KAPITEL 1

Emily kam aus dem Wasser und ließ den Blick über den Juniper Pond schweifen. Es war windstill, und ein ruhiger Himmel hing über dem glitzernden See. Kiefern und Schilf säumten das Ufer, unzählige kleine Buchten, die kein Mensch je betreten hatte. Emily hatte jeden Sommer ihres Lebens hier verbracht, aber noch immer gab es Stellen an diesem See, die sie noch nie gesehen hatte. Sie hob die Hand, um die Augen gegen die Nachmittagssonne abzuschirmen. Sam, ihr jüngerer Sohn, torkelte aus dem Wasser und stellte sich tropfend neben sie.

»Warum macht er das?«

Sam zeigte auf den Baum, den sie mittlerweile nur noch den »Greifer« nannten. Die alte Kiefer stand schräg nach vorn gebeugt einige hundert Meter entfernt in einer benachbarten Bucht. Am Fuß ihres Stammes war sie stark gekrümmt, als ob sie mit all ihren Ästen nach etwas greifen wollte, was sich in der Mitte des Sees befand.

»Da muss etwas sein, das der Baum braucht«, erwiderte Emily.

»Oder haben will.« David, ihr Ältester, war herangeschwommen. Emily musste lächeln. »Was will der Baum?«, war die rituelle Frage gewesen, die sie als Kind ihrer Mutter jeden Sommer gestellt hatte.

»Ich nehme an, er will alles«, hatte Sarah stets geantwortet.

Emily entschied sich für eine neue Antwort. »Vielleicht will er ja fliegen«, sagte sie zu ihren Söhnen und wollte Sams nasse Haare zerzausen. Aber er war schon wieder im Wasser und versuchte, den davonschwimmenden David einzuholen.

Einen Moment lang schob sich eine Wolke vor die Sonne. Wasser schwappte um Emilys Zehen. Wie gerne würde sie nochmals mit ihrer Mutter und den Kindern schwimmen gehen, aber sie hatte die Einkaufsfahrt zu lange aufgeschoben. Es musste bereits drei Uhr sein, vielleicht sogar später. Morgen würde sie mit den Kindern zurück nach New York fahren – die Jungen mussten wieder in die Schule –, und sie wollte ihrer Mutter als Dank für den wunderschönen Aufenthalt Lebensmittelvorräte zurücklassen.

Emily hob den Arm und winkte zum Abschied. Metall klirrte an ihrem Handgelenk; das Schloss ihres silbernen Armbands mit den Glücksbringern war wieder aufgegangen. Sie ließ es zuschnappen und rief Sarah zu: »Erinnere mich daran, dass ich mein Armband reparieren lasse.«

»Pass auf, dass du es nicht im Wasser verlierst, Liebes«, rief Sarah zurück. Sie stand bis zur Taille im Wasser und hielt die zappelnde einjährige Maxi auf dem Arm. Die breite Krempe von Sarahs Strohhut warf Punkte aus Licht und Schatten auf Maxis pausbäckiges Gesicht.

Gerade als Emily endgültig aufbrechen wollte, planschte Sam vor ihr herum, um ihre Aufmerksamkeit für seine Schwimmversuche zu erheischen.

»Sammy, du musst deine Bewegungen genauer kontrollieren.« Emily deutete auf David. »Sieh nur.«

David bewegte sich mühelos im Wasser. Er war vollkommen in seinem Element – genau wie sie mit elf Jahren. Sams Schwimmversuche waren hingegen noch nicht von Erfolg gekrönt. Emily beschloss, dass das Einkaufen ruhig noch fünf Minuten warten konnte. Sie watete in den See hinaus, und Sam warf sich ihr so ungestüm in die Arme, dass sie fast hintenüber gefallen wäre.

»Versuch es mal so, mein Kleiner.«

Sie schwamm um ihn herum, ließ die Arme rotieren und warf das Gesicht hin und her, um Luft zu schnappen. David schwamm wie ein junger Delphin an ihre Seite und imitierte ihre Bewegungen. Mit einem Augenzwinkern in Davids Richtung ergriff sie Sams Hand, schwamm rückwärts und zog ihn mit sich. Er strampelte planschend mit den Beinen, unbändige Lebensfreude blitzte in seinen braunen Augen auf.

