Am nächsten Morgen bereitete Sabiha in der Küche eine Ladung Filoteig zu. Wieder herrschte schönes Wetter, durch die offene Tür fiel Sonnenlicht auf die alten Bodenkacheln. Sabiha konnte die Wärme förmlich riechen. Als sie gerade zwei verschiedene Mehlsorten, die sie mischen wollte, auf der Marmorplatte zu gleichmäßigen Haufen aufschüttete, erkannte sie schlagartig, wie gering die Aussicht in Wirklichkeit war, das Kind jemals zu bekommen. Aus heiterem Himmel befiel sie die finstere Gewissheit, dass ihr Kind nur ein närrischer Traum war. Ihr Herz schien erst mit einem gewaltigen Sprung auszusetzen, dann fing es an, wie wild zu rasen. Sie schloss die Augen, klammerte sich an den Rand der kühlen Marmorplatte. »Gott helfe mir!«, flüsterte sie, während um sie herum die Welt versank.

Aus dem Hintergässchen trat John in die Küche, mit einem Sack Zwiebeln über der Schulter. Bei Sabihas Anblick erstarrte er. Breitbeinig stand sie da, über die Arbeitsplatte gebeugt, drückte mit dem Bauch dagegen, hielt sich krampfhaft am Rand fest, mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Lidern, die Lippen leicht geöffnet. Sie keuchte, und bei jedem mühsamen Atemzug stöhnte oder murmelte sie leise.

John ließ den Zwiebelsack fallen und stürmte auf sie zu. »Liebling, was ist los?«

Sie schob seine Hände weg und wich von der Arbeitsplatte zurück. Mit mehlbestäubten Fingern fasste sie sich an den Hals. »Es ist nichts«, sagte sie. »Wirklich!« Sie brachte sogar ein merkwürdig krächzendes kleines Lachen zustande. »Ich habe mich nur an einem Stück Sesamplätzchen verschluckt.« Sabiha räusperte sich demonstrativ. Das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte, ließ nach. Es ging ihr wieder gut. Mit John hatte das nichts zu tun. Es war auch kein Weltuntergang. Die Zweifel hätten sie fast überwältigt, aber jetzt hatte Sabiha sie abgeschüttelt. Natürlich würde sie ihr Kind bekommen! Das stand außer Frage. »Ich hatte nur kurz das Gefühl zu ersticken«, erklärte sie.

John sah sie ungläubig an. Ihre Augen funkelten so stark, als hätte sie gerade etwas Aufwühlendes erlebt. »Was ist passiert? Was hast du gemacht?«

»Nichts. Das habe ich dir doch eben gesagt. Ich habe mich nur verschluckt«, wehrte sie ab. Sie sah ihn gebieterisch an. »Ich habe zu schnell gegessen. Das ist alles. Du brauchst gar nicht so besorgt dreinzuschauen.« Als sie sich an den Hals fasste, hinterließen ihre Finger weiße Mehlspuren auf der dunklen Haut. Auf einmal hatte sie Lust zu lachen. »Mir geht es gut.« Und dann lachte sie wirklich, ein lautes, beinah hysterisches, leicht unkontrolliertes Schnauben, so stark waren die Gefühle, die in ihr aufkamen. Sie lächelte unwillkürlich. Ab jetzt ist alles anders. Eine aufregende Vorstellung. Die furchtbaren Zweifel hatte sie überwunden, dafür hatte sich in ihr etwas gelöst. Der Stillstand war vorbei. Die Jahre der stummen Resignation, das lange Warten, die quälende Ungewissheit, ob das Erhoffte eintreten würde – das alles war vorbei. Das hieß vielleicht auch, dass John auf der Strecke bleiben würde. Dass sie ihn in gewisser Hinsicht bereits hinter sich gelassen hatte. Sie folgte ihm mit den Augen, als er zur Spüle ging und ein Glas mit Wasser füllte. Er tat ihr leid. Nachdem er ihr das Glas gereicht hatte, blieb er neben ihr stehen und wachte fast schon väterlich darüber, dass sie es austrank. Er nahm ihr das leere Glas ab, stellte es zu den beiden Mehlhaufen auf die Arbeitsplatte und wandte sich ihr wieder zu. Sein Blick verweilte auf ihren Brüsten, die sich unter der weißen Bluse abzeichneten. Sie legte die Hand darauf.

»Was ist?«, fragte er. »Was hast du denn?«

»Nichts. Ich weiß auch nicht.« Erneut musste sie lachen. »Tut mir leid«, sagte sie, immer noch lachend.

