Fast vierzig Jahre zuvor war ich mit Marie in El Djem gewesen. Ich wollte vor Ort für ein Buch recherchieren. Wir waren in Sidi Bou Said abgestiegen und fuhren von dort nach El Djem, um uns das Amphitheater anzusehen. Auf dieser Reise wurde Clare gezeugt. Möglicherweise just in der einen Nacht, die wir in El Djem verbrachten. Marie hatte mich mitten in der Nacht geweckt. Es war sehr heiß. Es gab weder Ventilator noch Klimaanlage. Ich war völlig verschwitzt. Sie war in Panik geraten. Sie packte mich und kreischte mir ins Ohr: »Da ist ein Tier auf dem Nachttisch!« Es war stockfinster, und ich stellte mir eine große, behaarte Kreatur mit blitzenden Reißzähnen vor. »Schon gut!«, sagte ich. »Lass mich los, damit ich das Licht anmachen kann.« Es war kein Nagetier, sondern eine Kakerlake. Sie war riesig. Sie streckte mir die Fühler entgegen wie ein außerirdisches Wesen, das meine Gedanken entschlüsseln wollte. Ich machte sie mit meiner Schuhsohle platt. Das hatte sie nicht kommen sehen.

Nach diesem Drama waren wir beide zu aufgeregt, um wieder einzuschlafen, zumal die Hitze immer noch so drückend war. Stattdessen liebten wir uns im Bad. Es war himmlisch. Ich habe es bis heute nicht vergessen. Auch das prachtvolle Bad nicht. Antik, vielleicht sogar noch aus der römischen Zeit, aus einem einzigen Block massiven weißen feingeäderten Marmors gehauen. Der einzige kühle Ort weit und breit. Sabiha musste damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein und befand sich irgendwo in jener Stadt, in der Marie und ich unsere Tochter schufen. Am nächsten Morgen fuhren wir auf dem Rückweg nach Sidi Bou Said an einem Bautrupp vorbei. Ein halbes Dutzend Männer mit Spaten und Pickel über der Schulter, die sich am Straßenrand zusammendrängten, als wir sie passierten. Der weiße Staub lag fingerdick auf ihren Schnurrbärten. Ich stelle mir gern vor, dass ich an jenem Tag Sabihas Vater gesehen habe, dass unsere Blicke sich kreuzten und wir uns auf diese Weise ganz flüchtig verständigten. Natürlich fällt es mir nach so langer Zeit schwer zu unterscheiden, was Tatsache ist und was Einbildung. Marie hatte mir oft vorgeworfen, dass ich mir alles immer nur ausdachte und nicht in der Lage sei, ein einziges wahres Wort von mir zu geben. »Es gibt da dieses Gen«, hatte sie zu mir gesagt. »Das Wahrheitsgen. Sie werden es eines Tages entdecken. Aber bei dir werden sie garantiert nicht fündig, das weiß ich jetzt schon.«

Eines habe ich mir jedoch ganz bestimmt nicht ausgedacht, nämlich die Tatsache, dass unser Fahrer danach anhalten musste, um eine Gruppe von Berbern durchzulassen, die auf ihren Kamelen an uns vorbeiritten. Die Straße war gerade mal breit genug für je eine Fahrspur in beide Richtungen, die Ränder bröckelten. Zu unserem Glück herrschte nicht viel Verkehr. Die Berber ritten einfach quer über die Straße, ohne sich nach links oder rechts umzusehen oder unser Auto auch nur eines Blicks zu würdigen, so dass es sich anfühlte, als wären entweder sie nicht vorhanden oder wir. Die Frauen trugen keinen Schleier, sondern reich bestickte Hauben, ihre Sicht auf die vertraute Landschaft wurde von klimpernden Münzen und Silberanhängern gerahmt. Wie hochmütig sie waren. Erhaben. Reisten auf eigenen Wegen, die sie von alters her kannten, vermutlich lagen sie ihnen im Blut. Sie waren ungeheuer beeindruckend und nicht von dieser Welt. Ihr unerwartetes Auftauchen in der menschenleeren Umgebung ließ uns und das Auto auf dem schmalen Asphaltstreifen hinfällig werden, ohne Bestand. Während sie so majestätisch an uns vorbeizogen, schämten wir uns ein wenig unserer Existenz. Sie, die Berber, begnügten sich mit dem, was die karge Landschaft hergab. Begleitet wurden sie von gefährlich wirkenden scheckigen Hunden, und der Fahrer sagte, wir sollten zum Fotografieren besser nicht aussteigen.

