KAPITEL 36
John Geary stand unter der blauen Markise des SeaRay Sundancer neben seinem alten Freund Roger Bell, der das Boot steuerte. Es war Donnerstagabend, der kühle Ausklang eines strahlenden Septembernachmittags. Sie durchpflügten die Showstring Bay, vorbei an Ryefield Point, und drosselten die Fahrt, als sie in die Pinquickset Cove einfuhren.
Die kleine Bucht grenzte an Crocker Neck, ein Naturschutzgebiet, durch das ein schmaler Kanal nach Fullers Marsh führte. Nirgends ein Haus zu sehen. Nur verlassenes Moorland, das hinter einem hohen Schilfwall lag. Silber- und Blaureiher pirschten sich staksend an ihre Beute heran, Fischadler schwebten bedrohlich am Himmel.
»Ich bin hier schon mal gewesen«, sagte Roger. »Hab mal ein paar Paddler gesehen, aber das war’s auch.«
Geary hatte in seinem langen Leben selten so viel Stille erlebt. »Perfekt«, sagte er.
Al Snow hatte das Cape tatsächlich wie seine Westentasche gekannt, und weil er sein Leben lang geangelt hatte, hatte er auch von Fullers Marsh gewusst. Die Kriminaltechniker waren hier schnell fündig geworden. Nach wenigen Minuten hatten sie bereits Ölflecken auf der Oberfläche der stillen Mündungsarme entdeckt. Damit war bewiesen, dass sich vor nicht allzu langer Zeit ein Motorboot hierher verirrt hatte. An einigen Schilfrohren waren zudem Rückstände weißer Farbe gefunden worden, und es wurde erwartet, dass man im Labor eine Übereinstimmung mit dem Anstrich von Snows Boot feststellen würde.
Hier hatte Snow Emily Parker fast eine Woche lang versteckt.
Sie würden nie erfahren, warum er sich schon am vierten statt am fünften Tag zum abgelegenen Bootssteg in der Shoestring Bay zurückbegeben hatte. Geary nahm an, er hatte bemerkt, dass man ihm auf der Spur war. Er hatte das Schicksal etwas zu sehr herausgefordert, und vielleicht hatte er sogar erwischt werden wollen. Aber andererseits lag ihm wohl auch daran, seine Serie zu einem gelungenen Abschluss zu bringen.
Sobald das Hochwasser in der Bucht eingesetzt hätte, wäre er zurück nach Fullers Marsh gefahren. Es wäre am späten Nachmittag oder frühen Abend gewesen, ungefähr um diese Zeit. Er hätte sich jetzt gerade Sam Parker vorgenommen.
»Warum war diese Nuss so schwer zu knacken?«, fragte Geary. »In der Vergangenheit haben wir fast nie versagt.«
»Wir waren dem Täter auch noch nie so nahe. Wenn man etwas zu dicht vor Augen hat, sieht man nicht mehr klar.« Bell drosselte den Motor, während sie weiter in das Marschland hineintuckerten. »Snow war einer der Besten, mit denen wir es zu tun hatten, findest du nicht auch?«
»Ja, du hast Recht.« Geary atmete die frische salzige Luft ein. »Schade eigentlich, dass wir nicht mehr mit ihm reden konnten.«
»Das finde ich auch, aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir uns eben mit dem wenigen begnügen, was wir wissen.«
Geary hatte Al Snows Haus an diesem Nachmittag zum ersten Mal gesehen. Es handelte sich um ein Mobile Home, das auf einem kleinen Rasenstück aufgestellt war, in einer langen Reihe identischer Grundstücke. Das Haus war mit grauem Aluminium verkleidet. Es gab eine holprige Auffahrt, aber keine Garage. Die Vordertür wurde von zu dicht beieinander liegenden Fenstern flankiert, die wie glänzende Knopfaugen aussahen. Jetzt, wo sie Bescheid wussten, sah es hier durchaus verdächtig aus, aber Geary war klar, dass er Snows Haus ohne Schwierigkeiten mit seiner Einschätzung des Mannes als harmloser Einfaltspinsel in Einklang gebracht hätte, wenn er früher einen Blick darauf geworfen hätte. Der winzige Vorderrasen war bevölkert von geschäftigen Gartenzwergen, die Laternen hielten, Schubkarren vor sich herschoben, Rehe fütterten. Die Inneneinrichtung war unaufdringlich: Wohnzimmergarnitur, Esszimmergarnitur, Schlafzimmergarnitur – alles sah aus wie direkt aus dem Versandhauskatalog. Nirgends war auch nur ein einziges Foto aufgestellt, nicht einmal eins von Snows Tochter. Geary war durch die kleinen Räume gewandert, bemüht, sein verwundetes Ego zu pflegen, und voller Selbstkritik, weil er versagt hatte. Gleichzeitig hatte Amy Cardozas Team eine gründliche Hausdurchsuchung durchgeführt.
