Seit Doms Tod wusste Houria nicht mehr, was sie mit ihren Haaren anstellen sollte. Dom gefiel langes Haar, ihm gefiel es, wenn sie abends am Frisiertisch saß und vor dem Spiegel ihren Knoten löste und sich die Haare bürstete, während er sie vom Bett aus bewunderte. »Langes Haar ist die wahre Zierde einer Frau«, sagte er gern, wenn sie sich nackt zu ihm legte, und fasste sie um die Taille. Sie schliefen beide nackt. Sommers wie winters. Zu Doms Lebzeiten stand es völlig außer Frage, dass Houria sich die Haare abschneiden ließ. Dabei hatte sie Frauen mit Kurzhaarschnitt insgeheim beneidet, schon eine ganze Weile.
Auch wenn niemand, vor allem nicht Houria, behauptet hätte, dass Doms Tod für sie in gewisser Hinsicht ein Segen war, konnte sie sich jetzt zweifellos mehr Freiheiten erlauben. Gelegentlich ertappte sie sich sogar dabei, das Alleinsein zu genießen, und ihr kam der verwegene Gedanke, dass für sie möglicherweise eine aufregende neue Lebensphase anbrach. Sie hatte damit begonnen, die Haare einfach grau nachwachsen zu lassen. Das war immerhin ein Anfang. Sie scheute nicht vor Veränderungen zurück. Auf der Straße fielen ihr Frauen ihres Alters, auch ältere, mit schickem grauem Kurzhaarschnitt auf, und sie beneidete sie. Nicht, weil sie modischer wirkten, obwohl das durchaus der Fall war, sondern weil sie Houria freier, selbstbewusster erschienen. Als lebten diese Frauen in einer Welt, die sie sich persönlich ausgesucht hatten. In ihrer eigenen Welt, darum beneidete Houria sie. Darum, dass sie irgendwann eine Wahl getroffen hatten. Ihr Gang kam Houria beschwingter vor als der Gang jener älteren Frauen, die wie sie ihre Haare immer noch lang trugen und alle paar Wochen zum Friseur rannten, um sich den grauen Haaransatz nachfärben zu lassen. Nun, da Dom nicht länger bei ihr war, brannte sie darauf, dem erlauchten Kreis der kurzhaarigen Pariserinnen beizutreten, bevor es zu spät war. Aber noch quälte sie sich mit der Frage, ob seit Doms Tod genug Zeit verstrichen war oder ob es sein Gedenken beleidigen würde, wenn sie sich die Haare abschneiden ließ. Vielleicht würden die anderen ja annehmen, sie wäre froh, ihn los zu sein, wenn sie sich im Café und auf der Straße plötzlich mit einer neuen Frisur zeigte. Vielleicht würde sie es selbst annehmen. Das war das Einzige, was sie noch davon abhielt.
Sie blieb im Durchgang zwischen Küche und Speiseraum stehen, raffte den Perlenvorhang beiseite und sah ihrer Nichte beim Tischdecken zu. Sabiha trug ein hübsches blau-weißes Kleid mit gegürteter Taille. Die langen schwarzen Haare hatte sie mit einer blauen Schleife zusammengebunden. Als sie sich aufrichtete und zu ihrer Tante umdrehte, sagte Houria: »Meinst du, dass mir kurze Haare stehen würden, mein Schatz?«
Mit beiden Händen voller Messer, Gabeln und Löffel betrachtete Sabiha ihre Tante, sah eine bald fünfzigjährige Frau mit hochgesteckten Haaren, deren Ansatz stahlgrau hervorstach. »Richtig kurz? Oder nur ein bisschen kürzer?«, fragte sie. Houria hatte ein breites, ansprechendes Gesicht, das von zwei dicken Haarrollen beschwert wurde, als trüge sie einen Kuhfladen auf dem Kopf. Es wirkte sehr unnatürlich und bedrückend. So sah ihre Tante aus wie eine alte Frau. Wie eine Frau, die sich keinen Deut mehr um ihre Erscheinung kümmerte oder im Gegenteil viel zu streng darauf achtete. Als Houria sich einmal übers Altwerden beklagte, hatte Sabiha ihr geantwortet: »Mir kommst du nicht alt vor. Für jemanden in deinem Alter siehst du sogar richtig jung aus.« Da hatte Houria gelacht und ihre Nichte umarmt.