El Djem kannte ich also. Nicht sehr gut, aber immerhin war ich an Sabihas Geburtsort gewesen. Mir war nicht ganz klar, warum ich es John nicht erzählt hatte. Von ihm wusste ich, dass er nie dorthin gefahren war.

Drei Wochen hatte ich ihn schon nicht mehr gesehen. Das war ungewöhnlich. Jeden Samstag ging ich ins Schwimmbad und zog meine zwanzig Bahnen, und abends geisterte ich in der Bibliothek herum. Aber ich traf ihn nirgends an. Sabiha gab mir das Gefühl, aufdringlich zu sein, wenn ich beim Kauf von Keksen und anderem Gebäck auf John zu sprechen kam, und so traute ich mich nicht, sie rundheraus nach dem Verbleib ihres Mannes zu fragen.

Ich hatte eine unruhige Nacht verbracht. Keine Alpträume, sondern Angstzustände. Ein Jucken auf der Brust. Unwillkürlich zuckende Beine. Alle paar Minuten drehte ich mich um. Machte das Licht an, sah auf die Uhr und stellte fest, dass es – kaum zu glauben – immer noch erst zwei Uhr früh war. Ich trank das Wasser aus, das eigentlich für die morgendliche Pilleneinnahme bereitstand. Kurz vor Tagesanbruch schlief ich ein und wachte auf, als die Sonne durch die Jalousien strömte. Ohne John hatte ich nichts zu tun und sah einem weiteren gähnend leeren Tag entgegen. Nachdem ich aufgestanden war, ging ich ins Arbeitszimmer und sah meine Notizen durch. Manches hatte ich mir einfach notieren müssen. Zwar hätte ich seine Geschichte hier und da etwas ausschmücken können, aber in diesem Fall wollte ich nichts hinzuerfinden. Tatsächlich habe ich noch nie gern auf Erfundenes zurückgegriffen, Maries Behauptung zum Trotz, ich sei zur Wahrheit nicht fähig. Meine Fantasie muss mit Fakten gefüttert werden. Ich konnte mir für Johns und Sabihas Geschichte durchaus den einen oder anderen Fortgang vorstellen, aber ich widerstand dem Impuls. Ich wollte von John die wahre Geschichte hören. Ich wollte den Grund für Sabihas geheimen Kummer erfahren. Ich wollte unbedingt die Fortsetzung hören und nahm es John übel, dass er sich nicht an unseren üblichen Treffpunkten blicken ließ.

Ich ging im Bademantel nach unten, so mürrisch und gereizt, dass ich mich zusammenreißen musste. Clare saß wie immer um diese Uhrzeit am Küchentisch, trank Kaffee und las Zeitung. Sie trug ein schickes dunkelblaues Kostüm, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Um es vor Krümeln zu schützen, lehnte sie sich über den Tisch, während sie eines von Sabihas Gebäckstücken aß.

