Als am folgenden Nachmittag die Gäste wieder arbeiten gegangen waren und Sabiha die Küche saubergemacht hatte, betrat sie das kleine Wohnzimmer unter der Treppe, legte sich auf die Couch und wickelte sich in eine Decke. John war allein im Speiseraum, er saß am Fenstertisch und las. Draußen regnete es beständig im grauen Novemberlicht, die üblichen Straßengeräusche drangen gedämpft zu ihm durch. Er hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und blinzelte gegen den Rauch an, als André am Fenster vorbeiging, mit der Pfeife im Mundwinkel und hoch erhobenem Regenschirm, angeführt von Tolstoi. Der alte Mann nickte John zu.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Sabiha fuhr hoch, warf die Decke beiseite und sprang von der Couch. Ihr wurde so schwindlig, dass sie sich zunächst an der Armlehne festhalten musste, bevor sie in den Speiseraum stürzte. John hatte den Hörer bereits abgenommen. Er streckte ihn Sabiha entgegen.

»Es ist Zahira«, sagte er und kehrte zu seinem Tisch zurück. Er nahm das aufgeschlagene Buch zwar wieder in die Hand, aber statt zu lesen, betrachtete er Sabiha. Sie sprach Arabisch, so dass er kein einziges Wort verstehen konnte. Sobald sie von Französisch in ihre Muttersprache wechselte, verwandelte sie sich. Es lag nicht nur am breiteren Lautspektrum, sondern auch an ihrer Haltung. Der Klang ihres tunesischen Dialekts war ihm vertraut. In seinen Ohren war er eine Art Musik. Er liebte diesen Klang, der ihm so fremd und doch nah war. Er hatte sogar einen halbherzigen Versuch unternommen, die Sprache zu erlernen. Sabiha war jedoch keine geduldige Lehrerin und er kein gelehriger Schüler. Das war in ihrem ersten Jahr gewesen, als Houria noch lebte. Die Arabischstunden endeten regelmäßig mit Gelächter. Als er daran dachte, musste er lächeln.

Sabiha wandte ihm halb den Rücken zu, sie beugte sich leicht vor und sprach so konzentriert ins Telefon, als versuchte sie, etwas zu sehen. Beim Zuhören bewegte sie unmerklich den Kopf. Wenn sie sprach, war ihre Stimme ruhig und gelassen.

John hatte vergessen, wie man Ich liebe dich auf Arabisch sagt. Das war der erste Satz, den sie ihm beigebracht hatte. Damals lag er auf ihr, in ihrem alten Schlafzimmer unter der Dachschräge, sah ihr in die Augen und wiederholte unablässig die Wörter, während sie zärtlich seine Aussprache korrigierte. »Das wirst du nie hinbekommen«, eröffnete sie ihm, atemlos, weil sein Gewicht auf ihrer Brust lastete. »Du formst die Laute, aber ohne ihre Bedeutung zu erfassen. Du sprichst Arabisch, als ob es Australisch wäre.« Dann lachten sie und liebten sich anschließend. Sabiha hatte auf Anhieb gelernt, wie man Ich liebe dich auf Englisch sagt. Bei ihr klang es wundervoll. John war immer entzückt, wenn er ihre gehauchten Laute im Englischen hörte.

Als sie den Hörer eingehängt hatte, ließ Sabiha hinterm Tresen ein Glas mit Wasser volllaufen und setzte sich dann ihm gegenüber an den Tisch. Bei jedem Schluck, den sie trank, sah sie ihn über den Glasrand hinweg an. Nachdem sie das Glas ausgetrunken hatte, sagte sie: »Zahira hat mir erzählt, dass mein Vater auf mich wartet. Damit er sterben kann. Er ist ungeduldig. Er ist bereit.«

John legte seine Hand auf ihre Hand. »Es tut mir leid, Liebling.«

»Weißt du, was er zu Zahira gesagt hat? Wenn Sabiha herkommt, wird alles gut.« Die Stimme versagte ihr. Wenn Sabiha herkommt, wird alles gut. Sie war so lange fort gewesen. Ihre Heimatverbundenheit hatte einen Riss davongetragen, der nicht mehr zu kitten war. Wenn ihr Vater starb, wäre auch die letzte Verbindung zu ihrer Kindheit gekappt. Vielleicht war es sogar schon längst geschehen und sie stellte es jetzt erst fest. Sie dachte an die Neuigkeit, die sie ihrem Vater mitteilen wollte. An das neue Leben, das in ihrem Leib heranwuchs. An das, was sie ihrem Mann noch nicht zu erzählen wagte. Seit Jahren wollte sie ihrem Vater diese Neuigkeit mitteilen, doch nun würde sie mit Trauer einhergehen. Ihr unbeschwerter Traum gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an.

John stand auf und stellte sich hinter Sabiha. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und massierte ihr mit der anderen behutsam die verspannten Nackenmuskeln. Seine Berührung traf sie bis ins Mark. Sie schloss die Augen und ließ es geschehen.