Es war an einem Dienstag: Kurz nachdem die letzten Mittagsgäste das Café verlassen hatten, trug Sabiha das Essen für sich und John in den Speiseraum. Ein ganz gewöhnlicher Dienstag, der bis zu diesem Moment genauso ablief wie alle anderen Dienstage in ihrem Leben. Sabiha ging rückwärts durch den Perlenvorhang, schob ihn mit der Schulter beiseite, drehte sich um und brachte die Teller zum Fenstertisch, an dem John über einem Buch saß. Sie wartete, bis er es weggeräumt hatte, dann stellte sie ihm das Essen hin.
Er rückte mit dem Stuhl näher zum Tisch. »Danke, Liebling. Es riecht fantastisch.«
Sie stellte auch ihren Teller ab und nahm ihm gegenüber Platz.
Sie machten sich über das gebratene Lamm mit Gemüse her, nippten am Rotwein und nahmen sich Brot aus der Schale, die in der Mitte stand. Der köstliche Duft von raffiniert zusammengestellten Gewürzen stieg auf. Dank Houria beherrschte Sabiha schon seit langem die Kunst des Mischens. Von ihrem Stammtisch aus konnten sie und John beobachten, wie Autos und Fußgänger die enge Rue des Esclaves passierten.
Es war ein schöner warmer Herbsttag, auf der Straße ging es um diese Zeit laut und bunt zu. Gegenüber stand der greise Arnoul Fort wie so oft vor der Tür seines Geschäfts, genoss eine Zigarette in der Sonne und sah dem regen Treiben zu. Früher hatten Arnoul und seine Frau Monique jeden im Viertel mit Namen gekannt. Jetzt kannte der alte Mann fast keinen der Passanten mehr. Es war lange her, dass Houria ihre Nichte zu ihm geschickt hatte, um einen farblich abgestimmten Faden für den Lederflicken an Johns Jackenärmel zu finden. Sabiha wollte ihn damals so gut wie möglich ausbessern. Obwohl John die alte Jacke seit Jahren nicht mehr trug, hatte er sich nie von ihr getrennt, und sie hing immer noch auf seiner Seite des Kleiderschranks im Schlafzimmer. In jenem Schlafzimmer, das einst Doms und Hourias und später Hourias Zimmer gewesen war.
Seit drei Jahren lieferte Bruno Fiorentino jeden Dienstag eine Kiste seiner Gewächshaustomaten im Chez Dom ab. Anschließend aß er dort zu Mittag, auf Kosten des Hauses, John bestand darauf. Und so verließ Bruno dienstags stets als letzter Gast das Café. Wie immer fuhr er, kaum dass John und Sabiha selbst angefangen hatten zu essen, hupend und winkend mit seinem Lieferwagen an ihrem Fenster vorbei.
Als der vertraute orange-grüne Wagen außer Sichtweite war, wedelte John mit der Gabel in Richtung Straße. »Weißt du eigentlich, dass Bruno elf Kinder hat?«
Noch während er sprach, hätte John diese unbedachte Äußerung am liebsten zurückgenommen. Wie konnte er nur so unsensibel sein? Bestürzt legte er seine Hand auf Sabihas Hand und bat sie um Entschuldigung. Er rechnete damit, dass sich ihre schönen dunklen Augen mit Tränen füllen würden.
Doch anstatt zu weinen, zog Sabiha ihre Hand zurück und lachte. So laut, dass es eher zornig als heiter klang.
John zuckte zusammen und starrte sie entgeistert an.
Einen ungünstigeren Moment hätte er sich kaum aussuchen können. Seitdem Sabiha im Juni ihren siebenunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass sie stramm auf die vierzig zuging. Nun war es Ende September, bald wäre ein weiteres Jahr vorbei. Am letzten Freitagmorgen hatte sie wie erstarrt auf dem Markt gestanden und ungläubig vor sich hin gemurmelt: Bin ich das wirklich? Auf einmal hatte sie das Gefühl, im Körper einer älteren Frau gefangen zu sein. Innerlich, und das war viel entscheidender, fühlte sich Sabiha immer noch als das Mädchen, das sich vor so vielen Jahren in John verliebt hatte. Auf dem Markt wurde sie von einer Panikwelle erfasst, und dann sah sie sich – die junge Sabiha – plötzlich verzweifelt zwischen den Ständen umherrennen, Menschen anrempeln und haufenweise Apfelkisten umstoßen und Kohlköpfe und … Sie konnte nichts tun. Gar nichts.
