Sabiha tauchte die Kelle in den großen Kochtopf und füllte eine Schale mit dem aromatischen Lammragout. Es war dieselbe Kelle, die Dom Pakos so viele Jahre zuvor in seinen Sfougato getaucht, der letzte Gegenstand, den er im Diesseits berührt hatte, eine genietete Eisenkelle, die seit über fünfzig Jahren im Einsatz war. Sabiha füllte weitere grüne und blaue Schalen mit dem würzigen Eintopf. In der linken Hand hielt sie ein Tuch, mit dem sie die Soßenspritzer von den Rändern wischte, während sie die Schalen auf der Marmorplatte absetzte. Am rechten Handrücken hatte sie einen roten Verbrennungsfleck davongetragen. Die Gäste strömten alle fast gleichzeitig herein. Ihnen stand nur eine knappe Stunde zur Verfügung, und so wollten sie umgehend bedient werden. Jeden Mittag brach im Café die gleiche Hektik los.

John kam aus dem Speiseraum, lud sich drei Schalen auf und trug sie hinaus. Sabiha straffte den Rücken, wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann steckte sie die losen Haarsträhnen wieder unter ihr Kopftuch. Plötzlich bemerkte sie, dass jemand in der Hintertür stand. Mit einem Ruck drehte sie sich um.

Ein heller Sonnenstrahl fiel auf Brunos stolze römische Gesichtszüge. Er hielt eine Kiste Tomaten gegen die Brust gedrückt und starrte Sabiha an. Unter den aufgerollten Ärmeln traten die Sehnen an seinen Unterarmen hervor.

Sie hatte ihn in seiner ganzen Pracht vor sich. Unter seinem eindringlichen Blick schoss ihr das Blut in die Wangen. Ich bin eine gespaltene Frau, dachte sie hilflos.

Ein Schleier von Erschöpfung lag auf seiner glatten Haut, unter seinen Augen zeichneten sich schwere bläuliche Schatten ab.

»Ich muss mit dir reden, Sabiha«, sagte Bruno.

»Ich komme dich Freitag am Stand besuchen.« Sie konnte nicht recht fassen, was sie ihm eben angeboten hatte. »Dann kannst du mir alles sagen, was dir auf dem Herzen liegt.« Ihr Ton war streng. Sie hatte ihm tatsächlich ein Wiedersehen in Aussicht gestellt.

Ohne sich vom Fleck zu rühren, sah er sie an.

»Stell die Tomaten hin, geh in den Speiseraum und iss endlich zu Mittag«, ordnete sie fürsorglich an. »Mach schon, Bruno.«

In diesem Moment trat John durch den Perlenvorhang. Verblüfft sah er die beiden an. »Was soll er machen?«, fragte er.

Bruno setzte die Kiste auf dem Boden ab. Dann richtete er sich wieder auf und sah John gelassen an.

Sabiha spürte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und lehnte sich gegen die kühle Marmorplatte. Sie schloss die Augen – da war sie wieder, die Blinde, die sich in ihre Dunkelheit zurückzog. Sie betete stumm, dass Bruno ihr Geheimnis nicht verraten würde.

»Alles in Ordnung, Bruno?«, fragte John.

»Ja, mir geht’s gut. Und wie geht’s dir? Geht es dir auch gut, John?«, entgegnete Bruno und lachte dreist.

John bewahrte die Ruhe. »Ja, mir geht es auch gut, Bruno. Aber ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«

Schnaubend drückte sich Bruno an ihm vorbei und preschte durch den Perlenvorhang.

Sabiha wandte sich von der Arbeitsplatte um.

John blickte Bruno hinterher, als wollte er ihm folgen und eine Erklärung verlangen. Er holte tief Luft. »Was war denn hier los?«, fragte er zorngerötet.

Sie nahm Doms schwarze Kelle wieder in die Hand. »Wir sollten lieber weitermachen, bevor das Essen kalt wird. Die Männer warten.«

John rührte sich nicht. Als sie ihm keine Beachtung schenkte, raffte er den Perlenvorhang zur Seite und warf einen Blick in den Speiseraum. »Ich werde ihn zur Rede stellen.«

»Weswegen bloß?« Ihr missfiel der Ton, den sie angeschlagen hatte, aber sie konnte sich nicht beherrschen.

»Für den Fall, dass er dir zu nahe getreten ist.«

Als Sabiha ihm in die Augen sah, erkannte sie, dass seine Wut bereits verraucht war. Das war typisch für John. Hatte er etwa schon damit gerechnet, dass sie ihm versichern würde, es sei nichts vorgefallen? Aber dennoch lag ihm die Sache wirklich am Herzen. Er wollte sie klären und nicht einfach darüber hinwegsehen. Sowohl sein Blick als auch seine Haltung signalisierten Entschlossenheit. John war empfindlich, das ja, aber es war nicht unbedingt ein Zeichen von Schwäche. Seit über sechzehn Jahren lebte Sabiha mit ihm zusammen, doch nun fragte sie sich, wie gut sie ihn wirklich kannte.

