KAPITEL 8

Detective Amy Cardoza fuhr kurz vor ein Uhr am Haus der Parkers vor. Es war ein langer Morgen gewesen. Police Chief Kaminer hatte von dem neuen Vermisstenfall gehört und Snow befohlen, bis zum Appell zu bleiben, dann nach Hause zu fahren und sich kurz auszuruhen. Das beunruhigte Amy ziemlich. Nach drei Jahren Streifendienst war sie gerade erst zum Detective befördert worden und hatte noch keinen Partner, mit dem sie zusammenarbeitete. Snows Partner war vor kurzem in den Ruhestand versetzt worden. Amy hatte gehofft, dass Kaminer die Karten neu mischen und ein anderes Team trennen würde, aber es sah nicht so aus. Im Gegenteil, Kaminer hatte Snow für fünfzehn Uhr auf die Wache zurückbestellt. Die Vermutung, dass er mit Amy zusammen für den Tagesdienst eingeteilt würde, lag auf der Hand. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Ihr Verhältnis zu Snow stand unter keinem guten Stern. Seine Familie war mit der Mayflower gekommen, in Plymouth gelandet und hatte auf dem Cape gesiedelt. Ihre war hundert Jahre später auf einem Walfänger aus Portugal gekommen, lange genug nach den Engländern, um von ihnen als Eindringlinge angesehen zu werden. Dennoch waren sie geblieben. Zweihundert Jahre lang. Ihr Vater war das erste Familienmitglied gewesen, das das Cape verlassen hatte. Er hatte eine irische Schauspielerin geheiratet, die mit einem Sommerensemble in der Stadt aufgetreten war. Dann war er mit ihr nach Boston gezogen, um sich ihrer umfangreichen Familie anzuschließen. Amy und ihre beiden jüngeren Schwestern hatten alle die helle Haut ihrer Mutter und das pechschwarze Haar und die braunen Augen des Vaters. Ihr Vater hatte sie scherzhaft seine »portugiesischen Blumen« genannt. Sein Ziel war es gewesen, dass sie als wahre Amerikanerinnen Jura, Medizin oder BWL studieren würden, um den langen Prozess der Assimilierung zu vollenden. In Cape Cod sollten sie nichts weiter sehen als einen Ort, den er hinter sich gelassen hatte, das war sein Credo gewesen.

Als Amy sich entschied, die Polizeiakademie zu besuchen, und schließlich auch noch die Berufung nach Cape Cod annahm, hatte niemand in der Familie sie verstanden. Sie erfuhr sehr schnell am eigenen Leib, warum ihr Vater fortgegangen war. Auf dem Cape waren Ehen zwischen Portugiesen und Schwarzen Tradition, und darum wurden die Portugiesen wie die Schwarzen behandelt: als Bürger zweiter Klasse. Vor allem von blütenweißen Einheimischen wie den Snows. Für die Blaublütler waren sie wie die Sommergäste – ewige Außenseiter, deren Anwesenheit nur toleriert wurde, weil sie die Wirtschaft ankurbelten.

Sie wusste, dass Snow sie schon aufgrund ihres Namens verabscheut hatte, bevor er sie überhaupt kennen gelernt hatte. All die Jahre, die sie Streife gefahren war, hatte er sie ignoriert. Und jetzt hatte sie sogar die Kühnheit besessen, in seinen Rang aufzusteigen.

Ihre Kollegen frotzelten schon, dass Kaminer nur gelangweilt war und nach Unterhaltung suchte. Nur, Amy würde sich nicht einschüchtern lassen. Sie würde es allen zeigen und der beste Detective werden, den sie je gesehen hatten.

Vor dem Haus der Parkers standen zwei Jungen, warfen Steine die Straße hinunter und kennzeichneten die Stellen, wo sie gelandet waren, mit Kreidestrichen. Der jüngere ging ganz in dem Spiel auf, der ältere hingegen bemerkte den Streifenwagen und rannte ins Haus. Amy hatte noch keinen zivilen Wagen zugeteilt bekommen, und sie vermutete, dass Kaminer ihr auftragen würde, sich mit Snow dessen Wagen zu teilen.