Geary hatte neben Amy gestanden, als sie die Klappen eines Pappkartons zurückschlug, den sie im Schlafzimmerschrank gefunden hatte. Ihre Finger zögerten, zu begreifen, was sie vor sich sah: Snow hatte Trophäen aufbewahrt. Aber keine Baseball-Statuetten, Fußballplaketten oder Gedenkmedaillen, sondern Trophäen persönlicher Art, Kleinigkeiten von den Schauplätzen seiner Verbrechen. Die von Sand verkrustete Badehose eines Jungen, die zerkratzte Goldschnalle eines Frauenschuhs, ein zerquetschter Kaffeebecher mit einer Spur Lippenstift am Rand, der blutige Verschluss eines BHs, säuberlich eingehakt, eine schwarze Mütze mit einem limonengrünen Smiley-Anstecker an der Seite, ein altes rotes Nadelkissen, bei dem die Nadeln so tief eingedrückt waren, dass sie von den Löchern verschluckt wurden, die Schlüssel zu Emily Parkers Wagen. Der Karton wurde ins Revier geschafft, wo Amy seinen Inhalt sorgfältig sortierte und etikettierte.
Danach kümmerte sich Amy darum, Snows Lebensgeschichte zu rekonstruieren, damit sie ihren Bericht abschließen konnte. Geary war beeindruckt von ihrer Fähigkeit, nach vorn zu schauen und entsprechend zu handeln. Nicht ein einziges Mal hatte sie die Tatsache erwähnt, dass Snow sie fast getötet hätte und es nur deshalb nicht dazu gekommen war, weil ein Zusammenspiel günstiger Ereignisse Will Parker und die anderen Polizisten rechtzeitig zu dem Boot geführt hatte. Geary wusste, dass bei allem engagierten Einsatz glückliche Zufälle Verbrechen ebenso oft aufklärten wie die erfahrensten Detectives und Profiler. Er starrte in den leeren Karton und fühlte sich selbst leer und erschöpft von den langen Anstrengungen. Plötzlich sah er, dass dort, wo sich die Deckel auf dem Kartonboden überlappten, noch etwas steckte. Er griff hinein und schob das weiße Papier mit dem Fingernagel hervor. Es erwies sich als die Ecke eines Fotos mit Büttenrand, das an drei verschiedenen Stellen zerrissen und wieder geklebt worden war. Es zeigte den kleinen Al im Alter von sieben oder acht Jahren. Er stand in einigem Abstand zu einer Frau mit eiskaltem Blick. Sie trug ein Hemd mit Paisleymuster, und die Sehnen an ihrem Hals waren sichtbar angespannt. Auf der Rückseite wurden die widerwilligen Darsteller dieser eindringlichen Erinnerungsszene in steiler Handschrift identifiziert: Eleanor Snow und Sohn.
Dokumente aus einheimischen Archiven halfen ihnen, sich ein Bild zu machen. Auf Snows Geburtsurkunde war sein Vater als unbekannt angegeben. Im Jahr nach Snows Geburt, 1950, wurde der Name der Snows aus dem Mitgliederverzeichnis der Daughters of the American Revolution entfernt: Töchter der amerikanischen Revolution brachten keine unehelichen Kinder zur Welt. Und angesehene Familien mit Tradition gewährten ihnen anscheinend auch keine Unterstützung. Eleanor Snow, die in einem der vornehmsten Häuser Ostervilles aufgewachsen war, hatte danach in einer Reihe von Asylen für gefallene Mädchen gelebt und war letztlich in Wakeby Park, einem Wohnwagenpark, hängen geblieben, wo es noch nicht einmal Straßennamen gab. Wovon sie lebte, war unklar, aber Dokumenten aus dem Rathaus zufolge war ihr Sohn bei Pflegeeltern aufgewachsen.