»Warst du etwa schon draußen?«, fragte ich. Sie gab mir keine Antwort, sondern las kauend weiter. Ich schenkte mir ebenfalls eine Tasse Kaffee ein, nahm ein Stück Gebäck und setzte mich ans andere Tischende. Dort starrte ich an Clare vorbei durch die Hintertür auf unseren schmalen Garten, in dem ein einziger Baum stand, eine Weißbirke, die Marie und ich vor über zwanzig Jahren gepflanzt hatten. Mir fiel auf, dass die Trockenheit ihr allmählich zusetzte. Die Triebe starben langsam ab. Marie hatte den jungen Baum gehalten, während ich drum herum die Erde feststampfte. Das war kurz nach unserem Einzug. Clare war damals in ihrem letzten Highschool-Jahr. Ich warf ihr einen Blick zu. Beim Lesen machte sie kleine Geräusche, die je nach Artikel Verblüffung oder Widerwillen ausdrückten. Ohne den Kopf zu heben, fragte sie plötzlich ganz nüchtern und sachlich: »Hast du Mum eigentlich jemals betrogen?«

»Was soll das?« Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Das geht dich nichts an.«

Sie legte die Zeitung aus der Hand und leckte sich den Honig von den Fingern. Dann sah sie mir in die Augen. »Das heißt also ja.«

»Nein. Ich habe deine Mutter nie betrogen.«

»Nie? Kein einziges Mal? Bist du dir da sicher? Komm schon, Dad. Du bist ein Mann, und Männer betrügen nun mal.«

»Wenn sie es tun, tun sie es mit einer Frau. Also betrügen Männer und Frauen gleichermaßen.«

Clare gab mir mit einem verschwörerischen Lächeln zu verstehen, dass ich ihr meine heimlichen Freuden ungestraft anvertrauen dürfe, wenn mir danach sei.

»Kein einziges Mal«, sagte ich mit Nachdruck. Ich biss ein Stück Gebäck ab. »Wir beide werden noch kugelrund, wenn Sabiha die Oberhand behält.«

»Mum konnte einem manchmal ganz schön auf die Nerven gehen«, bemerkte sie.

Ich war erstaunt, das aus Clares Mund zu hören. Auch wenn sie sich als Teenager heftig mit ihrer Mutter gestritten hatte, war ihr Andenken für sie heilig. Ich hatte von ihr bisher noch nie die leiseste Kritik an Marie vernommen.

»Deine Mutter war eine starke Frau«, antwortete ich. »Was sie wollte, hat sie immer bekommen.«

»Manchmal hat sie dir die Hölle heißgemacht.«

»Und dir auch«, sagte ich und dachte daran, wie Marie uns zuweilen getriezt hatte. »Deine Mutter machte jedem mal die Hölle heiß.«

Als wir heirateten, war Marie Sozialarbeiterin. Sie freundete sich mit ihren Klienten an und litt mit ihnen, und das brachte sie oft an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Von professioneller Distanz hielt sie gar nichts. Wenn davon die Rede war, machte sie sich darüber lustig und sagte verächtlich: »Das heißt nur, dass man keine Gefühle zulassen will.« Jahre später kündigte sie aus heiterem Himmel und fing an zu malen und zu zeichnen. Das zog sie zu jedermanns Überraschung konsequent durch und brachte es schließlich zu echter Könnerschaft. Überall im Haus hängen ihre verschatteten monochromen Bilder von Hauseingängen und menschenleeren Straßen sowie die grausigen Selbstporträts, die sie kurz vor ihrem Tod angefertigt hatte, als sie nur noch aus Haut und Knochen bestand: Kohlezeichnungen ihres nackten, ausgemergelten Körpers, hingekritzelt wie Giacomettis letzte Porträts. Das war alles, was sie noch zustande brachte. Diese Zeichnungen hatten etwas Wahrhaftiges an sich, insbesondere die Augen. Abgesehen von denen, die wir rahmen ließen, bewahre ich in der Schreibtischschublade eine Mappe mit mehreren Dutzend ihrer letzten Bilder auf. Wenn ich sie betrachte, erinnere ich mich jedes Mal an Maries Mut, ihren Willen, bis zum Ende durchzuhalten, nicht, weil sie das Ende verleugnete, sondern weil jeder Moment Erkenntnis verhieß. Das hatte mich beeindruckt. Ich glaube kaum, dass ich dazu in der Lage wäre. Marie blieb ihrer Kunst bis zum letzten Atemzug treu. Am Nachmittag, an dem sie starb, fanden sich neben ihrem Bett ein Zeichenblock und mehrere Kohlestückchen.