Sie paddelten hinüber zu Sarah und Maxi, die sofort ihre Arme um Emilys Schultern schlang. Emily zog ihr kleinstes Kind an sich, küsste und drückte es. »Mommy fährt einkaufen, Oma wird schön auf euch aufpassen.«

»Nein!« Eine seidenweiche Wange schmiegte sich an Emilys Hals.

»Mom ist doch gleich wieder da. Ich habe dich lieb. Pass schön auf Grandma auf, solange ich weg bin.«

»Nein!«

»Doch!« Sam spritzte Maxi nass, die sich lachend revanchierte.

»Vorsicht wegen Maxis entzündetem Ohr«, mahnte Emily.

Sarah drehte Maxi zur Seite, und Sam startete einen neuen Schwimmversuch.

»Mom«, sagte David. Er war geschickt und unbemerkt neben sie geglitten. Sie strich ihm eine nasse Strähne aus der Stirn. »Erdbeereis, okay?«

»Brauchen wir noch Waffeln?«

»Ja«, antwortete Sarah.

»Ich versuch daran zu denken.«

»Fahr lieber los, Liebes. Sieh nur den Himmel.«

Emily blickte nach oben. Eine Phalanx von Wolken war dabei, sich vor die Sonne zu schieben. Ein unerwartetes Unwetter braute sich zusammen. Ihr Vater hatte immer Witze darüber gemacht, dass die Wettervorhersage der Cape Cod Times Tag für Tag lautete: »bewölkt, sonnig und trocken mit Regenschauern«. Wenn sie Glück hatte, war sie vom Einkaufen zurück, bevor das Gewitter losbrach.

Sie winkte Sarah und den Kindern ein letztes Mal zu und durchquerte das Wäldchen, das zwischen See und Haus lag. Kaum hatte sie den breiten Graspfad betreten, war sie in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Auf dem Weg hinauf zum Haus, einem der fürs Cape so typischen verwitterten Holzhäuser mit rückwärtiger Veranda, verspürte sie ein Prickeln, als würde sie sich in einen Südseeurlaub davonstehlen oder mitten am Tag ins Kino gehen. Immer wenn sie die Kinder zurückließ, verspürte sie dieselben widerstreitenden Gefühle von schmerzlichem Verlust und verführerischer Freiheit. Vielleicht würde sie bei Starbucks vorfahren und sich einen Eistee holen.

Einen Eistee. Wie leicht ließ sich inzwischen der Tag versüßen. Bevor die Kinder zur Welt gekommen waren, hatte sie als Cellistin der New Yorker Philharmoniker die Welt bereist und war manchmal innerhalb einer einzigen Woche in drei verschiedenen Ländern aufgetreten. Als junge Musikerin hatte sie alles gegeben. Das hatte sie zumindest angenommen. Bis sie sich in Will verliebt hatte. Bis sie Mutter geworden war. Jetzt war sie Hausfrau und nur noch einmal wöchentlich unterwegs, um eine Musickolumne für den Observer zu schreiben. Sie besprach alle Arten von Musik und konnte dabei so subjektiv und respektlos verfahren, wie sie wollte. Ein perfekter Job: Will hatte einen Abend ganz für sich mit den Kindern, ohne dass sie ihm über die Schulter sah, und sie kam mal heraus und wurde für dieses Vergnügen auch noch bezahlt.

Emily erreichte den erfrischend kühlen Schatten der Veranda. Es war einfacher, das Haus durch die Hintertür im Parterre zu betreten. Sie atmete den süßlichen Geruch des Geißblatts ein, das Sarah so gezogen hatte, dass es die Veranda emporrankte. Der Garten, den ihre Mutter angelegt hatte, war grandios, und in welche Richtung man auch blickte, überall stand etwas in Blüte. In diesem Sommer jedoch hatte Sarah den Garten etwas vernachlässigt. Der Tod ihres Mannes Jonah lastete schwer auf ihr, auch Emily vermisste ihren Vater sehr. Das Unkraut, der aufgeschossene Salat, die zu hohen Gräser und verwelkten Blüten, all das beschwor ihn herauf.