Als Snow sieben Jahre alt war, nahm Eleanor ihn bei sich zu Hause auf. Allein in diesem Jahr wurde er fünfmal ins Krankenhaus eingeliefert, wobei seine Verletzungen von gebrochenen Knochen bis zu Verbrennungen an den Fußsohlen und dem Gesäß reichten. In den Krankenhausakten wurden auch Tausende von winzigen Narben auf seiner Brust und seinem Bauch erwähnt. Es handelte sich um die Spuren schwerwiegender Verletzungen, nicht zu vergleichen mit der Vernarbung, die Roger Bell von einer Hautkrankheit in der Jugend davongetragen hatte. Geary dachte sich hinzu, was in den Aufzeichnungen fehlte. Für Snow musste die mangelnde Liebe und Einfühlung seiner Mutter eine Tortur gewesen sein. Er hatte wahrscheinlich nach irgendeiner Spur von Gefühlen bei ihr gesucht – Schmerz, Schuldbewusstsein, Reue –, wenn sie ihm Schmerzen zufügte. Er musste sich nach einem Ausdruck in den Augen seiner Mutter gesehnt haben, den er nicht ein einziges Mal hatte entdecken können.
Eleanor Snow war vor achtundzwanzig Jahren brutal ermordet worden war, ohne dass das Verbrechen je aufgeklärt worden war. Wahrscheinlich hatte Snow sie selbst umgebracht. Aber es hatte ihm nicht gereicht.
Es gab viele Möglichkeiten, die Vergangenheit zu wiederholen. Die Welt war voller Mütter mit siebenjährigen Söhnen.
Snows System war es gewesen, die Mutter fünf Tage lang durch Nahrungs- und Wasserentzug physisch zu schwächen und darüber hinaus seelisch zu demoralisieren, indem er sie in ihren Exkrementen gefangen hielt. Sie würde zwar am Leben bleiben, aber doch ausgelaugt und verwirrt sein, und das würde in Kombination mit dem Muskelhemmer ihren Verstand schließlich für eine Art mentaler Implosion reif machen. Dem Jungen spritzte er eine Überdosis eines Medikaments gegen Nervosität, das jedoch Angstzustände verstärkte – Snow hatte im Verlauf der Jahre experimentiert und sich letztlich für Trifluoperazin, ein Neuroleptikum, entschieden. Er rechnete sich aus, dass jede Mutter, die erleben musste, wie ihr Sohn in schrecklicher Furcht einen langsamen und qualvollen Tod starb, mit ihm sterben würde. Und das taten die Mütter auch, die ersten ganz konkret, die anderen dann nur mental, als Snow sein Folterszenario perfektioniert hatte. Er raubte ihnen den Verstand, indem er sie dem Horror unaufhörlichen Miterleidens aussetzte. Er stellte ihre Liebe auf die Probe, sah zu, wie sie sich in Qualen wanden. Er konnte es.
Wie sich herausstellte, war Snow durchaus nicht so einfältig, wie er aussah. Er war scharfsinnig, einfallsreich und extrem gefährlich.
»Roger« – Geary war unwohl dabei, aber es musste gesagt werden –, »es tut mir Leid, dass ich an dir gezweifelt habe.«
Bell sah ihn mit seinem gesunden Auge scheel an. »Ertappt, nicht wahr?«
»Damit wirst du mich bis in alle Ewigkeit aufziehen.«
Bell lachte. »Ja, und das lass ich mir nicht mehr nehmen.«
»Nur zu. Ich bin bereit zu büßen.«
»So ganz verstehe ich nicht, wie du ausgerechnet mich im Verdacht haben konntest, alter Freund.« Bell richtete den Blick geradeaus, als sie den Kanal ansteuerten.
»Wegen der Corvette. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du sie kaufen wolltest?«
Bell stoppte den Motor, und der Sundancer kam im Marschland zu einem Halt. Hohes Schilf warf seinen Schatten über das Boot. Bell stand auf und kramte in der Tasche seiner Shorts. Dann zog er einen Schlüssel mit einem runden Plastikanhänger, auf dem in Rot STEGNER MOTORS stand, heraus. Geary war nicht erstaunt. Vera Ragnatelli hatte schon bestätigt, dass Ragnatelli’s Vintage Automobiles seit Jahren schon keine Corvette mehr verkauft hatte.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, John.«
Die Geste bestürzte Geary; es war zu viel, zu schnell, zu spät. »Mein Geburtstag war im Juni.«
»Besser spät als nie.«
Geary sah wie gebannt auf den Schlüssel in Bells Hand.