Marie interessierte sich nur für ihre Sicht der Wahrheit, doch ohne viel Aufhebens darum zu machen. »Es ist ja bloß meine Wahrheit«, sagte sie immer. »Die muss niemand übernehmen.« Wieder etwas, was ihre Spottlust weckte, diese Vorstellung einer allgemein gültigen Wahrheit. Und sie signierte kein einziges ihrer Werke. Ein befreundeter, höchst erfolgreicher Künstler sagte eines Tages zu mir: »Maries Arbeit ist hervorragend, aber sie hat dieses typische Frauenproblem.« Vermutlich meinte er damit, sie sei zu bescheiden. Das war ein Irrtum. Von außen betrachtet, mochte es so wirken, aber Marie strebte keine Karriere in der Kunstwelt an. Ihre Kunst war eine Art Selbstgespräch, um geistig gesund zu bleiben. Das war uns beiden bewusst. Da ich ihre Einstellung respektierte, habe ich sie nie dazu gedrängt, ihre Werke auszustellen. Oben sind die Schubladen voll mit ihren Zeichnungen, und an den Wänden hängen bestimmt hundert Öl- und Gouachegemälde, Kohle- und Tuschezeichnungen. Jedes Bild ist gleichsam ein kurzes Gedicht in einem langen Zyklus. Wer hat wohl schon so etwas vollbracht? Möglicherweise ein chinesischer Dichter.

Marie hatte eine ausgeprägte Persönlichkeit. Sie war sehr in sich gekehrt. Und in ihrer Jugend war sie äußerst hübsch. Als ich sie kennenlernte, hatte sie eine Menge Liebhaber, die einander in dichter Folge ablösten. Darüber haben wir oft Witze gemacht. Zuerst waren wir nur befreundet. Sie wollte damals alle Männer erobern, die ihr begegneten. Das hörte irgendwann auf, als würde sie der Sex plötzlich langweilen, oder die Männer oder sie sich selbst. Am Ende blieb sie bei mir.

Zwischen Marie und mir war es nie zu einer leidenschaftlichen Affäre gekommen, aber wir hatten uns immer gut verstanden. Nach und nach dämmerte uns, dass wir ziemlich ideale Partner wären. Die Liebe hatte uns nicht überwältigt, sie reifte langsam heran, und als wir uns endlich verliebten, war das von Dauer. Wir liebten uns bis zum Schluss. Und das war das Beste daran. Ich war der Einzige, der bis zuletzt ihre Schönheit erkennen konnte. Maries lebendige sanfte graue Augen, ihr grimmiger Humor, ihre Aufrichtigkeit und Zuversicht. All das blieb ihr erhalten. Es gibt Tage, an denen ich sie furchtbar vermisse. Wäre sie jetzt hier, würde sie sich über meinen sogenannten Ruhestand lustig machen. Sie würde sich darüber aufregen. Ich höre förmlich, wie sie oben an der Treppe steht und herunterbrüllt: »So ein Unsinn! Schriftsteller kennen keinen Ruhestand!« Vielleicht stimmt das sogar. Wer weiß? Wir werden ja sehen.

Ich schaute Clare an. Die Augen und Hände hat sie von ihrer Mutter. »Warum hast du mich das gefragt? Bist du etwa mit einem verheirateten Mann liiert?«

»Gott, Dad, was bist du doch für ein Mistkerl.«

»Soll das ja heißen?«

Sie faltete die Zeitung zusammen, dann kam sie auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Du bist wirklich ein Mistkerl«, sagte sie zärtlich, bevor sie sich zum Gehen wandte. »Bis nachher«, rief sie.

»Bis nachher, mein Schatz.«

Hatte sie dieses Kostüm nun für ein Geschäftsessen oder für einen Geschäftsmann angezogen?