Spielsachen lagen verstreut im Wohnzimmer auf dem Boden herum. Emily bahnte sich mit Fußtritten einen Weg und betrat ihr Zimmer, das seit den Sommern ihrer Kindheit zum Gästequartier umgewandelt worden war. All die hübschen Farben hatten einem neutralen Anstrich weichen müssen, die Poster aus ihrer Jugendzeit waren von den Wänden verschwunden. Über dem Bett hing eins der Gemälde, die Sarah von Emily gemalt hatte. Es zeigte sie als kleines Mädchen an der Hand ihres Vaters, der vom Rahmenrand her ins Bild trat. Zwischen den Fenstern hingen zwei gerahmte Fotos: Emily auf der Bühne der Carnegie Hall und Jonah neben seinem ersten Oldtimer.

Emily öffnete die untere Kommodenschublade und erinnerte sich, dass sie bei der großen Wäsche war. Die meisten Kleidungsstücke befanden sich oben in der Kammer neben der Küche, drehten sich in der Maschine oder warteten gestapelt auf dem Fußboden. Sie stieg aus ihrem Badeanzug und zog dieselben Unterhosen und Khakishorts an, die sie schon zum Mittagessen getragen hatte. Dann hielt sie sich ihr blaues Hemd vor die Brust und ging nach oben in die Kammer, um in den Wäschestapeln nach einem BH zu suchen. Anscheinend waren all ihre BHs mit der Weißwäsche in der Maschine gelandet, die sich gegenwärtig durch den Hauptwaschgang quälte. Also schön, sie würde alle Vorsicht in den Wind schlagen und ohne BH gehen; wenn jemand unbedingt hinschauen musste, war es eben sein Problem. Sie schlüpfte in ihre Ledersandalen und vergaß auch ihre Sonnenbrille nicht, bevor sie zur Tür hinausging.

Es war Labor Day, und auf der gesamten Route 151 herrschte dichter Verkehr bis zum Stop & Shop. Als sie das Einkaufszentrum endlich erreichte, hatte sich das Gefühl des willkommenen Ausbruchs in der Hitze vollständig verflüchtigt. Sie würde den Einkauf so schnell wie möglich hinter sich bringen und nach Hause fahren. Vorsichtig lenkte sie ihren weißen Volvo Kombi durch die Reihen der parkenden Autos, bis sie in der äußersten Ecke einen Platz fand. Anscheinend hatten alle anderen die Wolken in der Ferne ebenfalls gesehen und sich auf den Weg gemacht, um dem Regen zuvorzukommen. Im Augenblick jedoch konnte sie keine Wolke mehr sehen, der Himmel war blau.

Im Laden machte sie ihre übliche Runde und ging zunächst in die Feinkostabteilung. Dort gab es einen neuen Computer, der den Einkauf erleichterte: Statt sich in einer langen Schlange anzustellen, tippte man einfach seine Bestellung ein. Sie würde von dem Aufschnitt und dem Schnittkäse, den ihre Mutter so gerne mochte, so viel kaufen, dass diese bis zum Ende der Woche damit auskommen würde. Sarah blieb stets bis Ende September auf dem Cape, bevor sie in ihre eigene Wohnung in Manhattan zurückkehrte, und Emily hatte sie gedrängt, bei dieser Gewohnheit zu bleiben, obwohl Jonah nicht mehr da war. Der Computer der Feinkostabteilung spuckte einen Bon aus, auf dem stand, dass Emily ihre Sachen in zwanzig Minuten an der Ausgabestelle abholen konnte.