»Nimm ihn.«
»Warum?«
»Du stehst am Anfang deines zweiten Lebens.« Bell grinste und ließ dabei wie immer seine gelben Zähne sehen. Geary fühlte sich augenblicklich noch etwas schlechter als zuvor. »Ich dachte, das könnte dir den Weg versüßen.«
»Nein danke«, sagte Geary. »Ich hätte das Gefühl, mich an deiner Altersversorgung zu vergreifen.«
Bell schüttelte den Kopf. »Ich hatte jahrzehntelang gute Jobs, habe Bestseller geschrieben und Honorare als Berater eingestrichen. Dabei ist mehr herausgekommen, als ich in meiner Alterskasse brauche. Ich habe immer allein gelebt, und es macht mir Freude, dir dies Geschenk zu machen, John. Du bist mein engster Freund, und du schuldest mir jetzt auch was. Also nimm ihn an.«
Aber Geary konnte es nicht. Er hatte für das wenige, was er besaß, sein Leben lang gearbeitet. Dies hier wäre ein Lottogewinn mit dem Schein eines Freundes. »Ich habe mich ja nicht als besonders zuverlässiger Freund erwiesen.«
»Du hast auf die Tatsachen geschaut«, sagte Bell. »Ich hätte dasselbe gemacht.«
»Du wärest also auch zu der Überzeugung gekommen, dass ich ein mordender Psychopath bin?«
»Allerdings.« Bell ließ den Autoschlüssel in Gearys Hosentasche gleiten. »Nebenbei gesagt, er ist vollständig bezahlt.«
Der Schlüssel brannte in Gearys Hosentasche wie glühende Kohle. Er wollte ihn dort nicht spüren, hatte aber Angst, ihn zu berühren. Doch wenn es Roger so viel bedeutete, würde er den Wagen wohl tatsächlich annehmen müssen. Er musste das Thema wechseln, denn sonst würde er rührselig werden, und das war nicht sein Stil.
»Also, Roger, nimmst du an, dass Snow dich bei der Auto-Ausstellung mit dem Wagen gesehen hat? Es war ein schlauer Schachzug, das in seine Story einzuarbeiten.«
»Mich gesehen? Ich habe ihn mitfahren lassen. Er war begeistert. Hat sich gefreut wie ein Junge, der zum ersten Mal auf einem Pony reiten darf. Ich weiß noch, dass ich ihn für einen schlechten Detective und ganz gewiss einen einfältigen Mann hielt.« Roger schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dasselbe hat er wohl auch von mir gedacht.«
»Er hat ein wenig Zeit herausgeschunden und zugeschaut, wie wir rotierten«, sagte Geary. »Hat uns alle zum Narren gehalten.«
»Also, John, was denkst du nach all diesen Jahren? Wird man als psychotischer Soziopath geboren, oder züchten wir sie heran?«
»Wenn ich das nur wüsste. Ich würde das Gen patentieren lassen und in ein Gegenmittel investieren.«
»Du würdest ein reicher Mann werden.«
»Weißt du, dass er eine weiße Perücke getragen hat?«, fragte Geary.
»Mister Snow?«
»Cardoza hat sie heute Nachmittag in seinem Haus gefunden.«
»Ich hätte gedacht, sie wäre immer noch im Krankenhaus.«
»Als sie eingeliefert wurde, war sie nicht bei Bewusstsein, aber kaum wurde sie wach, konnten die Ärzte sie nicht mehr aufhalten. Sie wollte sofort weg. Was hätten sie machen sollen, sie vielleicht einsperren?« Geary lachte in sich hinein. »Vom Krankenhaus wollte sie direkt zu Snows Haus, um sich dem Team anzuschließen. Ich habe sie hingefahren und bin selbst auch noch eine Weile geblieben.«
»Auf der nachträglichen Suche nach Beweisen?«
Geary schüttelte den Kopf. »Nur nach Antworten. Es sieht so aus, als hätte Snow Bobby Robertson ausgekundschaftet und gewusst, dass er jeden Montag pünktlich wie die Uhr dort sein würde. Hat die Perücke zur Tarnung benutzt, als er den alten Ford vom Parkplatz fuhr. Hat dann selbst als anonymer Zeuge angerufen.« Ein Fischadler glitt über den Sumpf. Geary schaute zu, wie der Vogel im hohen Gras von Fullers Marsh verschwand. »Cardoza ist inzwischen wieder auf dem Revier und schreibt ihren Bericht fertig. Das Mädel hat was drauf.«
Bells Augenbraue schnellte bei dem Wort Mädel in die Höhe. Gearys Gedächtnis reagierte wie einer von Pawlows Hunden und erinnerte sich sofort. Der Prozess wegen sexueller Belästigung: Beinahe hätte er sein ganzes Leben ruiniert, und noch jetzt versetzte es ihm einen Schock, wenn er daran zurückdachte.