Sie parkte das Auto vor einem üppigen Sommergarten, der von handgeschichteten Steinen umrahmt war, stieg aus dem Wagen und lächelte den kleinen Jungen an.

»Ich dachte, Sie wären von der Polizei.«

»Bin ich auch, sozusagen. Ich bin Detective.«

»Und wo ist Ihre Uniform?«

Ihre Leinenhosen und das blaue T-Shirt waren offenbar eine Enttäuschung für ihn.

»Detectives tragen normale Kleidung.«

»Und Sie schnappen Verbrecher, so wie die Polizei?«

Amy nickte. »Ich versuche es.«

»Meine Mommy ist verschwunden, glaub ich.« Er ging zum Streifenwagen und spähte hinein. Sie wusste nicht, ob er nach seiner Mutter Ausschau hielt oder nur die Ausrüstung und die technischen Geräte bewunderte, die vorne drin lagen.

»Bist du schon mal in so einem Wagen mitgefahren?«, fragte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf.

»Nun, vielleicht ergibt es sich ja demnächst mal.«

»Wieso nicht jetzt?«

»Ich hab im Moment ein bisschen was zu tun.« Amy beugte sich zu Sam hinunter. »Außerdem würdest du sowieso die Erlaubnis deiner Eltern brauchen. Das weißt du doch, nicht wahr?«

Er nickte.

Aus dem Inneren des Hauses hörte Amy immer lauter werdende Stimmen. »He, ist dein Daddy zu Hause? Oder deine Großmutter?«

Im selben Moment stieß Will Parker die Fliegentür auf. »Detective! Ich sehe, Sie haben Sam kennen gelernt.«

Amy lächelte Will an. »Ja, das hab ich. Ist alles okay?«

»Sam«, sagte Will, »geh mit David nach unten. Die Erwachsenen müssen sich unterhalten.« Sam lief ins Haus.

»Hübscher Garten.«

»Meine Schwiegermutter Sarah hat einen grünen Daumen.«

»Das sieht man.«

»Irgendwelche Neuigkeiten, Detective?«

»Nein. Aber es haben Leute angerufen. Anscheinend hat jemand Plakate aufgehängt.«

Will nickte. »Sarah. Wir haben gerade darüber diskutiert.«

»Diskutiert«, sagte Amy.

»Die Situation ist neu für uns. Wir wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen.«

»An sich ist daran nichts auszusetzen.«

Sarah erschien in der Fliegentür, Maxi auf der Hüfte. »Also war es kein Fehler?« Sie schloss die Tür hinter sich und trat zu ihnen. Amy bemerkte die dunklen Ringe unter Sarahs Augen und ihre dünne Haut.

»Alles, was uns bei der Arbeit helfen kann, ist uns willkommen. Es wäre jedoch besser gewesen, wenn Sie sich mit uns abgestimmt hätten. Wir hätten Ihnen ein paar Ratschläge geben können, was darauf erwähnt werden sollte.«

»Wir wollen nur Emily finden.« Sarah strich ein Löckchen hinter Maxis Ohr.

Amy unterdrückte den Impuls, die Wange des kleinen Mädchens zu streicheln. »Ebendas wollen wir auch.«

»Ich bin heute Morgen zu dem Supermarkt gefahren«, sagte Will. »Der Wagen stand da, und ich hab rumgefragt …«

»Ich weiß. Ich komme gerade von dort.«

»Es hat letzte Nacht geregnet.« Es klang wie ein Vorwurf, so als hätte sie persönlich den Wettergott gebeten, die Überlebenschancen seiner Frau zu verschlechtern. Doch Amy wusste nur zu gut, dass sie die Anspannung der Familie nicht persönlich nehmen durfte.

»Mister Parker, ich habe in diesem Moment ein Team von der Spurensicherung an Ort und Stelle. Der Wagen wird sichergestellt. Wir werden jeden Quadratzentimeter mit dem Mikroskop untersuchen.«

»Wann?«

»Heute. Jetzt in dieser Minute.«

»Warum hat das so lange gedauert?«

Amy stockte. Wenn sie selbst die Nachtschicht gehabt hätte, hätte sie sofort etwas unternommen. Aber Snow sah solche Dinge anders: Wenn eine Ehefrau verschwand, vermutete er, dass sie eben durchgebrannt war, wie seine eigene Frau es getan hatte, und wieder auftauchen würde, wenn sie nur wollte. Oder auch nicht, wie seine Frau es vorgezogen hatte. Doch das konnte sie Will Parker nicht sagen.