Später schlenderte ich zum Paradiso. John saß allein im rückwärtigen Teil des Cafés. Er las ein Buch. Sosehr ich mich freute, ihn zu sehen, wusste ich nicht recht, wie er reagieren würde. Vielleicht wollte er mir ja wirklich aus dem Weg gehen. Als ich »Hallo« sagte, hob er den Kopf. Dann lächelte er, erwiderte den Gruß und klappte sein Buch zu.

»Und wie ist es dir so ergangen, John?«

»Mein Vater ist gestorben. Ich habe ein paar Wochen Urlaub genommen und bin zu Mum und Kathy nach Moruya gefahren.« Er deutete auf den freien Stuhl. »Nimm schon Platz.« Er lachte kurz auf. »Ich habe mich nicht vor dir versteckt. Aber ich habe das Rauchen aufgegeben. Jetzt müssen wir nicht ständig draußen sitzen.«

Ich nahm den Stuhl und setzte mich hin. »Es tut mir sehr leid, dass du deinen Vater verloren hast.«

»Ich komme damit klar.«

»Ich weiß, dass du deinen Vater geliebt hast.« Mit welcher dumpfen Hilflosigkeit ich der Trauer eines Freundes begegnete. Eines Freundes? Ich denke schon, dass wir allmählich Freunde wurden. Zwar spielte er das Ganze herunter, aber ich spürte, dass ihn der Verlust schwer getroffen hatte. Als mein Vater starb, war ich genauso alt gewesen wie John. Nachdem ich den Anruf entgegengenommen hatte, musste ich weinen, und ich staunte über die Wucht meiner Trauer. Kaum eine Woche später hatte ich meinem Vater alles verziehen. Das war eine große Erleichterung. Ein unerwartetes Geschenk. Und binnen eines Monats hatte ich ihm in meiner Erinnerung einen neuen Platz zugewiesen, der meiner Version unserer gemeinsamen Geschichte entsprach. Der Tod machte meinen Vater zugänglicher. Ihn zu lieben fiel mir leichter als zu seinen Lebzeiten, als er ständig mit mir konkurrierte und meine Erfolge leugnete.

Als die Kellnerin kam, bestellte ich einen fettarmen Caffè Latte.

Danach saßen John und ich eine Weile schweigend da. Im Café herrschte Hochbetrieb, es wurde laut geklappert und geplappert. Es waren überwiegend junge Leute. In diesen Lokalen bin ich oft der einzige Alte. Ich nahm Johns Buch und drehte es um, weil ich den Titel lesen wollte. Es handelte sich um eine alte Penguin-Klassikerausgabe von Homers Ilias. In der Übersetzung von E.V. Rieu, die meiner Generation so vertraut gewesen war. Ich hatte sie seit über vierzig Jahren nicht mehr aufgeschlagen. Gelbe Post-it-Zettel lugten daraus hervor.

»Das nehme ich gerade mit meinen Schülern durch«, sagte John. Er tippte das Buch an. »Nicht alles. Nur einzelne Abschnitte. Ihnen gefällt das Blutvergießen.«

Ich bedankte mich bei der Kellnerin, die mir eben den Caffè Latte serviert hatte. Dann griff ich zum Zucker. »Ich habe unsere Treffen vermisst.«

Er nickte.

»Kein Unterricht heute?«

»Die Lehrpläne werden gerade erstellt.«

Danach schwiegen wir wieder. Es war kein unangenehmes Schweigen, aber es zeigte mir, wie wenig ich über ihn wusste, trotz seiner Bekenntnisse. Ich hatte das Gefühl, seine Frau besser zu kennen als ihn. Obwohl er mir so viele intime Details aus ihrem Eheleben anvertraut hatte, war dabei nur wenig über ihn selbst ans Licht gekommen. So hätte ich beispielsweise nicht zu erraten vermocht, woran er jetzt dachte. Dachte er daran, wie er seinen Zweitsprachlern die Ilias nahebringen sollte? Oder dachte er an seinen toten Vater? Er hatte in seiner eigenen Geschichte nicht gerade die Hauptrolle übernommen. In vielerlei Hinsicht war es ihm sogar gelungen, sich selbst fast auszulöschen. Wie er da so zusammengesackt auf dem Stuhl saß, mit der linken Hand das Buch befingernd, konnte ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was er als Nächstes sagen würde. Vielleicht versuchte er auch bloß, nicht ans Rauchen zu denken.