Als sie den Gang mit Gemüse erreichte, entschied sie sich spontan, beim Abendessen Mais zum gegrillten Lachs zu machen. Sie blieb bei dem Behälter mit frischen Maiskolben stehen, wo ein Mann damit beschäftigt war, seine Kolben mit großer Sorgfalt auszuwählen. Er tastete jeden einzelnen ab, als würde er ein Ritual vollziehen. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Der Mann schien in den Fünfzigern zu sein und hatte teigig graue Haut, die zu seinem weißen Haar passte. Eine marineblaue Matrosenmütze saß schief auf seinem Kopf. Er hatte eine weiße Windjacke an und war damit außer den Angestellten in der Fleischabteilung der Einzige im ganzen Geschäft, der an diesem heißen Sommertag eine Jacke trug. Als sie sich schließlich abwandte, um nicht länger ihre Zeit zu verschwenden, sagte er schroff: »Das wär’s. Ich bin fertig.«

Er blickte auf und starrte ihre Brüste an. In diesem Moment bereute sie ihre tapfere Entscheidung, auf einen BH zu verzichten. Dann senkte der Mann den Blick, berührte drei weitere Maiskolben, legte die Tüte in den Einkaufswagen und schlurfte davon. Zu Hause in Manhattan hätte sie mit einem gleichgesinnten Käufer einen wissenden Blick ausgetauscht und »So was gibt’s eben nur in New York« gemurmelt. Aber hier auf dem Cape, in diesem etwas außerhalb gelegenen überfüllten Supermarkt kam sie sich allein vor. Dieser Mann war höchst sonderbar.

Emily musste mindestens ein Dutzend Maiskolben in die Hand nehmen, bis sie endlich sechs gute gefunden hatte, und dann war der seltsame Mann zu ihrer Erleichterung nicht mehr zu sehen. Sie machte sich daran, ihren Einkaufszettel abzuarbeiten. Thunfisch und Erdnussbutter für die Sandwiches für die morgige Heimfahrt. Cracker, damit Maxi ihr Knabbervergnügen hatte. Diese grässlichen Fruchtgummis, die die Jungen so gern mochten. Kartons mit Fruchtsaft. Kleine Wasserflaschen. Eine Extradose mit Sarahs Tee, für den Fall, dass ihr Vorrat zur Neige ging.

Emily steuerte gerade den Gang mit Brot an, um die Lieblingssorte ihrer Mutter zu suchen, als sie den Maismann wieder sah. Langsam schob er seinen Wagen voran, den Blick starr nach vorn gerichtet. Sie überholte ihn zügig, unsicher, ob er sie bemerkt hatte. Am Ende des Ganges fand sie das gewünschte Brot und war unverhältnismäßig erleichtert.

»Haben Sie nicht bemerkt, dass es weg war?«

Eine ältere Frau mit blond gebleichtem Haar und zu viel Make-up stand neben Emily und hielt ihr das silberne Armband entgegen.

»Mir ist es vorhin bei Ihnen aufgefallen, weil ich auch so eins habe.« Die Frau hob ihr Handgelenk, um ihr eigenes Armband zu zeigen, an dem doppelt so viele Glücksanhänger baumelten wie an Emilys, alle aus Gold. »Es ist direkt in den Maisbehälter hineingerutscht. Da haben Sie aber Glück gehabt, dass ich gleich nach Ihnen kam. Ich bin Ihnen extra gefolgt.«

Emily nahm ihr Armband samt Anhängern – ein Schwimmer, ein Cello, ein Schwert, ein Herz, drei Babys und eine Münze – und schloss die Hand darum. Sie genoss das Gefühl des kühlen Silbers auf der Innenfläche ihrer Hand. Nach Davids Geburt hatte sie das Armband von Will geschenkt bekommen und es seither jeden Tag getragen.

»Ich verstehe gar nicht, wie mir das passieren konnte«, sagte Emily. »Ich habe nicht mal gemerkt, dass es weg war.«

»Ich hüte meins wie meinen Augapfel«, sagte die Frau.

»Wie viele Kinder haben Sie denn?« Emily war aufgefallen, dass die meisten der goldenen Anhänger Babys waren.