Ihre Panik währte nur kurz, aber die Frage blieb: Wo waren all diese Jahre hin? Schon seit einiger Zeit quälte sie sich damit. Bald wäre sie vierzig, es würde nicht mehr lange dauern, bis jene Phase einsetzte, die nicht von ungefähr Wechseljahre heißt. Was dann? Damit wäre sie jeder Hoffnung auf Mutterschaft beraubt. Jedes Mal, wenn sie an ihre erste Nacht mit John zurückdachte, war sie den Tränen nahe. Inzwischen wusste sie, wie trügerisch Hoffnung sein kann.
Während ihre Kinderlosigkeit ohne erkennbaren Grund fortbestand, bekam Sabiha allmählich das Gefühl, eine Mauer der Gleichgültigkeit würde um sie herum errichtet, die sie aufs Grausamste vom ganzen Sinn und Zweck ihres Lebens trennte, und sie fragte sich, ob sie vielleicht für eine Sünde bestraft wurde, die sie gar nicht begangen hatte. Die Ungerechtigkeit ihres kinderlosen Daseins brannte ihr jeden Tag aufs Neue in der Seele. Womit hatte sie das verdient? Hatte sie nicht stets ein unbescholtenes Leben geführt? John und sie hörten schließlich auf, darüber zu sprechen. Das Thema war zu schmerzhaft. Doch obwohl sie kein Wort mehr darüber verlor, war Sabiha nach wie vor felsenfest entschlossen, ihre kleine Tochter zur Welt zu bringen. Diese Hoffnung gab sie nicht auf. Eines Tages, da war sie sich ganz sicher, würde sie ihr Töchterchen im Arm halten. Das Kind, das sie in ihrem Bauch hatte flattern spüren, als sie an jenem Sommertag in Johns Armen am Ufer der Eure lag. Ein anderes wollte sie nicht. Es war die kleine Tochter ihrer Träume.
Als John Sabiha fragte, ob sie von Brunos Kindersegen wusste, hatte sie gerade an ihren Panikanfall auf dem Markt zurückgedacht, an das Bild des jungen Mädchens, das vor der alternden Frau floh. Sie hörte auf zu essen und sah ihn verblüfft an. Als er seine Hand auf ihre legte, mit den Worten »Tut mir leid, Liebling, das war wirklich dämlich«, hätte sie ihm am liebsten ihren noch vollen Teller ins Gesicht geschleudert.
Sie entzog ihm ihre Hand, und anstatt ihn zu schlagen, lachte sie. In diesem Lachen klangen Jahrzehnte von Frustration, Bitterkeit und Zorn an. Danach griff sie zu ihrem Weinglas.
»Ja!«, rief sie. »Für jedes Jahr, das sie verheiratet sind, hat er ihr ein Kind geschenkt!« Wieder gab sie dieses laute, derbe Lachen von sich, das nicht zu ihr gehörte, sondern zu einer anderen, aggressiveren Frau. Sie trank das Glas leer und stellte es wieder ab, ohne es loszulassen, als wäre es eine Handgranate, die sie jeden Moment durchs Fenster oder John an den Kopf werfen würde. Schließlich sah sie ihn an und lächelte.
»Es tut mir leid«, wiederholte er, von ihrem eigenartigen Lächeln verstört.
»Bruno hat eben die volle Punktzahl erreicht, John.«
Er hatte den Eindruck, dass Sabiha mit einer gewissen Häme gesprochen hatte. Das entsprach ihr ganz und gar nicht, und er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Vielleicht lag es ja tatsächlich an ihm. Sie würden es wohl nie erfahren. Sabiha sah ihn erwartungsvoll an. »Stimmt doch, oder?«
»Bruno und Angela sind noch einige Jahre länger verheiratet als wir, Liebling«, antwortete er, um Beiläufigkeit bemüht. »Also bei weitem mehr als elf Jahre. Sicher, sie haben viele Kinder, aber als volle Punktzahl kann man das nicht bezeichnen.«
»Wie pedantisch du doch bist«, sagte sie matt.