»Vorschriften«, antwortete sie stattdessen. »Es gibt eine 24-Stunden-Frist bei Erwachsenen …«

»Hat jemand mit den Leuten gesprochen, die im Supermarkt arbeiten? Sie vielleicht?«

»Das habe ich. Und ich weiß auch, dass Sie und Mister Geary uns zuvorgekommen sind.«

»Haben Sie auch von diesem Mister White gehört?«

Amy versuchte so ruhig wie möglich zu klingen. »Mister Parker, es wäre besser, wenn Sie diese Arbeit uns überlassen würden. Wir haben von dem ominösen Mister White erfahren und werden ihn überprüfen. Wir wissen, dass Ihre Frau keine sonstigen Besorgungen mehr erledigt hat. In keinem der anderen Geschäfte am Ort wurde sie gestern gesehen. Heute Nachmittag bekommen wir einen vorläufigen Bericht von der Spurensicherung. Glauben Sie mir, wir sind an dem Fall dran. Lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«

»Und was kann ich tun?« Es war Bitte und Kommentar zugleich.

»Sie sollten beide versuchen, sich etwas Ruhe zu gönnen«, schlug Amy vor. »Niemand kann richtig denken, wenn es ihm an Schlaf mangelt. Es würde helfen, die Dinge in die richtige Perspektive zu setzen.«

Will schüttelte den Kopf. »Ich sehe im Moment so gut wie keine Perspektive.«

»Vielleicht hat sie Recht, Will«, sagte Sarah. »Wir könnten uns abwechselnd um die Kinder kümmern.«

»Allein mit der Kleinen da haben Sie sicher alle Hände voll zu tun.« Amy lächelte Sarah an. »Wie viel wissen die anderen beiden?«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Will. »Aber es ist ja offensichtlich, dass Emily nicht hier ist.«

»Nun, dann wissen sie Bescheid. Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber solche Fälle klären sich oft auf unglaubliche Art und Weise auf. Manchmal tauchen die Verschwundenen einfach wieder auf und haben alle erdenklichen Erklärungen.« Das stimmte nur bedingt, aber sie teilte betroffenen Familien nie gleich die Wahrheit mit: dass Fälle von vermissten Personen nur selten einen glücklichen Ausgang nahmen.

»John Geary hilft mir.« Will sprach schnell, und es klang nach einer Beichte. »Ich hab ihn darum gebeten.«

»Ich bin nicht sicher, ob das die beste Entscheidung ist«, antwortete Amy »Bei Geary gibt es eine … Vorgeschichte.«

»Er hat gesagt, er sei ein Spitzenmann beim FBI gewesen, bei der Verhaltensforschung. Er scheint viel Erfahrung zu besitzen.«

»Oh, die hat er sicher. Und er sagt auch die Wahrheit, was seine ehemaligen Positionen betrifft. Es ist komplizierter …«

»Wenn er behilflich sein kann, sie zu finden …«

»Seien Sie eben einfach vorsichtig, Mister Parker. John Geary verhält sich durchaus nicht immer vorschriftsmäßig.«

Einer der anderen Detectives hatte ein wenig in den Akten gegraben, als Geary zum ersten Mal auf der Wache erschienen war und mit seinen Erfolgen und Positionen angegeben hatte. Das allgemeine Interesse war groß, als ihr Kollege herausfand, dass Geary auf dem Höhepunkt seiner langen Karriere in Quantico kurz vor einer Anklage wegen sexueller Belästigung gestanden hatte. Dazu war es jedoch nicht gekommen, weil ein psychologisches Gutachten zu dem Schluss kam, dass Geary nicht entfernt in der Lage sei, ein Gesetz zu brechen. Das war Amy ziemlich suspekt. Sexuelle Belästigung war ja ein Tatbestand, der von Männern oft verleugnet wurde. Genau darum waren diese Gesetze überhaupt erst verabschiedet worden: damit nicht irgendwelche Idioten Frauen nachstellten, die nichts als ihren Job machen wollten.