»Als Letztes hast du erzählt, wie du Sabiha versprechen musstest, sie nie wieder zu bitten, dich nach Australien zu begleiten, solange sie ihrem Vater nicht das Kind gezeigt hatte.«

Er lächelte, nickte und schwieg.

Ich dachte an die vielen Jahre, die jenen Tag in ihrem Schlafzimmer im Chez Dom von diesem Tag trennten, an dem er mit mir in einem Café in Carlton saß. »Hast du dein Versprechen gehalten?«, fragte ich.

Langsam hob er den Kopf, als wäre er in Gedanken meilenweit von dem entfernt gewesen, was ich anzusprechen versuchte. Er sah mich an und sagte: »Danach ist Houria gestorben.«

Das traf mich wie ein Schock. Diese unfassbare Lücke, die der Tod plötzlich reißt, dort, wo eben jemand stand, das Leben noch vor sich.

»Sie hatte mir geholfen, das alles durchzustehen.«

Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hatte.

Er sah mich unverwandt an, hielt meinem Blick stand, schaute aber in mich hinein, durch mich hindurch, an mir vorbei in seine eigene Vergangenheit, auf den Tod dieser großartigen Houria Pakos, um die ich wohl nicht einmal würde trauern können. Ihr Tod lag schon so lange zurück. Dass sie gestorben war, kam mir furchtbar ungerecht vor. Die ganze Zeit hatte ich mich darauf gefreut, sie einmal kennenzulernen. Daran hatte er also gedacht: An den Tod. Den seines Vaters und den von Houria. Ein Gedanke, ein Toter führt zum nächsten. Ich hätte selbst genug Stoff zum Nachdenken gehabt, wenn ich gewollt hätte. So viele meiner Freunde und Angehörigen waren tot. Meine Geister. Wie leicht es mir nun fiel, sie zu lieben. Inzwischen habe ich mehr tote Freunde als lebende.

»Um zu erkennen, dass das Chez Dom mit Houria auch seine Seele verloren hatte, haben wir eine Weile gebraucht, etwa einen Monat. Die Verbindung zu Dom Pakos und zur Entstehungszeit war abgerissen. Nach Hourias Beerdigung fing Sabiha bald an, den Gästen am Samstagabend ihre alten Lieder vorzusingen. Sie sagte, damit wollte sie die Männer an ihre Heimat und an ihre Frauen und Kinder erinnern. Ich dachte mir aber, dass sie in Wahrheit für Houria sang, aus alter Verbundenheit mit der Schwester ihres Vaters, mit ihrem früheren Zuhause in El Djem. Wenn jemand stirbt, endet mit ihm eine Epoche. Als Houria noch lebte, hatte sie für diese Lieder nicht viel übrig, aber nach ihrem Tod hatte man das Gefühl, dass sie ihnen womöglich doch etwas abgewinnen konnte.« Er sah mich an. »Frei von weltlichen Vorurteilen«, sagte er. »Wenn du verstehst, was ich meine.«

Ich konnte mir durchaus etwas darunter vorstellen, und das sagte ich ihm auch.