Er wollte sie auf den Mund küssen, aber sie wich ihm aus. Sein Verlangen wurde stärker. Er suchte ihren Blick. »Lass uns nach oben gehen«, sagte er und griff nach ihrer Hand. »Komm schon!«

»Lass den Unsinn!« Sie stieß ihn weg und bestäubte dabei sein blaues Hemd mit Mehl. »Ich muss den Filoteig machen.«

»Der Teig kann warten.« Er nahm sie in die Arme.

Sie riss sich los. Wie stark sie war, wie entschlossen. »Lass mich, bitte.« Voller Reue und Bedauern erinnerte sich Sabiha an die Zeiten, als sie einander pausenlos begehrten und immer sofort nach oben rannten, kaum dass Houria aus dem Haus war, lachend stürzten sie sich mitten am Tag aufs Bett und liebten sich im hellen Sonnenschein. »Hör schon auf, John. Wir brauchen den Teig.« Ihre Zurückweisung machte ihm sichtlich zu schaffen, genau wie der Gebrauch seines offiziellen Vornamens.

Bestürzt, wütend ließ er von ihr ab.

»Es tut mir leid«, sagte sie. In Wahrheit war sie froh.

Er drehte sich weg.

Sie sah ihm hinterher, als er die schwere Besteckschublade in den Speiseraum trug. Es tat ihr weh, so viel Ratlosigkeit und Schmerz in seinen Augen gelesen zu haben. Sie wusste, dass sie sich keinen besseren, treueren Ehemann hätte wünschen können, sie wusste, dass er seine Karriere und seine Träume geopfert hatte, um sie zu heiraten und ihr all die Jahre im Café beizustehen. Und sie liebte ihn. Allein die Vorstellung, ihn zu verletzen, war ihr ein Gräuel. Während sie dem Klappern der Messer und Gabeln im Speiseraum zuhörte, wo er die Tische für das Mittagessen eindeckte, überlegte sie, ob sie ihre Schürze abbinden und ihn nach oben ins Bett führen sollte. Doch dann widmete sie sich wieder ihrem Teig.

In den alten Liedtexten steckten die gesammelten Leiden und Wünsche von Frauen aus vielen Jahrhunderten. Ihre Großmutter und die stillen Berberfrauen in den Zeltlagern wären die Einzigen, die Sabiha nicht für verrückt erklären würden, weil sie so fest an ihr Kind glaubte. Leise begann sie zu singen. Die Lieder waren das Vermächtnis ihrer Großmutter. Selbst wenn John und ihre Gäste am Samstagabend gern ihren melancholischen Gesängen lauschten und manchmal sogar von der eigenen Wehmut zu Tränen gerührt wurden, würden sie die Lieder niemals von innen her begreifen. Als sie den Teig durchgeknetet hatte, formte sie daraus eine Kugel und strich mit den Fingern sanft über die seidig weiche Oberfläche. Die schimmernde Teigkugel sah fast aus wie der rasierte Kopf eines Mannes, dem die Gesichtszüge fehlten, eines unvollendeten Mannes, der noch Augen benötigte und eine Stimme. Sie sang leise weiter, während sie den Teig mit einem Tuch umhüllte und auf die kühle Schieferplatte in der Speisekammer legte. Dabei fragte sie sich: Schlägt mein Herz jetzt für immer in diesem neuen Rhythmus?

Sie blieb eine Weile in der Kammer stehen und starrte ins Dunkle.

Der feste Entschluss, endlich zu handeln, war gereift, war aus dem Schatten hervorgetreten, wie ein Boot, das mit seiner seltsamen Fracht still in den Hafen einläuft. Es war gar nicht so schwer. Sie wusste bereits, was zu tun war: Sie würde nicht länger auf ihr Kind warten, sondern es sich holen.

Sie schloss die Speisekammertür, ging zum Kühlschrank und nahm die Lammschulter heraus. Nachdem sie den Braten ausgewickelt hatte, legte sie ihn auf die Platte und schärfte mit ihrem Schleifstab die Klinge des kurzen Ausbeinmessers, betrachtete dabei das bläulich-rote Fleisch des geschlachteten Lamms, die zarten Sehnen und Häutchen, die ganze preisgegebene Pracht. Sie spürte die Verheißung von Dingen, die sie sich nie hätte träumen lassen. Und sie spürte auch ganz deutlich den Segen ihrer Großmutter. In Sabihas Entschlossenheit steckte die Stärke ihrer Großmutter. Sonst wäre sie gar nicht in der Lage gewesen, eine solche Entscheidung zu treffen. Dafür hätte sie weder den Mut noch die Vorstellungskraft aufgebracht.