Ihr grässliches Lachen hatte ihn völlig verunsichert. Es hatte ihn einsam gemacht.
»Elf! Fünfzehn! Zwanzig!«, rief Sabiha ungeduldig. Es war, als würde sie gleich schreien oder in Tränen ausbrechen oder ihm eine Ohrfeige verpassen, wenn er noch ein einziges Wort äußerte. »Was macht das schon für einen Unterschied? Natürlich hat Bruno die volle Punktzahl erreicht, John! Das kannst du nicht abstreiten.«
Sie nahm den Krug und schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte, stellte sie das Glas mit übertriebener Vorsicht ab. Jetzt hatte sie wirklich Tränen in den Augen. Eine ihrer Haarnadeln hatte sich gelöst, so dass ihr dicke Strähnen ins Gesicht fielen. Sabiha strich sich die Haare zurück.
John hätte sie so gern in den Arm genommen, er hätte ihr so gern gesagt: Wirst schon sehen, mein Schatz, eines Tages bekommst du dein Kind, das schwöre ich dir, bei meinem Leben, bei allem, was mir lieb und teuer ist, ich schwöre dir, du bekommst dein Kind. Natürlich konnte er ihr nichts dergleichen schwören.
»Du hast recht«, gab er klein bei. »Ja, du hast recht.« Betrübt starrte er auf seinen Teller, unfähig, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen. Er fühlte sich schuldig, ungerecht behandelt, verlassen und unglücklich. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Bedächtig schnitt er ein Stückchen Lamm ab, spießte es mit der Gabel auf, steckte es sich in den Mund und fing an zu kauen. Sabiha ließ ihn nicht aus den Augen. Sein Mund war so trocken, dass er nicht imstande war, den Fleischbrocken hinunterzuschlucken. Unablässig kauend, blickte er zur Straße hinaus. Die Nachmittagssonne spiegelte sich im Schaufenster des Lebensmittelladens an der Ecke, den die Kavi-Brüder führten, und verwandelte das schäbige Gebäude von gegenüber in einen goldenen Tempel. Noch nie hatte Sabiha ihn John genannt. Nicht einmal in den allerersten Tagen ihrer Beziehung. Immer war er für sie Liebling gewesen oder Geliebter oder Liebster oder mein Herz. Mein Held. Manchmal auch mein wunderbarer Ozzie. Aber nie John. Trotz allem fühlte er sich im Recht.
Er nahm sein Glas, um das schauderhafte Etwas in seinem Mund hinunterzuspülen. Während es ihm durch die Speiseröhre glitt, musste er an seine alte Hündin Tip denken, wenn sie ein Stück rohes Fleisch verschlang, und an das Geräusch, das dabei entstand. Der Wein ätzte seinen Gaumen, er war rau und kalt und säuerlich. Sein Lieferant glaubte, ihm getrost minderwertige Ware unterjubeln zu können. Das war John längst aufgefallen, aber er wollte lieber jeden Ärger vermeiden. Er wusste, dass man ihn den ruhigen Australier nannte. Und das traf durchaus zu. Er war stolz auf seine Umgänglichkeit. Er wollte gern von allen gemocht werden. Doch nun beschloss er, die miserable Qualität nicht länger hinzunehmen. Noch an diesem Nachmittag würde er mit dem Weinhändler ein Hühnchen rupfen.
Da John hartnäckig schwieg, lachte Sabiha gereizt auf, nahm Messer und Gabel und aß weiter.
So zogen die Minuten dahin, die Stille wurde nur vom Klirren und Klappern des Bestecks unterbrochen. Hinter ihnen standen lauter verwaiste Tische. Neben ihnen waren Fenster und Tür mit dem altvertrauten, verblassten grünen Anstrich versehen, den John fast zehn Jahre zuvor zuletzt aufgefrischt hatte, als Houria noch lebte.
Das Telefon klingelte.
Sabiha legte Messer und Gabel aus der Hand, sie stand auf, ging hinter den Tresen und nahm den Hörer ab. »Hallo?«
Mit einer Stimme, die sie kaum wiedererkannte, so dumpf klang sie, ohne Spur der üblichen Mannhaftigkeit und Stärke, sagte ihr Vater: »Du hast es ja kommen sehen, mein liebes Kind. Ich habe Krebs.« Er lachte. Es war ein kehliges, gedämpftes Lachen, das nicht richtig nach außen drang.
