KAPITEL 29

Der Maismann gab Emily eine weitere Spritze in den Arm. Sie spürte, wie sich die Taubheit noch verstärkte. Dann trat er hinter sie und zupfte an der Augenbinde. Sie rutschte herunter. Absolute Dunkelheit. Emily konnte ihre Augen nicht öffnen. Der Klagelaut eines zu Tode erschreckten Kindes ertönte. Sam. Die Fingerspitzen des Maismannes drückten ihre Lider auf wie Schiebetüren.

Die Dunkelheit wurde zerrissen von gleißend hellen Punkten. Ihr erster Impuls war, die Augen zu schließen, doch es ging nicht. Sie blieben offen, und das Licht drang wie Nadelstiche in sie ein. Als sie schließlich etwas erkennen konnte, war es Sammy, der vor ihr gefesselt auf dem Boden lag. Seine Beine waren mit sauberen weißen Stricken zusammengebunden, seine Hände hinter dem Rücken fest verzurrt. Ein Streifen schwarzes Isolierband verschloss ihm den Mund. Sein Kopf war ihr zugewandt, und seine weit aufgerissenen Augen flehten: Mom, hilf mir. Sein Blick verlangte, dass sie die kurze Entfernung überwand, die zwischen ihnen lag, um ihre Pflicht zu tun und ihn zu retten.

Emily verzweifelte. Nicht mal ihre Lider ließen sich bewegen. Kein Teil ihres Körpers fügte sich ihrem Willen, allein in ihrem Gehirn sah und hörte und spürte sie alles.

Sammy musste denken, dass sie ihn im Stich ließ, dass sie ihn nicht liebte, dass er ihr gleichgültig war. Dabei wollte alles in ihr ihm helfen. Vergebens. Ihr Körper streckte sich nicht nach ihrem Sohn.

Sams Körper zuckte auf dem Boden. Etwas stimmte nicht. Hatte der Maismann ihm etwa auch irgendeine Spritze gegeben?

Sie hörte die Schritte, aber diesmal kam der Maismann nicht zu ihr. Er ging zu Sam. Ein Paar weißer Bootsschuhe tauchte hinter Sammy auf. Weiße Hosen krümmten sich, und Knie erschienen in ihrem Gesichtsfeld. Der Maismann setzte sich mit überkreuzten Beinen direkt hinter Sam.

Und zum ersten Mal, seit sie sich dort befand, sah sie den Maismann. Und er war es nicht.

Der Mann, der hinter ihrem Sohn saß, war ihr völlig fremd, entsprach nicht einmal ihrer Phantasievorstellung. Dieses Monster, das sie unten in seinem Boot gefangen gehalten hatte wie einen sterbenden Aal. Dieser Freak, der ihr Kind zu seiner Jagdbeute gemacht hatte.

Sams Blick richtete sich auf den Mann direkt hinter ihm. Sein Körper wand sich in heftigen Zuckungen. Der Mann blickte auf ihn hinab und schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal hörte sie seine Stimme, nasal und etwas unwirsch.

»Hat deine Mutter dir nie gesagt, dass du nicht mit fremden Menschen sprechen sollst?«

In Emilys Körper raste der reine Hass. Sams Augen waren voller Furcht.

Der Mann sah Sam kopfschüttelnd an, als sei er ungezogen. Dann neigte er den Kopf zur Seite, als überlegte er, wie er sie beide bestrafen sollte.

»Nehmen wir ihm seine Pokémon-Karten weg, oder?«

Sie würde ihn mit Blicken töten.

»Spiele für Sam, Bücher für David.«

Er kannte ihre Namen.

»Und was ist mit Moms Lieblingsbeschäftigung?«

Er stand auf, ging durch den Raum, nahm etwas aus einer Schublade und kehrte zurück. Auf seiner Handfläche lag ein erdbeerrotes Nadelkissen, in dem Hunderte Nadeln säuberlich aufgereiht steckten.

Das Gesicht des Mannes war unbeweglich und tot. Er beobachtete ihre Reaktion.

Emilys Geist war nur noch Angst. Reine Angst.

Das Monster starrte ihr in die Augen. »Wir haben noch Zeit«, sagte es dann mit seltsam sanfter Stimme. »Es hat keine Eile.« Er stand auf und ging zur Luke. Als er sie öffnete, brach das Licht herein, und sie war geblendet. Sie hörte, wie er langsam die Leiter hinaufstieg, die Luke schloss und dann das Boot verließ.

Sie mühte sich angestrengt, Sammy mit ihren Blicken zu sich zu holen, mit ihm zu verschmelzen. Mein Liebling, lass meinen Blick dich halten, komm zu mir in Sicherheit.