»Vier Kinder, neun Enkelkinder. Und noch kein Ende abzusehen.« Die Frau zwinkerte ihr zu. »Lassen Sie es reparieren, bevor Sie es wieder tragen.«

»Bestimmt.« Emily ließ das Armband in die Tasche ihrer Shorts gleiten. »Ich habe es immer wieder verschoben, den Verschluss reparieren zu lassen. Das war jetzt ein Alarmsignal.«

»Ich sag immer, das Leben ist eine Kette von Alarmsignalen.«

»Da haben Sie Recht.«

Die beiden verabschiedeten sich, und Emily sagte sich, dass sie sich deshalb vorher so seltsam gefühlt hatte. Es hatte nicht an dem Maismann gelegen. Sie hatte ihr Lieblingsarmband verloren, das sie niemals abnahm, und sie hatte es nicht bemerkt, zumindest nicht bewusst. Beeindruckend, wie der Verstand unterschwellig Dinge registrierte, die einem selbst erst später bewusst wurden.

Ihr Einkaufswagen war voll, und es wurde Zeit, zum Feinkosttresen zurückzukehren, um die Bestellung abzuholen. Sie bahnte sich den Weg und staunte über die Warenvielfalt, die in diesen Megastores auf dem Land angeboten wurde. Wegen der Raumknappheit hatten die Läden in der Großstadt nichts auch nur annähernd Entsprechendes zu bieten. Sie blieb bei einer Tonne stehen, die mit rosa, gelben und blauen Plastikbechern gefüllt war. Ein Schild erklärte, dass es sich um »Zauberbecher« handele, die ihre Farbe änderten, wenn kalte Getränke eingefüllt würden. Sie wusste, dass die Kinder davon begeistert sein würden und kaufte von jeder Farbe zwei.

Emily hatte den Feinkosttresen fast erreicht, als sie ihn wieder sah. Der Maismann stand wieder vor dem Mais. In dem Moment, als sie ihn bemerkte, hob er den Kopf und erblickte sie. Schnell schaute er weg und berührte drei weitere Kolben. Emily las die Nummer auf ihrem Bon, holte sich ihren Aufschnitt an der entsprechenden Ausgabe und ging zwei Gänge weiter, um dem Maismann an der Kasse nicht nochmals zu begegnen.

Das merkwürdige Gefühl von vorhin war wieder da, von dem sie gehofft hatte, dass es nicht mehr wiederkehren würde. Instinktiv griff sie in die Tasche ihrer Shorts und suchte nach dem Armband. Es war noch da.

Glücklicherweise waren die Warteschlangen jetzt nicht mehr so lang, und Emily erreichte schnell die Kasse. Sie stellte ihre Einkäufe auf dem Transportband ab und verstaute sie in Tüten, sobald sie ihr auf der schrägen Ablage entgegengerutscht kamen. Sie war damit fast fertig, als sie bemerkte, dass der Maismann direkt hinter ihr an der Kasse stand. Sein Einkaufswagen war halb voll, ausschließlich mit Maiskolben. Mit akribischer Genauigkeit legte er jeweils drei Kolben nebeneinander auf das Transportband. Der Teenager an der Kasse, dunkel gebräunt mit Ringen an jedem Finger, verdrehte die Augen, und Emily nickte zustimmend. Sie wartete schweigend, bis die Kassiererin die Kreditkarte mit dem typisch ratschenden Geräusch durchgezogen hatte und die Maschine den Bon ausdruckte. Emily kritzelte ihre Unterschrift auf die Quittung und schob ihren Einkaufswagen dann in aller Eile zum Ausgang.

Es war eine Erleichterung, wieder im Freien zu sein und diesen seltsamen Mann hinter sich gelassen zu haben. Sie konnte es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Als ihr beim Öffnen der Kofferraumtür ein Schwall abgestandener Hitze ins Gesicht schlug, nahm sie sich vor, unbedingt noch einmal zu schwimmen. Vor ihrem geistigen Auge sprang sie in ihrem roten Badeanzug in den kühlen See. In ihren Ohren klang bereits das Gelächter ihrer Kinder.

