Sabiha wachte in tiefster Nacht auf. Sie blieb liegen und lauschte der Stille. Hatte sie ein drängender Ruf aus dem Schlaf gerissen? Alles war ruhig. Die Vorhänge waren vom dürftigen Licht der einsamen Straßenlaterne an der Ecke gesäumt. Neben ihr schnarchte John leise. Die Straße war friedlich. Kein einziger Hund war zu hören. Nichts. Nur das gleichmäßige Surren der Nacht. War ihr Vater gestorben und hatte ein letztes Mal nach seiner Tochter gerufen? Bei dieser Vorstellung überlief es sie kalt. Wie er nach seiner Lieblingstochter rief, die so weit entfernt war, für ihn unerreichbar, wie er sich Vorwürfe machte, weil er sie verloren hatte, wie er bedauerte, sie all die Jahre zuvor zu seiner Schwester geschickt zu haben, damit sie Houria unterstützte. Ihr Vater, dessen letzter Atemzug ihr galt, der sich danach sehnte, ihre Hand zu halten, ihre Lippen an seiner Stirn zu spüren. Ihren süßen Atem zu riechen. Ihr innig geliebter Vater. Warum hatte Zahira sie nicht angerufen? Sabiha bereute bitterlich, dass sie nicht nach Hause gefahren war. Nun würde sie ihren Vater nie wiedersehen.

Dann wurde ihr schlagartig klar, dass der Ruf nicht von ihrem Vater gekommen war, sondern von ihrer Großmutter! Sabiha befühlte ihre Brüste unter dem Nachthemd. Sie taten ein bisschen weh, und die Warzen waren hart. Es war anders als sonst vor ihrer Periode, keine vorübergehende Empfindlichkeit, sondern erste Anzeichen einer dauerhafteren Entwicklung. Dessen war sie sich sicher. Es war ein nie gekanntes Gefühl. Sie war schwanger, sie wusste es!

Sabiha rang nach Luft, von ihren Empfindungen überwältigt, vom Wärmeschwall, den sie in Leib und Seele spürte. Die Wärme stammte von dem anderen Lebewesen in ihr. Sie hatte es empfangen. Das Kind war bei ihr. Sie fing an zu weinen. Hätte sie John doch nur wecken können, um ihm davon zu erzählen! Bald hätte sie ihr kleines Mädchen an ihrer Seite. Sie konnte förmlich sehen, wie ihre Großmutter sie anlächelte. Alles hatte sie riskiert, um ihr Kind vor dem Nichtsein zu bewahren. Nun gab es keinen Raum mehr für Reue oder Zweifel. Sie würde jedes Hindernis überwinden, das ihr den Weg verstellte, ihrer Tochter zuliebe würde sie stark sein. Sabiha weinte vor Erleichterung, vor Dankbarkeit, sie weinte, weil sie ihr Glück nicht fassen konnte. Zu guter Letzt würde sie doch noch Mutter werden. Sie dachte an jene längst vergangene Sommernacht mit John zurück, als sie glaubte, das Kind empfangen zu haben. Für sie handelte es sich heute um das gleiche Kind wie damals. Es war immer nur dieses eine Kind gewesen. Ihr Kind.

Sie legte beide Hände flach auf den Bauch und schloss die Augen. Sie wollte Freitag abwarten, den Tag, an dem ihre Periode hätte einsetzen sollen, danach vielleicht noch eine Woche, bevor sie zum Arzt ging, um es sich bestätigen zu lassen. Aber sie hatte bereits die Gewissheit, dass sie die Zeichen richtig deutete.

»Ich bin Mutter«, flüsterte sie. Was konnte jetzt noch passieren? Sie würde umgehend nach Hause fahren, um ihren Vater zu sehen. Er war in der Nacht nicht gestorben. Sie würde an seinem Bett sitzen und seine Hände auf ihren Bauch legen. Diese starken Hände, die sie gehalten hatten, als sie ein kleines Mädchen war und der stille Heldenmut ihres Vaters die Welt zu einem sicheren Ort machte. Sie hatten sich gegenseitig bestärkt. Wie ungestüm sie ihn als Kind geliebt hatte. Wie sehr sie ihn bewundert hatte. Sie konnte sich so gut in ihn hineinversetzen, dass sie manchmal den Eindruck hatte, sie und er wären eins. Ihr geliebter Vater. Noch nie hatte sie so fest an die Fortdauer ihrer Ahnen geglaubt. Wenn sie an den baldigen Tod ihres Vaters dachte, war sie davon überzeugt, dass seine Stimme weiterleben würde, wie die der anderen. Irgendwo in den Weiten des Alls. In der geheimnisvollen, unheimlichen Stille. Wie konnte es anders sein? Die Stimme ihrer Großmutter hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Sabiha hatte sich den Ruf nicht eingebildet.