Sabiha entnahm dem Lachen ihres Vaters, dass er den Krebs heiter begrüßte, als Boten, der ihn endlich von der Bürde seines Lebens befreien würde. Das Wissen um seinen nahenden Tod machte ihm nichts aus. Sie wurde von Trauer und Wut gleichermaßen überwältigt.
Er sagte, dass er sie liebe und auf ihren baldigen Besuch hoffe. »Aber nur, wenn du und John nicht zu viel um die Ohren habt«, fügte er hinzu. Sabiha erwiderte, dass sie ihn auf jeden Fall besuchen und längere Zeit bei ihm bleiben würde. Sie sagte nicht: Um mit dir zusammen auf das Ende zu warten. Beide wussten, was gemeint war. Sie schwiegen eine Weile. Als Sabiha im Hintergrund einen Motor dröhnen hörte, fragte sie: »Ist das der Bus nach Tunis?«
Ja, bestätigte er, der Bus sei gerade abgefahren.
Sie sah den alten grün-gelben Bus vor sich, wie er vom Postamt abfuhr, schwarzen Rauch aus dem Auspuff spuckend, wie sie selbst das Gesicht ans Fenster presste, als sie ihre Heimat Richtung Paris verließ, wie sie ihrer Mutter und Schwester und ihrem geliebten Vater zum Abschied winkte. Sie konnte die Abgase riechen, in der schwülen Hitze eines Herbstmorgens in ihrer Heimat.
»Bist du etwa allein zum Postamt gelaufen?«
Ja, war er.
Sie fragte nach ihrer Schwester.
»Zahira geht es gut, und sie kümmert sich rührend um mich. Es wird schwer für sie sein, wenn sie allein zurückbleibt.«
Als das Gespräch beendet war, setzte sich Sabiha wieder an den Tisch. Anstatt weiterzuessen, blickte sie auf die sonnige Straße hinaus. Das Lamm, die gebackene Aubergine und die scharf gewürzten gefüllten Tomaten auf ihrem Teller waren inzwischen kalt. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater nach dem Telefonat über die staubige Straße in ihr altes Haus in El Djem zurückkehrte. Wie er wieder einmal mit dem Haken am Eisentor kämpfte, diesem leidigen Ding. Wie er dann schwankenden Schrittes den schmalen Hof durchquerte, den Kopf einzog und sich am Stamm abstützte, als er unter die niedrigen Äste des Granatapfelbaums lief, in denen nachts seine Hühner schliefen, gleich neben dem Gemüsebeet. Noch bevor er die Haustür erreichte, ging sie auf. Zahira erwartete ihn im kühlen Flur. Sabiha sah, wie ihr Vater sich in seinen Sessel setzte und das Glas Minztee entgegennahm, das Zahira ihm reichte. Sie dachte daran, wie ihr Vater sie immer genannt hatte: Trotzkopf. Als wäre das ihr wahres Wesen. Wie er sich damit brüstete, dass sie einen Ausländer geheiratet hatte, in Paris lebte und dem Elend von El Djem entkommen war. Er war immer für sie eingetreten. Er war so stolz auf sie. Er war ihr Held. Das letzte Mal hatte er vor knapp fünf Jahren angerufen, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter ganz plötzlich gestorben war. Wie schnell diese fünf Jahre vergangen waren.
Sabiha straffte die Schultern und starrte auf die Straße, die Punktsieger Bruno vorhin passiert hatte. Und da erkannte sie jäh, mit einer Klarheit, die sie nach Luft schnappen ließ – John sah sie forschend an –, wie zerbrechlich und flüchtig jedes Leben war. Ihr Vater, der von jeher da gewesen war, würde es bald nicht mehr sein. Das für immer und ewig ihrer Kindheit hatte seine Geltung verloren.
Sie wandte sich John zu. Am Telefon hatte sie Arabisch gesprochen. »Es war mein Vater«, sagte sie mit einer Mischung aus Kummer und Zorn. »Auf seine alten Tage hat er sich tatsächlich noch Lungenkrebs eingefangen.«
»Das tut mir sehr leid. Können sie ihn dort behandeln?«
Sabiha stand auf und sammelte die Teller ein.
»Alles in Ordnung, Liebling?«, fragte er weiter.