»Nein, richtig kurz«, sagte Houria, fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und zupfte am schweren Fladen. Dabei rieselte Mehl auf ihre Haare, sie machte gerade Filoteig. »Nicht länger als drei oder vier Zentimeter.« Houria hob die Hand und zeigte mit Daumen und Zeigefinger die gewünschte Länge an. »Vier, allerhöchstens fünf. Was meinst du? Ganz ehrlich?« Sie wollte ihre Haarlast so gern abschütteln. Wenn Sabiha es guthieß, würde sie noch am selben Nachmittag zum Friseur gehen und es endlich wagen. Sabiha hatte prachtvolle Haare, lang und glänzend und schwarz wie … na ja, tiefschwarz. Wenn Sabiha sich die Haare abschneiden ließe, wäre das wirklich ein Jammer. Aber darum ging es auch gar nicht. Sie war einundzwanzig, bald würde sie sich einen Ehemann suchen und eine Familie gründen müssen. In ihrem Alter waren lange Haare für eine Frau so lebensnotwendig wie ein Schnurrbart für jeden halbwegs anständigen Mann. Alles hat seine Zeit.
Sabiha lächelte. Ihre Tante stand vor ihr mit der riesigen blauen Schürze und den schweren schwarzen Schuhen, die sie immer trug. Houria war keine schöne Frau. Eigentlich war sie klein und dick. Sie war eine liebenswerte Frau. Aber nicht schön. Diesen ausladenden Busen und die kräftigen Arme und die stämmigen Beine konnte man nicht schön nennen. Eine herzensgute, tüchtige Frau war sie, das ganz sicher, hilfsbereit und großzügig. Das war schon eine Menge. Und jetzt verblüffte sie ihre Nichte mit dieser Eitelkeit. Sabihas Mutter konnte man nicht eitel nennen. Dafür hatte Sabiha keine Anzeichen gesehen, jedenfalls nicht in Bezug auf ihr Äußeres. Ihre Mutter war zartfühlend, umsichtig und wahnsinnig stolz auf ihren Mann, aber eitel war sie nicht. Sabiha versuchte, sich ihre Mutter mit kurzen Haaren vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Houria war ganz anders als ihre Mutter. Sabihas Mutter war wirklich schön. Sie war traurig und schön und hatte geweint, als Sabiha in den Bus stieg, der vor dem Postamt abfuhr. Sabihas Vater hatte jedenfalls nicht das Abziehbild seiner Schwester geheiratet. Sabiha fand es lustig, dass Houria sich derart um ihr Aussehen sorgte. »Probier es doch einfach mal aus«, sagte sie. »Wenn es dir nicht gefällt, kannst du sie ja nachwachsen lassen.«
Houria tätschelte ihr Haar. »Meinst du wirklich, ich sollte es tun?« Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie sich damit in gewisser Weise von Dom trennen würde. Wollte sie sich etwa von ihm trennen? Das nicht, aber sie wollte sich von der gemeinsamen Vergangenheit trennen. Sie wollte eine verheißungsvolle Zukunft. Wollte zu neuen Ufern aufbrechen. Doms Tod nötigte sie, sich von den alten Zeiten mit ihm zu lösen, andernfalls würde sie von nun an nur noch in der Vergangenheit leben. Diese Erkenntnis traf sie ganz unerwartet, und sie wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. War das gut oder schlecht? Das konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es war aufregend, und insgeheim bewunderte sie sich auch dafür. Das Ganze erforderte schließlich Mut.
»Es wächst doch sowieso nach«, sagte Sabiha leichthin, während sie die Messer und Gabeln auf die rotkarierten Decken verteilte. »An deiner Stelle würde ich es tun.«
»Wirklich?« Houria hatte sich eine andere Reaktion erhofft, hätte sich von ihrer Nichte mehr Zuspruch gewünscht. Niedergeschlagen sagte sie: »Dom gefielen die langen Haare.«
Sabiha hielt wieder inne und sah ihre Tante am anderen Ende des kleinen Speiseraums an. Am liebsten hätte sie gesagt: »Hör zu, Dom ist tot. Klar? Also kannst du sie ruhig schneiden lassen. Was macht das schon für einen Unterschied?« Sie lächelte und sagte nichts. Sie hatte Dom ja nie kennengelernt. Und offensichtlich gab es da etwas, das sie nicht begreifen konnte. Menschen waren nun mal eigen. Sie liebte ihre Tante und wollte sie auf keinen Fall verletzen.