»John, bitte«, sagte sie in einem sanfteren, leicht flehentlichen Ton. »Du weißt doch, dass Bruno es mir gegenüber niemals an Respekt fehlen lässt.«

»Warum sagst du in letzter Zeit ständig John?«, fragte er eher verwundert als verärgert. »Was ist los mit dir?«

»Ich bin müde«, sagte sie. »Es tut mir leid.« Sie rang um Fassung. Sie würde es schaffen. Ganz bestimmt. Sie würde die Dämonen vertreiben und zum geordneten Alltag zurückkehren.

Er trat auf sie zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Schon gut, Liebling. Mir tut es auch leid. Ich kann dich durchaus verstehen, weißt du.«

Sie wandte sich ab, den Blick auf die Arbeitsplatte gerichtet, und fuhr mit dem Finger über die rötliche Verbrennung an ihrer Hand.

John wartete kurz, aber sie wagte es nicht mehr, ihn anzusehen. Er durchquerte die Küche und nahm einen Stapel Schalen aus dem Regal über dem Holztresen. Dann reihte er die Schalen neben dem Herd auf, stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte und drehte den Kopf nach rechts Richtung Speiseraum, während Sabiha links am Herd stand, mit dem Rücken zu ihm, und die nächsten Schalen mit ihrem scharfen Eintopf füllte. Sie hätte für ihn nach wie vor eine fremde Schönheit sein können, eine Frau aus einer Welt, die er nicht kannte, eine Frau, deren Gedanken er nicht einmal ansatzweise erahnte.

Durch den Perlenvorhang konnte er Bruno im Profil erkennen. John wusste, dass er ein anständiger Mann war. Zuverlässig und immer gut gelaunt. Sie waren zwar keine Freunde, aber sie achteten sich gegenseitig und schätzten die Zusammenarbeit. John hatte Bruno stets für glücklich und zufrieden gehalten. Noch nie hatte er ihn so aufgelöst erlebt wie an diesem Tag.

Bruno starrte auf seine Hände, die er in den Schoß gelegt hatte und nun selbstvergessen knetete. Es war nicht das ängstliche oder sorgenvolle Händeringen eines alten Mannes, sondern wirkte eher wie Dehn- und Lockerungsübungen vor einem Wettkampf.

Nejib und sein schweigsamer Gefährte traten durch die Eingangstür. John ließ sie nicht aus den Augen. Auf dem Weg zu ihren Stammplätzen nickten die beiden ihren Bekannten zu. Nejib setzte sich wie immer so, dass er Bruno das Gesicht zuwandte, während der andere Seite an Seite mit dem Italiener Platz nahm. Sie starrten ihn beide an, als ihnen sein Zustand auffiel, und schauten dann wieder weg. Nejib und sein Begleiter wechselten einen Blick, sagten jedoch nichts. Bruno schien sie gar nicht zu bemerken. John wusste nicht, warum zwischen ihm und den zwei anderen Männern eine solche Feindseligkeit herrschte, aber schon bei Brunos erstem Auftreten im Café war es offensichtlich gewesen, dass sie sich alle drei von früher kannten. Bruno ließ keinen Dienstag verstreichen, ohne Nejib und dessen Gefährten auf die eine oder andere Weise zu provozieren. Immer war es Nejib, der diese Sticheleien abwehrte, aber für John lag es auf der Hand, dass der eigentliche Konflikt zwischen Bruno und dem anderen bestand. Es wirkte so, als wollte der Italiener den schweigsamen Mann stets daran erinnern, dass sie noch eine alte Rechnung offen hatten und Bruno nur darauf wartete, sie zu begleichen. Wahrscheinlich ging es dabei um verletzten männlichen Stolz. Nejib sorgte dafür, dass die Stimmung zwischen den beiden Männern nicht eskalierte, was John mit Dankbarkeit erfüllte.

Er nahm drei volle Schalen von der Marmorplatte, trat rückwärts durch den Perlenvorhang und trug sie in den Speiseraum. Die erste stellte er mit einem Gruß vor Bruno ab. Bruno gab keine Antwort, sondern starrte weiter auf seine inzwischen reglosen Hände. John wollte sich gerade wegdrehen, als Bruno plötzlich zu ihm aufsah, mit dem Ausdruck eines Mannes, der nach einem Sprung in tiefe Gewässer mit Mühe wieder an die Oberfläche kam. Er wollte ihm offenbar etwas mitteilen, aber aus seinem Mund drang kein Laut. John hatte das schockierende Gefühl, dass vor seinen Augen ein Mann in Verzweiflung ertrank.

