischen Steppe Wölfe gejagt.« Sie küsste ihn rasch auf die Wange und fügte hinzu: »Gehört das vielleicht auch zu Ihren Fertigkeiten, Monsieur Patterner – Wolfsjagd in der australischen Steppe?«

Er beugte den Kopf zu ihr, und ihre Lippen trafen sich zu einem langen, innigen Kuss. Danach blieben sie Seite an Seite im Gras liegen und hielten sich bei der Hand.

Sabiha zog ihre Hand zurück, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn an. »Du hast mir noch nicht gesagt, warum du nach Schottland fahren wolltest.« Ob er schließlich doch fahren würde?, fragte sie sich. Oder hatte er jetzt wirklich alle seine Pläne umgeworfen?

Er machte die Augen auf. Über ihrem Kopf bewegten sich die hängenden Weidenzweige in der Brise, vor und zurück, wie die smaragdgrünen Gräser im Fluss. »Wir könnten für immer hierbleiben«, sagte er. »Wir könnten einfach aus unserem alten Leben verschwinden und hierbleiben. Nur wir zwei, bis ans Ende unserer Tage.«

»Houria wäre außer sich vor Sorge. Ich würde ihr fehlen.« Sabiha strich ihm über die Wange. Sie war rau und stoppelig. »Du hast dich heute Morgen nicht rasiert, bevor du zu mir gekommen bist«, warf sie ihm spielerisch vor.

»Ich hatte es eilig. Macht es dir was aus?«

»Mir gefällt es. Hast du denn niemanden, der sich sorgen würde, wenn du verschwindest?«

Er überlegte kurz. »Meine Mutter. Dad natürlich. Meine Schwester vielleicht auch. Und ein besonders enger Freund. Sonst niemand, glaube ich.«

»Du bist so ernst«, sagte sie. »Warum bist du überhaupt von zu Hause weggegangen, und auch noch so weit weg, wenn sie dich vermissen? Warum wolltest du nach Schottland? Du hast mir ja noch gar nichts erzählt.«

Er lachte. Wie sollte er ihr sein Bedürfnis erklären, Australien zu entkommen? Sein Gefühl, dort allenthalben zu ersticken? Sein Französisch reichte dafür nicht aus. Seine Sehnsucht nach einem Anderswo – wie sollte er ihr das begreiflich machen? Dass er sich von dieser Sehnsucht um die halbe Welt hatte treiben lassen. »Das machen alle so«, sagte er. »Australier jedenfalls.« Er hatte nicht nur nach Schottland fahren, sondern auch vor sich selbst davonlaufen wollen. Wenn er ihr das erzählte, würde sie ihn vielleicht für einen wankelmütigen Menschen halten. »Ich habe einen guten Freund, der in Glasgow geboren wurde«, führte er aus. »Harold Robinson. Früher war er Bibliothekar an meiner Schule. Ein alter Mann. Harold war schon immer ein alter Mann. Seit ich ihm zum ersten Mal begegnet bin. Er sammelt Bücher über Schottland und lebt inzwischen in Melbourne. Er ist schon seit langem im Ruhestand. Als ich ein Junge war, hat er mir alles über Schottland erzählt. Wir sind seit meinem dreizehnten Lebensjahr befreundet. Ich wollte das Land kennenlernen, aus dem er stammt.«

Sabiha fuhr ihm mit den Fingern über die Lippen, beugte sich vor und streifte sie mit dem Mund, dann zog sie sich neckisch zurück. »Ich wünschte, wir könnten die ganze Nacht hierbleiben. Nicht für immer. Nur diese eine Nacht. Und den Mondaufgang betrachten.« Wieder berührte sie seine Lippen, dann die unrasierten Wangen und seine Stirn, fuhr mit dem Zeigefinger über seinen Nasenrücken. »Eine stattliche Nase hast du da, John Patterner«, sagte sie. »Stark und stolz. Bist du sicher, dass du nicht eher zu uns gehörst?«

Er schloss sie in die Arme und küsste sie.

Sie spürte ein Flattern im Bauch und dachte an das Kind, das in ihr geborgen war. Sie schnappte nach Luft, und schlagartig kamen ihr die Tränen.

Er zog sich zurück. »Was ist los? Was hast du? Habe ich etwas falsch gemacht? Es tut mir so leid, Sabiha.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du kannst nichts dafür. Es ist nichts.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Ich bin einfach glücklich. Ich weine oft. Meistens weiß ich gar nicht, warum.« War dieser Mann dazu bestimmt, der Vater ihres Kindes zu werden? War er für ihren Körper geschaffen? Plötzlich hatte sie Angst, ihn zu verlieren. Wenn sein Verlangen nachließ, wenn sich die Stimmung zwischen ihnen trübte, wäre er auf der Stelle weg, würde seine Reise fortsetzen, und sie würden sich nie wiedersehen. Sie drückte ihn fest an sich und fuhr ihm mit beiden Händen über die Seiten. »Du bist so schön, John Patterner!« Nachdem sie ihn stürmisch auf den Mund geküsst hatte, ließ sie ihn unvermittelt los, beschämt über ihr plumpes Vorgehen.