Stumm sah sie auf ihn herab. Am liebsten hätte sie gesagt: Natürlich nicht! Was glaubst du denn? Du hast doch nur eines im Sinn, sobald mein Vater gestorben ist, wirst du nach Australien zurückkehren. Ich weiß, dass sein Tod für dich eine Erleichterung bedeutet. Aber so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Ich halte an meinem Vorhaben fest. Bevor mein Vater stirbt, werde ich ihm meine kleine Tochter in den Arm legen. Wart’s nur ab!
»Sie haben ihm eine Operation angeboten«, sagte sie stattdessen, »um einen Lungenflügel zu entfernen, und anschließend noch eine Chemotherapie. Er will aber keine Behandlung. Er will der Natur ihren Lauf lassen. Das ist typisch für meinen Vater. Und er hat recht.«
Sie ging in die Küche und fing an, die Stapel schmutziger Teller und Töpfe vom Mittagstisch zu spülen. Sie würde ihren Vater bitten, ihr noch etwas Zeit zu geben. Er war ein tapferer Mann. Er würde die Kraft aufbringen, auf sie zu warten.
Sabiha sang bei der Arbeit. Das Lied handelte vom Traum einer Frau, ihre Großmutter hatte es ihr und Zahira oft vorgesungen, als sie Kinder waren. In ihrem Traum begibt sich die Frau eines Nachts ganz allein in die Wüste und tötet einen Löwen. Der Löwe hatte zwar schon seit Jahren die Dorfkinder bedroht, aber den Männern war es nicht gelungen, ihn zu töten. Als sie das alte Lied nun an der Spüle sang, erkannte Sabiha, was dieser Traum zu bedeuten hatte, und das schenkte ihr neuen Mut. Jetzt war es für sie an der Zeit, selbst zu handeln, genau wie die Frau aus dem alten Lied ihrer Großmutter. Sie durfte nicht länger warten, sondern musste sich aufmachen und ihren Löwen töten. Kein anderer würde es jemals an ihrer Stelle tun. Und wenn sie nicht endlich handelte, wäre es bald zu spät. Die Wechseljahre würden einsetzen, und dann wären alle Kinder tot.
In absehbarer Zeit bliebe nur noch Zahira in dem Haus übrig, in dem sie zusammen eine glückliche Kindheit verbracht hatten, sie würde für niemand anderen mehr sorgen können als für sich und würde nichts anderes mehr tun können, als den Makel ihrer Ehelosigkeit mit Würde zu ertragen. Wie sollte man einen solchen Löwen besiegen? In Sabihas Augen war das unmöglich. Zahira hatte ihre Chance schon vor vielen Jahren vergeben. Jetzt musste sie sich mit ihrem Schicksal abfinden.
Sabiha weinte, während sie am Spülbecken stand und an ihren Vater dachte. Das Bewusstsein, dass das Lied ihrer Großmutter ihr gerade dann eingefallen war, als sie es am meisten brauchte, gab ihr Kraft und stärkte ihre Zuversicht. Zunächst hatte sie zu singen begonnen, ohne einen Gedanken an das Lied zu verschwenden, die Worte waren ihr einfach in den Sinn und über die Lippen gekommen. Als sie und ihre Schwester noch klein waren, hatten sie zwar nicht begriffen, was das Lied wirklich bedeutete, aber sie waren von der Vorstellung in Bann geschlagen, dass diese Frau sich unter dem Sternenhimmel allein in die Wüste wagte. Der alte Löwe sah schläfrig und gelangweilt zu, wie sie auf seine Höhle zukam, ohne im Geringsten zu ahnen, dass sie ihn töten wollte. Es war ein schönes Lied. Ein großartiges Lied. Sie hatte es schon immer geliebt. Es erfüllte sie mit Dankbarkeit, dass ihre Großmutter es ihr beigebracht hatte, die es wiederum von ihrer Mutter gelernt hatte, das Lied verband sie über Generationen hinweg mit den ersten Frauen ihrer Sippe, führte sie in die mythische Entstehungszeit zurück, als die Worte sich noch göttlicher Inspiration verdankten. Dieses Lied war ihrer Vergangenheit entsprungen. Es handelte von ihren Wurzeln. Und nun hatte es ihr die Kraft gespendet, die sie in ihrer Lage brauchte.