Mit dem Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs, wollte sie zu ihrem Vater fahren, und dann wären sie für kurze Zeit alle drei in ihrer alten Heimat vereint. Danach würde sie ihren Vater freigeben, damit er diese Welt verlassen konnte. Schlug in ihrer Brust nicht auch das Herz ihres Kindes? Sabiha konnte ihren Vater lächeln sehen, während er die Hände auf ihren Bauch legte und die Augen schloss. Das neue Leben unter seinen Händen pulsieren fühlte. Nun, da sie ihr Kind erwartete, war sie sicher, dass der Tod ihres Vaters nicht sein Ende bedeutete.

Sabiha schlief ein. Und als sie wieder aufwachte, fing sie an, sich unmögliche Fragen zu stellen, Fragen, auf die sie noch keine Antwort hatte. John musste es als Erster erfahren. Und sollte sie Bruno erzählen, dass er der Vater ihres Babys war? Inzwischen kam ihr Bruno zu labil, ja sogar kindisch vor. In ihren Augen war er nicht mehr der Mann mit der vollen Punktzahl. Weißt du eigentlich, dass Bruno elf Kinder hat? Wenn John sie an diesem Tag nicht provoziert hätte, wäre das Ganze nie passiert. Die Retourkutsche war unvermeidlich gewesen. John hatte ihre Geduld zu sehr strapaziert, und sie wollte lieber einen eigenen Weg beschreiten. Wieder fühlte sie die gewaltige Woge von Energie, die sie damals durchströmt hatte. Von da an hatte sie gewusst, dass sie die Sache entweder selbst in die Hand nehmen oder sich für immer mit ihrer Kinderlosigkeit abfinden musste. Jetzt war sie am Ziel. Sie trug ihr Kind sicher im Bauch. Warum hatte sie dann solche Angst?

Sabiha drehte den Kopf und sah John an. Ob sie ihm alles erzählen würde, von Anfang an? Wie sollte sie mit den Widersprüchlichkeiten ihres Lebens umgehen? Im Dunkel der Nacht erkannte sie, dass die Gefahren, die ihr bevorstanden, noch größer waren als alle, die hinter ihr lagen. Das Kind war, genau wie der Tod des Löwen, ein Anfang, es war nicht das Ende. Sie war noch längst nicht am Ziel.

Als sie John betrachtete, hatte sie den Eindruck, dass Männer immer allein sind. Männer sind anders als wir Frauen, dachte sie. Die Einsamkeit ist Teil ihres Wesens. Im Grunde ihres Herzens bleiben Männer ein Leben lang allein. Auch wenn sie sich noch so sehr geliebt fühlen, bleiben sie stets Einzelgänger. Wir Frauen dringen nicht zum Kern ihres Wesens vor. Während John neben mir schläft, ist er allein. Und wenn er liest, ist er ebenfalls allein. In seinen toten alten Büchern sucht er nach dem Echo der eigenen Einsamkeit, möchte sie durch die Gedanken anderer Männer gespiegelt und bestätigt sehen. Und wenn er fündig wird, sagt er sich zufrieden: Da! Wusste ich’s doch. Und wenn er zu viel Wein trinkt, nimmt er seine Einsamkeit als gegeben an, wie eine verdiente Strafe. Und wenn er mit André zum Angeln auf die Seine hinausfährt und sie sich freundschaftlich austauschen, sind sie beide im Grunde ihres Herzens allein, das wissen sie und es quält sie, darum können sie nicht offen miteinander sprechen. Diese Unaufrichtigkeit rankt sich um die Gedanken, die sie austauschen, sie rankt sich um ihre Freundschaft und frustriert sie beständig, und so ziehen sie sich jeweils in sich selbst zurück, um das Quäntchen Trost zu finden, das ihnen ihre Einsamkeit gewährt. Sie ist die einzige Gewissheit, die ein Mann gelten lässt. Und das ist der Unterschied zwischen ihnen und uns.

Denn die Frau, die ein Kind in sich trägt, ist nicht allein. Der Mann hat keinen inneren Gefährten. Immerzu strebt er nach dem, was er nicht haben kann. Er ist nie zufrieden. Die werdende Mutter hingegen hat einen inneren Gefährten. Eine Frau ist kein Einzelwesen, dachte sie. Anders als der Mann, er ist und bleibt ein Einzelwesen. Bruno bildet sich nur ein, dass er zu einem neuen Mann geworden ist, während ich jetzt tatsächlich eine neue Frau bin. Die Wirklichkeit wird Brunos Illusion zerstören und ihn vereinsamt und verzweifelt zurücklassen. Meine Mutterschaft aber wird zeigen, dass ich mich wirklich verändert habe.

John und Bruno taten Sabiha leid, auch der törichte alte André und überhaupt alle Männer – sogar ihr Vater. Sie waren alle wie Kinder, dachte sie, nicht nur Bruno. Männer treffen niemals auf den Seelenbruder, den sie sich erträumen. Den ersehnten Helden. Auf der Suche nach Sinn, nach bedeutsamer Ergänzung tauchen sie in ihr Innerstes hinab und finden dort nur sich selbst.