Houria zuckte mit den Schultern. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!«
*
Nachdem Sabiha in Paris angekommen war, standen sie am ersten Abend im oberen Hinterzimmer, das Houria für sie hergerichtet hatte. Es war ein hübsches kleines Zimmer direkt unterm Dach, einladend und gemütlich. Darin standen ein Bett mit einer geblümten Tagesdecke und daneben ein Lehnstuhl. Unter der Dachschräge befand sich eine alte schwarze Truhe aus Doms Seefahrerzeiten, die sie als Schrank nutzen konnte. Auf dem breiten Fensterbrett stand eine Schale mit einer herrlich aromatischen Gewürzmischung, wie ein duftender Segen. Sabiha spürte, dass sie hier willkommen war. Houria bat sie, das Fehlen eines Spiegels zu entschuldigen.
»Ich besorge dir einen, mein Schatz, sobald ich die Zeit finde.« Dann fragte sie ihre Nichte, ob sie in Paris etwas Bestimmtes unternehmen wollte.
Sabiha sagte: »Ich habe schon daran gedacht, auf den Eiffelturm zu steigen und mir Paris von oben anzusehen. Die ganze Stadt zu meinen Füßen.«
Houria beugte sich vor und streckte den Zeigefinger durch das Fenster über dem Bett. »Siehst du dieses rote Licht? Dort drüben im Norden?« Sabiha neigte sich ebenfalls vor, so dass ihre Köpfe sich berührten. »Das ist die Spitze des Eiffelturms.« So standen sie beide in das schmale Fenster gelehnt und sahen in den glitzernden Himmel, der sich über die Großstadt wölbte.
»Ist das schön!«, sagte Sabiha. Tatsächlich gibt es auf der ganzen Welt nichts Schöneres als die Dächer von Paris bei Nacht.
»Wir gehen zusammen hin«, versprach Houria. »Ich war noch nie da oben. Dom hatte für Besichtigungen nicht viel übrig.« Sie küsste Sabiha auf die Wange, richtete sich wieder auf und sagte: »Ich habe es mir anders überlegt. Ich werde nicht verkaufen und auch nicht nach El Djem zurückgehen. El Djem ist für mich keine Heimat mehr.« Tante und Nichte sahen sich an. »Ich weiß. Als ich deinem Vater geschrieben habe, war ich völlig außer mir. Doms Tod war für mich ein schrecklicher Schock. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich wusste nicht, was ich sagte oder dachte, ich wusste gar nichts.« Sie nahm Sabiha bei der Hand und führte sie nach unten in die Küche, wo sie für sie beide heiße Schokolade zubereitete. »Und als ich mir endlich klargemacht hatte, was es bedeuten würde, nach Tunesien zurückzukehren, wusste ich auf einmal, dass meine wahre Heimat hier ist. Paris ist der Ort, an dem ich sterben werde.«
»Sag doch so was nicht. Du wirst niemals sterben.«
Sabiha fühlte insgeheim eine freudige Erregung. Sie hatte bereits beschlossen, nur dann nach Hause zurückzukehren, wenn es gar nicht anders ging.
»Hier sind alle meine Erinnerungen«, sagte Houria und sah sich in der Küche um, blickte auf die abgenutzten Töpfe und Pfannen und die Tonkrüge und die Stapel von Schalen und die alten braunen Pichets und die Weinflaschen und das ganze andere Zeug, das sie und Dom über die Jahre zusammengetragen hatten. »Wenn ich jetzt nach Hause zurückkehren würde, hätte ich dort bloß noch ein paar alte verblasste Kindheitserinnerungen. Als Witwe würde ich mit den anderen alten Frauen zusammensitzen und sie über Menschen und Ereignisse schwatzen hören, die mir persönlich nichts sagen. Was könnte ich ihnen schon erzählen? Wenn ich jetzt zurückginge, wäre ich dort einsamer als hier. Ich würde nur auf den Tod warten. Aber dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht.«
»Du bist doch noch jung, Tantchen«, sagte Sabiha.
Houria nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Du riechst so gut. Dich behalte ich bei mir.«
*
Sabiha fuhr mit dem Tischdecken fort.
»Lass sie dir gleich heute Nachmittag abschneiden«, sagte sie bestimmt. Sie genoss den Anblick der Messer und Gabeln und Wasserkrüge und Gläser, die akkurat auf den Tischen platziert waren, bevor die Männer zum Mittagessen anrückten. Nachdem sie ihr Werk stolz in Augenschein genommen hatte, sah sie wieder Houria an.
»Ich begleite dich zum Friseur und schaue zu. Und ich werde deine Hand halten.«
Beide Frauen lachten.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«, sagte Houria.