Sie legte den Schleifstab beiseite und packte mit einer Hand die Schulterrundung. Mit der anderen führte sie die schmale Klinge durch das Fleisch, trennte den Muskel vom weißen Knochen, der in allen Regenbogenfarben schillerte und bisher nie ans Tageslicht geraten war. Sie staunte über das, was die Natur im Verborgenen schuf. Über die Härte der Knochen, die im schmiegsamen Lammfleisch steckten. Warum war diese heimliche Knochenwelt so schön und so furchterregend? Warum brachte sie dieser Anblick heute dazu, über die Seltsamkeit ihres eigenen Lebens zu staunen, warum verstörte er sie so? Sie filetierte das Fleisch und hackte es in kleine Stücke. Den Knochen gab sie anschließend in den Suppentopf, um ihn mit Kräutern köcheln zu lassen.

*

John legte Besteck auf, an manchen Tischen für vier, an anderen für zwei Personen. Die Männer hatten alle ihre Stammplätze. Ein Messer glitt ihm aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Fluchend starrte John auf das Messer. Was war nur mit ihr los? Er holte tief Luft, dann bückte er sich, um es aufzuheben. Eine Weile stand er da und wog es in der Hand, vom heftigen Drang befallen, das schwere Ding gegen die Fensterscheibe zu werfen, er wollte sehen, wie Glas auf die Straße splitterte und Passanten erschrocken zurückwichen. Er hauchte die Klinge an, wischte sie an seiner schwarzen Schürze ab und legte das Messer dann behutsam an den richtigen Platz.

Auf diese Weise arbeitete er sich von Tisch zu Tisch durch den kleinen Speiseraum, deckte für jeden Gast den Platz. André zog am Fenster vorbei, auf dem Rückweg vom Spaziergang mit Tolstoi Nummer vier – oder fünf? Selbst André schien es nicht so genau zu wissen. Er klopfte mit seinem Ring gegen das Glas und winkte John zu.

Noch nie hatte er Sabiha in einer solchen Verfassung erlebt. »John!«, schnaubte er und spürte einen Anflug von Verzweiflung. Nächsten Juni würde sie achtunddreißig werden. Sollte sie je ein Kind bekommen, musste es in den nächsten paar Jahren passieren. Sie sprachen nicht mehr darüber. Sabiha regte sich jedes Mal dermaßen auf, dass es keinen Sinn hatte. Aber vielleicht sollten sie doch darüber sprechen. Vielleicht sollte er darauf bestehen. Bestimmt fühlte sie sich ganz allein gelassen mit ihrer Angst, dass sie ihre kleine Tochter niemals bekommen würde. Aber wie konnte er das Thema ausgerechnet jetzt anschneiden, in dieser Stimmung? Er hätte ein Jahr seines Lebens darum gegeben, die dämliche Bemerkung ungeschehen zu machen, die ihm am Tag zuvor bei Tisch herausgerutscht war. Das war jedoch nur ein Teil des Problems. Im Grunde war alles das Problem, das vor Jahren zwischen ihnen entstanden war und seitdem stetig anwuchs. Es hatte auch mit ihrer Lebensphase zu tun. Die Alten wurden älter und starben, und auf einmal waren sie an der Reihe. Ihnen wurde Veränderung aufgezwungen, obwohl sie selbst im Stillstand verharrten. Die alten Träume schwanden. Und so kam eins zum nächsten.

Als alle Tische gedeckt waren, ging er hinter den Tresen und schenkte sich ein Glas Cognac ein. Er trank es in einem Zug aus, schloss die Augen, schenkte sich nach. Dann zündete er sich eine Zigarette an und trank den nächsten Schluck. Mit dem leeren Glas in der Hand stand er da, stieß Rauch aus und starrte auf das Telefon, das neben dem Tresen an der Wand hing. Der sterbende Vater, die Wechseljahre, die sich wie ein Raubtier, das in ihrem Inneren lauerte, erbarmungslos an sie heranpirschten, und die grausame Tatsache, dass sie allen Anstrengungen zum Trotz nicht Mutter wurde. Das war mehr, als sich auf Dauer ertragen ließ. Er nahm sich vor, nicht in erster Linie an sich selbst zu denken und sie nach Kräften zu unterstützen, in jeder Hinsicht. Ein Leben ohne Sabiha wäre kein Leben.