Lächelnd strich er ihr über die Wange. »Du bist verrückt«, sagte er sanft. »So gefällst du mir besonders.«

»Wirklich? Meinst du das ernst?«

»Ich liebe dich.« Er küsste ihre Lippen. »Komm jetzt! Sonst verpassen wir den Zug. Und zieh deine Schuhe an. Ich habe deiner Tante versprochen, dich vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurückzubringen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Uns bleiben sieben Minuten, um den Bahnhof zu erreichen.«

Sie setzte sich auf und zog ihre Schuhe an. Sie wollte, dass das, was sich zwischen ihnen abspielte, echt war und kein bloßer Traum.

Er erhob sich, streckte ihr die Hand entgegen und half ihr auf.

»Das ganze Leben liegt noch vor uns«, sagte er.

Händchenhaltend liefen sie über die Brücke. »Was werden wir tun?«, fragte sie. Offenbar hatten sie ihren Bund tatsächlich schon geschlossen. Das erschreckte und erfreute sie zugleich. »Ich bin glücklich«, sagte sie in der Hoffnung, dass es stimmte, und küsste ihn auf die Wange.

»Wir werden ein herrliches Leben haben«, sagte er. »Wie immer es auch aussehen wird. Ich weiß es einfach. Egal, was wir tun.«

Auf dem Weg zum Bahnhof liefen sie quer durch die Stadt und umrundeten den Kathedralenhügel. Als sie zu rennen anfingen, wurde ihr Lachen über den Hügel in ihrem Rücken davongetragen.

*

Als sie die beiden durch die Cafétür treten sah, dachte Houria zufrieden, dass auf John Patterner wirklich Verlass war. Der Australier beteiligte sich sogar an ihrem ersten Samstagsessen im Chez Dom, machte sich nützlich, indem er Tische und Stühle umstellte, Kaffee und Wein servierte und schnell auf unvorhergesehene Erfordernisse reagierte. Mit den Gästen kam er gut zurecht, behandelte sie höflich und aufmerksam, und die Männer lächelten über sein eigentümliches Französisch. Houria und Sabiha waren froh über seine Unterstützung, denn es kamen so viele Männer zum Abendessen, dass die Tische und Stühle im Speiseraum des Chez Dom nicht ausreichten. Houria bat John, nebenan bei André zu klingeln und sich zwei Klapptische und ein paar Stühle zu borgen, um alle Gäste unterzubringen. Es gelang ihm ohne weiteres.

Als der letzte Gast gegangen war und sie zu dritt alles aufgeräumt hatten, saßen sie im kleinen Wohnzimmer unter der Treppe zusammen, tranken Kaffee mit einem Schlückchen Cognac und freuten sich über den enormen Andrang, den sie mit vereinten Kräften so erfolgreich bewältigt hatten, als wären sie schon immer ein Team gewesen. Houria zählte die Einnahmen und wollte John für seine Arbeitszeit entlohnen, aber das lehnte er rundheraus ab. Es gefiel ihr, dass ihn dieses Ansinnen so offensichtlich beleidigte. Als er sich schließlich von der Couch erhob, um in Madame du Bartas’ Pension zurückzukehren, war es nach ein Uhr morgens. Zum Abschied drückte Houria ihm den Arm und lud ihn gleich zum Frühstück ein. »Komm aber ja nicht zu früh«, sagte sie.

Sie und Sabiha blieben in der Tür stehen und sahen ihm nach, als er über die menschenleere Straße zum Platz ging. Er wandte sich im Laternenlicht um und winkte ihnen, und sie winkten ebenfalls. Houria sagte: »Es kommt mir irgendwie falsch vor, ihn so spät noch wegzuschicken, so ganz allein.«

Kaum war er außer Sichtweite, gingen sie hinein und schlossen die Cafétür ab. Houria sah ihre Nichte an, und sie umarmten sich. »Was für ein feiner Mensch«, sagte sie. »Es war schön, mal wieder einen Mann im Haus zu haben.« Dann vergossen sie beide ein paar Tränen, vor lauter Erschöpfung und Aufregung. Nach diesem langen fordernden Tag tat ihnen das Weinen gut.

Nur eines trübte in Sabihas Augen das perfekte Bild. Nachdem sie beide nach oben gegangen waren und sich gute Nacht gewünscht hatten, blieb sie vor der Schlafzimmertür ihrer Tante stehen und sagte bekümmert: »Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll.«

Lächelnd antwortete Houria: »Versuch bloß nicht, heute Nacht deine Zukunft zu planen, mein Schatz. Es wird sich schon alles fügen, und sicher ganz anders als erwartet.«

Und so legten sich beide hin und blieben in ihren Zimmern noch lange wach, weil ihnen alles Mögliche durch den Kopf ging. Houria schlief schließlich zuerst ein – Sabiha hörte sie durch die geschlossene Tür hindurch schnarchen. Dann nickte auch sie ein. Sie träumte, sie läge zu Hause in El Djem in ihrem eigenen Bett und neben ihr schliefe ihre Schwester Zahira. Der Lichtstreifen, der unter der Tür durchkam, beruhigte sie wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war, denn das bedeutete, dass ihr lieber Vater noch wach war und eines seiner Pamphlete für die Arbeiterbewegung verfasste. Sie wollte aufstehen und zu ihm gehen und ihm die Arme um die Schultern legen und ihn auf die unrasierte Wange küssen und ihm sagen, dass sie glücklich war. Aber sie konnte sich nicht rühren.