Das Crescendo ihres Handyklingelns holte sie in die Gegenwart zurück. Sie grub in ihrer Tasche, fand das Telefon und nahm das Gespräch an.

»Sie haben unser Angebot akzeptiert!« Will war am Apparat.

»Was für ein Angebot?«

»Das ich gestern für das Haus gemacht habe. Ich wollte dir nichts sagen. Es sollte eine Überraschung sein.«

»Das ist es tatsächlich. Heißt das, dass du den Job bekommen hast?«

»Mein drittes Vorstellungsgespräch ist für Mittwoch angesetzt.«

»Aber Will …«

»Schatz, die laden mich nicht dreimal ein, wenn sie mich nicht wirklich haben wollen.«

»Ich finde nur, wir sollten mit dem Haus warten, bis du den Job definitiv hast. Du weißt doch, dass wir es uns nicht leisten können …«

»Häuser wie das gehen in null Komma nichts weg, Em. Es ist doch nur ein Angebot. Im schlimmsten Fall verlieren wir unsere Anzahlung, aber das sind nur ein paar tausend Dollar, und das Risiko ist es doch wert, meinst du nicht?«

»Wenn du den Job kriegst, dann schon.«

»Mach dir keine Sorgen, manchmal muss man eben mit hohem Einsatz spielen.«

Emily sah sein attraktives Gesicht mit den vielen Lachfalten vor sich. Sie spürte seine Zuversicht, seinen Mut, sich ins Ungewisse zu stürzen. Bisher waren sie immer wieder auf den Füßen gelandet.

»Ich weiß, Will, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.« Sie lud die Eiscreme in eine schattige Ecke des Kofferraums.

»Mach dir keine Sorgen. Bevor wir keinen Vertrag unterschrieben haben, ist nichts endgültig. Und bis dahin wird sich auch entschieden haben, ob ich den Job bekomme.«

»Weißt du was?« Emily räumte mit ihrer freien Hand automatisch die Einkäufe in den Kofferraum: Toilettenpapier und Snacks. Milch und Aufschnitt. Zauberbecher. »Ich bin ja sicher, dass es klappen wird, das habe ich im Gefühl.« Sie wusste, wie sehr ihn das Haus in Brooklyn Heights mit seinen weitläufigen Zimmern und den stuckverzierten Decken reizte. Sie würden endlich genügend Platz für alle haben und darüber hinaus den Ausblick auf den East River, der sich um die Südspitze von Manhattan schlängelte.

»Genau, immer positiv denken«, sagte er. »Wo bist du gerade?«

»Auf dem Parkplatz vom Supermarkt. Und es ist so heiß hier.«

»Fahr nach Hause, Schatz. Gib den Kindern einen Kuss von mir. Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen, bevor es hier richtig voll wird. Der neue Manager kommt ohne mich noch immer nicht zurecht.«

»Was können Sie mir heute empfehlen?«, fragte sie in dem Ton, in dem die Jungen immer die neuesten Witze erzählten.

»Wenn heute Montag ist …«

»… dann ist die Spezialität des Hauses wie immer Fisch!«

Beide lachten. Emily schlug den Kofferraum zu.

»Also gut, Liebster«, sagte sie. »Ich muss zurück zu Sarah. Wir reden später.«

Er schickte ihr übers Telefon einen hörbaren Kuss, was er nur machte, wenn es noch ruhig im Restaurant war. Auch wenn das Madison Square Café ihn nicht als neuen geschäftsführenden Direktor anstellen würde, würde er sich im geschäftigen Tohuwabohu bei Rolfs weiterhin wohl fühlen, das wusste sie genau. Obwohl sie ihr Traumhaus dann abschreiben mussten.

Sie beendete das Gespräch und ließ das Handy wieder in ihre Handtasche fallen. Ein Schatten zog über sie hinweg, und in der Erwartung, dass die Wolken sich wieder zusammengezogen hatten, blickte sie hinauf in den Himmel. Sie registrierte gerade noch, dass er blau war, bevor ein ätzender Lappen auf ihr Gesicht gepresst wurde. Dann wurde es dunkel.