Er blieb noch eine Weile an Brunos Tisch stehen, wohl wissend, dass die anderen Männer ihn beobachteten. Halb rechnete er damit, dass Bruno ihm von einer schrecklichen Diagnose erzählen würde, einem unheilbaren Bauchspeicheldrüsenkrebs etwa oder irgendeinem anderen Todesurteil, das ihn in der Blüte seines Lebens ereilte. Bruno war aber nicht in der Lage, über sein Leid zu sprechen, stattdessen senkte er den Kopf und musterte wieder seine Hände, als wären sie der Schlüssel zu seinem Unheil. Vielleicht versuchte er, einen äußerst verschlungenen Knoten zu lösen, einen seltsamen Knoten aus Knöcheln und Gelenken, ein unentwirrbares Gebilde. John musste an ein altes Fingerspiel denken, das seine Mutter mit ihm gespielt hatte, als er ganz klein war: Es krabbelt am Füßchen, es kitzelt an den Knien, da kribbelt die Krabbe, wo krabbelt sie hin? Der harmlose Kinderreim bekam auf einmal einen düsteren Unterton.

»Ruhig Blut, Bruno«, sagte er und bediente anschließend Nejib und dessen Gefährten.

Auf manchen Tischen stand neben dem Brot auch ein Krug Wein, aber nie auf diesem Tisch. Als Nejib und der andere das erste Mal ins Café kamen, hatte John ihnen Wein angeboten. Nejib hatte zwar höflich abgelehnt, aber John wusste noch, in welchem Ton der andere auf sein Angebot reagiert hatte. Kalt, verächtlich und hochmütig, als wäre er durch diesen Verzicht allen anderen überlegen. Er hatte seinen stattlichen Schnurrbart gezwirbelt und verkündet: Ich habe noch nie einen Tropfen Alkohol zu mir genommen. John hatte ihn gleich als fanatischen Narren abgetan. Er konnte ihn nicht leiden. Der Mann sprach so gut wie nie und begleitete Nejib offenbar nur widerstrebend ins Chez Dom. Mit seinem ganzen Gebaren gab er den anderen Männern zu verstehen, dass er sich keinesfalls zur Arbeiterschaft zählte.

Einer der Gäste hielt John einen leeren Wasserkrug entgegen. Er ging mit dem Krug hinter den Tresen und füllte ihn unter dem Wasserhahn auf. Diese Männer mussten alle ohne die wohltuende Nähe ihrer Familie auskommen, sie wohnten in billigen Absteigen, lebten von Tag zu Tag, ohne zu wissen, ob der französische Staat ihnen ein dauerndes Bleiberecht einräumen würde. Sie führten eine Randexistenz, brüchig und voller Ungewissheit, wurden täglich durch eine Fülle kleiner Details daran erinnert, dass sie nicht dazugehörten, dass sie ihre Koffer vielleicht von heute auf morgen packen mussten. John konnte sich durchaus in ihre Lage versetzen. Über die Jahre hatte er einigen von ihnen empfohlen, nach Australien auszuwandern. Zwei hatten es tatsächlich geschafft, zusammen mit ihrer Familie. Wenn mal ein Brief aus Australien kam, brachte ihn einer der Gäste zu Sabiha, damit sie den Brief für John übersetzte.

Als die Eingangstür krachend zufiel, blickte John von der Spüle auf und sah Bruno mit gesenktem Kopf am Fenster vorbeigehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. John schaute sich nach Brunos Tisch um: Der Eintopf war unberührt. Die Männer hatten alle aufgehört zu essen, eine ungewöhnliche Stille breitete sich im Café aus. John brachte den Wasserkrug zurück. Ein Gast sagte etwas auf Arabisch, alle lachten, dann aßen sie weiter, und im Raum herrschte wieder das gewohnte Stimmengewirr.

John ging in die Küche, nicht ohne sich zuvor noch einmal im Speiseraum umzusehen.

»Es geht Bruno sehr schlecht«, sagte er zu Sabiha. »Aber ich weiß nicht, wie wir ihm helfen können. Hat er vorhin vielleicht erwähnt, was los ist?«

Sabiha hackte weiter mit größter Konzentration und winzigen Messerstreichen ein Bund Kräuter und tat so, als hätte sie vor lauter Versunkenheit in die vertraute Tätigkeit seine Frage nicht gehört. Der intensive Duft frischen Korianders erfüllte die Küche.