»Hourias Tod war nicht die einzige Veränderung. Auch Vaugirard veränderte sich. Sogar die Gerüche. Und alles schien auf einen Schlag zu passieren. Die Schlachthöfe wurden geschlossen, dann errichteten sie auf dem Gelände einen Park. Ein oder zwei Jahre später wurde der Büchermarkt eröffnet, gelegentlich entdeckten uns ein paar Touristen. Nach Hourias Tod geriet alles ins Wanken. Plötzlich war sie weg, und wir mussten die volle Verantwortung übernehmen, endgültig. Also machten wir weiter. Vielleicht war das falsch. Vielleicht hätten wir lieber das Handtuch werfen und gleich nach Australien ziehen sollen. Stattdessen widmeten wir uns dem Café. Es war unsere einzige Einnahmequelle. Und was das Versprechen angeht, ja, ich habe es gehalten. Sabiha wurde und wurde nicht schwanger, und wir verharrten im Stillstand, während ein Jahr nach dem anderen ins Land zog. Es war vermutlich meine Schuld. Wir hörten auf, darüber zu sprechen. Wir hörten mit den Arztbesuchen und Untersuchungen auf. Wir ließen das Thema komplett fallen. Ich glaubte, ich würde den Rest meines Lebens im Chez Dom verbringen. Wahrscheinlich war ich deswegen ein bisschen deprimiert und trank mehr als früher. Außerdem las ich zu viel. Ich versteckte mich hinter den Büchern. Das mache ich bis heute.« Er lachte. »Einmal, als ich mich nachts etwas angetrunken zu Sabiha legte, sagte sie mir, dass sie den Gestank abstoßend fände. Das traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Wir standen beide unter großem Druck. Ich verspürte selbst Ekel vor mir, weil ich trank, aber ich war ihr böse, weil sie es ausgesprochen hatte. Sie hatte mich verletzt.« Er sah mich an, um sich zu vergewissern, dass ich ihm auch wirklich zuhörte. Eine Zeit lang sprach er nicht weiter, sondern lächelte mich mit den Augen zerknirscht an. »Ich habe Sabiha damals nicht verstanden. Mir fehlte der Durchblick. Aber so war ich damals«, erklärte er. »Heute nicht mehr.«

»Nein. Natürlich nicht«, entgegnete ich.

»Am Tag darauf sagte ich ihr etwas wirklich Blödes und Gemeines. Und diese eine unglückliche Bemerkung sollte offenbar unser ganzes Leben bestimmen.« Er sah mich fragend an. »Kennst du das? Ist dir so was Ähnliches auch schon mal passiert?«

»Was hast du zu ihr gesagt?«

Meine Frage schien ihn zu beunruhigen, er blieb eine Weile stumm. Dann holte er tief Luft. »Wir waren wohl beide in eine Krise geraten, ohne es zu merken. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Heimat nie wiedersehen würde. Ich nahm es ihr übel, dass sie ihrem Vater unbedingt dieses Kind präsentieren wollte, bevor wir etwas anderes wagen konnten. Ich sagte das aber nicht, um es ihr heimzuzahlen. Ich wollte ihr nicht wehtun. Bei uns hatte sich so vieles unter der Oberfläche angestaut. Wir redeten nicht mehr über das, was uns wirklich bewegte. Alles lief unterschwellig, blieb unausgesprochen. Damals haben wir das natürlich nicht erkannt. Uns kam das ganz alltäglich vor. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich genau, was mit uns geschehen ist. Wir liebten uns immer noch. Wir haben nie aufgehört, uns zu lieben. Wir gingen immer noch sanft und zärtlich miteinander um. Wir wollten uns immer noch gegenseitig glücklich machen.«

Plötzlich hielt er inne und starrte auf seine gespreizten Hände, die mit der Fläche nach unten am Tisch auflagen. Schöne Hände. Kräftig und wohlgeformt und makellos. Die Hände eines jüngeren Mannes. Er betrachtete sie eine Weile, als wäre er stolz auf sie. Ich hakte nicht nach, weil er unter Umständen nicht weitererzählen wollte. Schließlich ist eine Beichte, selbst wenn man sie vor einem halbwegs Fremden – wie ich es in diesem Fall für John war – ablegt, nicht immer die leichteste Art, sich von seiner Schuld loszusprechen.

»Ich bin einfach ins Fettnäpfchen getreten, ohne es zu wollen, das passiert jedem mal«, sagte er. »Manchmal tritt man einen winzigen Kieselstein los, und dann stürzt der ganze Berg über einem zusammen.«