Nach all diesen Jahren sah er immer noch Penny Aikin vor sich, wie sie ihm den Rücken zugewandt und davongegangen war. Wie konnte ein Mädchen in einer jener blauen Hosen, die in Quantico an alle Auszubildenden, ob männlich oder weiblich, ausgegeben wurden, so hinreißend aussehen?
»Es heißt Agent Aiken, Sir«, hatte sie ihn korrigiert, »und nicht Penny.«
Er grinste. »Agent Aiken, hätten Sie Lust auf ein kleines Spiel?«
Auf ihrem jungen Gesicht zeigte sich eine Andeutung von Respekt. »Was für ein Spiel, Sir?«
»Das erzähle ich Ihnen später genauer. Wir gönnen uns ein paar Drinks und reden über die Ausbildung.«
»Wenn ich mit Ihnen über die Ausbildung sprechen möchte, Sir, komme ich in Ihr Büro.« Dabei trat sie einen Schritt zurück, und er trat vor. Das war ein Fehler – fast ebenso schlimm wie das, was er als Nächstes sagte:
»Ich dachte nur, es wäre außerhalb des Campus ein wenig zwangloser, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Er streckte die Hand aus und schaffte es gerade, die stumpfe Schnittkante ihres rötlichen Haars zu berühren, als sie sich auch schon wie ein guter Junior Agent wegdrehte und die Gefahrenzone verließ. Es hatte ihm sogar Freude gemacht, sie fortgehen zu sehen, und er hatte gedacht, es sei ein gutes Zeichen, dass sie ihm keine Ohrfeige versetzt hatte. Aber er hatte sich furchtbar geirrt, ihr cooler Abgang bedeutete keinesfalls, dass sie den Annäherungsversuch des Direktors der BSU, des Begründers des Programms und des Mentors der Auszubildenden, vergessen hätte. Sie hatte vierundzwanzig Stunden gebraucht, um ihre Beschwerde einzureichen. Es hatte ihn zwei Jahre gekostet, sich dagegen zu wehren.
Letztendlich war es sein größter Fehler in dem ganzen Schlamassel gewesen, dass er sich nie ehrlich mit Ruth ausgesprochen hatte. Er war konsequent bei seiner Geschichte geblieben, dass Agent Aiken als Studentin versagt und daher versucht habe, sich gegen Sex gute Zensuren zu verschaffen. Als er das verweigert habe, sei er von ihr angeschwärzt worden. Da der große Dr. Roger Bell in einem Gutachten bezeugte, dass Special Agent Dr. John Geary ein Musterbeispiel an Integrität sei, war Ruth an die Seite ihres Mannes getreten, und gemeinsam waren sie in den Sonnenuntergang hineingefahren und hatten den Mantel des Schweigens über den Fall gebreitet. Geary fragte sich noch immer, was Ruth wirklich gedacht hatte, bezweifelte aber gleichzeitig, dass er den Mumm besäße, sich ihrer Missbilligung zu stellen. Vielleicht würde er eines Tages in ihrem Tagebuch nachschauen. Vielleicht auch nicht.
»Ich glaube, es ist bereits dreißig Jahre her, dass es hieß, wir sollten sie nicht mehr Mädels nennen«, sagte Bell.
»Ich habe gehört, dass es seit kurzem wieder in Mode gekommen ist.« Geary zuckte die Achseln. »Da soll noch einer durchblicken.«
»Seit wann gibst du was auf die Mode, John?«
»Weißt du was, Roger?« Geary blickte hinauf in den klaren blauen Himmel, der sich ins Unendliche zu erstrecken schien. »Manchmal mag ich den Klang meiner eigenen Stimme nicht.« Geary kramte in seiner Tasche, zog seine Geldbörse hervor, öffnete sie und zog einen Dollarschein heraus.
»Natürlich.« Bell lachte. »Ich hab die Wette gewonnen. Ich kenne dich einfach zu gut, mein Freund. Du hättest es niemals geschafft, diesem Fall den Rücken zu kehren.«
»Nimm das Geld und spar dir deine Häme.« Geary klatschte den Dollar auf Bells Handfläche. »Günstiger habe ich noch nie ein Auto gekauft.«