Diesen und anderen Gedanken hing Sabiha nach, bis sie schließlich wieder einschlief. Sie träumte von einem sonnenbeschienenen reifenden Weizenfeld im Medjerda-Tal. Es fing an wie ein schöner Traum. Sie war noch ein Mädchen und folgte ihrer Großmutter, die, ganz in Schwarz gekleidet, durch das goldene Feld schritt. Sabiha beeilte sich, sie wollte ihre Großmutter einholen, um ihr eine herrliche Blume zu zeigen, die sie inmitten der Weizenhalme gefunden hatte. Nach einer Weile wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde, egal, wie schnell sie rannte, und egal, wie langsam ihre Großmutter ging – unendlich langsam. Das Mädchen kämpfte so erbittert gegen die Kräfte an, die sie zurückhielten, dass Sabiha erschrocken aus dem Schlaf fuhr.

Hellwach lag sie da, ließ ihren Traum Revue passieren und hatte das Gefühl drohenden Unheils.

Erst dann stellte sie fest, dass John nicht mehr neben ihr lag.

Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und roch den frisch gebrühten Kaffee. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Auf einmal kam ihr wieder in den Sinn, dass sie schwanger war. Wie konnte sie das vergessen? Auch nur eine Sekunde lang? Sabiha setzte sich auf. Sie hatte es aber vergessen. Und zwar viel länger als eine Sekunde. Gern hätte sie wieder ihre Brüste betastet, um sicherzugehen, dass sie ihre Schwangerschaft nicht bloß geträumt hatte, aber da kam John schon ins Zimmer und machte das Licht an. Er brachte das Tablett mit ihren Kaffeeschalen und Keksen.

»Guten Morgen, Liebling. Wie hast du geschlafen?«, fragte er und stellte das Tablett auf den Nachttisch. Danach legte er Sabiha ihren Morgenmantel um die Schultern. »Draußen ist es eiskalt. Feucht und eiskalt.«

Als John ihr Gesicht sah, fragte er lachend: »Was ist los? Ist dir vielleicht ein Gespenst begegnet?«

Sie brach in Tränen aus und verschüttete Kaffee über die Bettdecke.

Er nahm ihr die Schale aus der Hand, bevor er sie an sich drückte. Sanft wiegte er Sabiha in seinen Armen. »Alles wird gut, mein Schatz. Keine Sorge.« Wie himmlisch ihr Haar duftete. John lächelte. Sie glich einem Kind, das aus einem Alptraum aufgeschreckt war. »Ich liebe dich über alles, mein Engel«, flüsterte er in ihr Haar.

Sabiha konnte nicht aufhören zu weinen. Als sie sich schließlich wieder in der Gewalt hatte, putzte sie sich die Nase und trocknete ihre Augen. John lächelte sie aufmunternd an. Sie beschloss, ihm alles zu erzählen.

Sie wollte gerade zu sprechen anheben, als sie auf einen unüberwindbaren Widerstand stieß. Es war die gleiche Macht, die sie im Traum davon abgehalten hatte, ihre Großmutter einzuholen. Als stünde sie am Rand eines Abgrunds, ohne springen zu können. Der Selbsterhaltungstrieb war stärker als ihre Willenskraft, er hinderte sie daran, John mit der ungeheuerlichen Tatsache zu konfrontieren, dass sie Brunos Kind unterm Herzen trug. Es ließ sich einfach nicht in Worte fassen. Es wollte ihr nicht gelingen.

»Du solltest so schnell wie möglich zu deinem Vater fahren«, sagte John. »Du darfst es nicht länger aufschieben. Wenn dein Vater stirbt, bevor du von ihm Abschied nehmen konntest …« Er zuckte mit den Achseln. »Na ja, du weißt selbst am besten, dass du es dir niemals verzeihen würdest.« Er nahm ihre Hand und küsste sie auf die Stirn. »Du bist schon halb krank vor Sorge, das sehe ich doch. Sonja könnte für eine Woche die Küche übernehmen, wenn du ihr Bescheid gibst. Sollen sich solange ihre beiden faulen Mädchen mal um den Gewürzstand kümmern. Singen kann Sonja zwar nicht, aber dafür umso besser kochen. Sie und ich werden den Laden bis zu deiner Rückkehr schon schmeißen, keine Angst.«

Nach einer gedankenschweren Pause fügte er hinzu: »Von jetzt an übernehme ich die Einkaufsrunde am Freitagmorgen. Das hätte ich dir schon längst anbieten sollen. Was war ich doch für ein egoistisches Schwein, jeden Freitag einfach liegen zu bleiben und meine nutzlosen Bücher zu lesen, als ob es auf der Welt nichts Wichtigeres gäbe, während du dich jede Woche bei Wind und Wetter zu diesem elenden Markt schleppst. Ab sofort mache ich das, und ich dulde keine Widerrede.« John lehnte sich zurück und sah ihr ins Gesicht. Er wischte ihr eine Träne von der Wange. »Einverstanden? Fühlst du dich jetzt besser?«

Sabiha nickte und dankte ihm.

»Schon gut. Ich mach das gern. Es tut mir nur leid, dass ich es dir nicht früher angeboten habe.« John sah ihr in die Augen und fuhr leise fort: »Du bist eine starke Frau. Ich weiß, dass du es bis ans Ende des Tunnels schaffst und mit einem Lächeln wieder herauskommst.«