Er drückte die Zigarette in dem Aschenbecher auf dem Tresen aus und spülte das Glas. Beim Abtrocknen dachte er an seine Heimat. Vielleicht war es für eine Rückkehr zu spät. Vielleicht war er dafür zu lange weg gewesen. Das hatte er sich bisher nie überlegt. Mit siebenundzwanzig war er das erste Mal als junger Mann durch diese Tür gekommen. Im Dezember würde er zweiundvierzig werden, ein Mann mittleren Alters, der auf die fünfzig zusteuerte. Seine Zukunft bot keine Fülle romantischer Möglichkeiten mehr. Er zehrte längst von seiner Zukunft. Sein Leben war gelaufen. Er hatte nichts erreicht. Die Welt und seine Altersgenossen hatten ohne ihn weitergemacht. Er hatte keinerlei Kontakte gepflegt. Selbst seiner Schwester Kathy hatte er seit Jahren nicht mehr geschrieben. Abgesehen von den Briefen, die er halbwegs regelmäßig an seine Eltern schickte, hatte er alle vernachlässigt, die er in Australien kannte. Und seine Eltern lebten ohnehin in der Vergangenheit. Seit sie in diese Altenwohnanlage in Moruya gezogen waren, erzählte seine Mutter von nichts anderem mehr als den herrlichen alten Zeiten, die sie mit ihrem Mann und ihren heranwachsenden Kindern auf der Farm verbracht hatte.

John hängte das Küchentuch an den Nagel und warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollte er seinen Weinhändler aufsuchen, um ihm einmal gründlich die Meinung zu sagen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle, stützte sich mit einer Hand auf den abgewetzten Tresen und blickte durch die offene Tür hindurch auf das vertraute Straßenbild. Das hier würde ihm fehlen. Das Chez Dom und die Nachbarn der Rue des Esclaves. Seine Freunde: André, der alte Arnoul, sogar Bruno, und Nejib, der Sabihas Gesang am Samstagabend so gefühlvoll mit seinem Oud begleitete. Vielleicht noch ein oder zwei der anderen Gäste. Es waren natürlich keine engen Freunde. Mit keinem verband ihn die tiefe, tröstliche Freundschaft, die man mit einem Seelenbruder erlebt. Keiner von ihnen las Bücher. Trotzdem würde er sie vermissen. Er würde den Platz vermissen, den er hier gefunden hatte.

John hatte so lange von einer Rückkehr geträumt, dass er sie gar nicht mehr konkret ins Auge fassen konnte. Der gestrige Anruf von Sabihas Vater hatte diese Rückkehr plötzlich in greifbare Nähe gerückt, aber strebte er sie überhaupt noch an? Er blickte weiter auf die Straße hinaus, atmete den Duft ein, der aus der Küche zu ihm drang, im Sonnenlicht fielen ihm Arnouls verblasste Stoffballen auf, die Kavi-Brüder in ihrem Lebensmittelladen an der Ecke. Wollte er das alles wirklich aufgeben und in Australien wieder bei null anfangen, einem Land, das er nicht mehr kannte, wo man ihn nicht kannte? Er wusste nicht, was er wollte. Die Fenster waren schmutzig, so viel stand fest. Er würde sie putzen, anstatt den Weinhändler aufzusuchen. Wenn es darum ging, mit Franzosen zu diskutieren, war er immer im Nachteil. Eine Rückkehr nach Australien hätte den großen Vorzug, dass er sich wieder täglich in seiner Muttersprache ausdrücken könnte. Wie weit ging wohl seine Entfremdung von der Heimat? Die Sprache war ein wesentlicher Bestandteil seines Lebens, der ihm hier fehlte und immer fehlen würde, solange er in Frankreich blieb. Sabihas Englischkenntnisse waren bescheiden, obwohl er versucht hatte, es ihr über die Jahre beizubringen. Wie würde es dann für sie in Australien werden?

Er holte Eimer und Tücher und fing an, die Fenster zu putzen. Vielleicht würden sie dieses Leben hier einfach weiterführen, ohne dramatische Veränderungen, bis sie allmählich André und Simone und dem alten Arnoul Fort glichen. Die Tage so nehmen, wie sie kamen, bis es irgendwann nicht mehr nötig war, über Veränderungen nachzudenken. Bis es keine Zukunft mehr gab, um die man sich sorgen müsste.