»Ich würde mich hier gern ein bisschen umsehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Natürlich nicht«, sagte Sarah. »Treten Sie ein.«

Amy folgte ihnen nach drinnen. Es war ein sehr hübsches Haus, übersät mit Spielsachen und voll gestopft mit Antiquitäten, Orientteppichen und da und dort dem nautischen Krimskrams, der in keinem der Häuser auf dem Cape fehlen durfte. An den Wänden hingen Originalgemälde, zum größten Teil figurativ, aber einige auch abstrakt.

»Sammelt einer von Ihnen Kunst?«, fragte Amy.

»Ich bin Malerin«, antwortete Sarah. »War es jedenfalls mal. Aber seit mein Mann gestorben ist, habe ich nicht mehr gemalt.«

»Das tut mir Leid.«

»Es war erst letzten Winter«, sagte Sarah und bückte sich, um ein Plastikschwert aufzuheben, das im Weg lag.

Amy sah sich um. Der Rest des Hauses bestätigte ihren ersten Eindruck. Eine typische Familie, etwas chaotisch. Nichts erregte ihr besonderes Interesse, bis sie in die Küche kamen. Hier fiel ihr der Fußboden sofort auf. Er war aus Holz, wie die restlichen Böden im Haus auch, aber hier war die Farbe nicht gleichmäßig. In der Mitte war ein Rechteck, das viel heller war als der Rest des Holzes. Doch nur wenige Augenblicke später, als sie in die Garage trat, erblickte sie die Antwort auf ihre Frage.

Auf einer Seite der für zwei Wagen ausgelegten Garage parkte ein goldfarbener Ford Taurus Kombi, auf der anderen Seite wurden allerlei Gartengeräte und Werkzeug aufbewahrt. Was Amy jedoch am allermeisten interessierte, war der zusammengerollte Teppich, der in der Ecke stand.

»Ist das der Teppich aus der Küche?«, fragte sie.

»Der ist uralt«, sagte Sarah. »Ich wollte ihn auf den Müll schaffen.«

»Können wir ihn kurz ausrollen?«

»Emily ist verschwunden«, sagte Will, »und Sie wollen Ihre Zeit damit verschwenden, einen alten Teppich zu inspizieren?«

»Ja, das würde ich gern.«

Will nahm Sarah Maxi ab und verließ die Garage, nicht ohne die Tür knallend zuzuschlagen. Sarah starrte auf den Teppich.

»Als ich gestern Abend Maxi Saft geben wollte, ist mir der Rest der Pizza auf den Boden gefallen.« Sarah kniff die Augen zusammen. »Ich hab den Teppich schon immer gehasst, aber mein Mann konnte sich nicht von ihm trennen. Die Jungen haben mir geholfen, ihn aufzurollen. Ich war froh über die Ablenkung. Das Warten auf Emily wurde allmählich unerträglich.«

»Mrs. Goodman …«

»Sie ist nicht hier.« Sarah fing an zu weinen. »Das ist das Problem. Sie ist verschwunden.«

Es war das erste Mal, dass Amy einer verzweifelten Familie ohne die Rüstung ihrer Uniform entgegentrat, und sie kam sich nackt vor. Aber sie kannte ihren Job. Die Familie stand unter Schock. Sie hatte zwar auch keine Ahnung, wo Emily Parker war, aber sie wusste, wie sie vorzugehen hatte. »Bitte verstehen Sie«, versuchte sie Sarah zu beruhigen, »dass wir uns das Haus anschauen müssen.«

Als Amy wieder zur Wache zurückkam, reichte ihr Suellen einen ganzen Stapel Telefonnotizen.

»So viele Anrufe habe ich seit meiner Beförderung noch nie bekommen.«

Suellen grinste sie schief an. »So lange ist die auch noch nicht her, Honey.«

Insgesamt hatte sie zwölf Nachrichten bekommen, und neun davon betrafen Sarah Goodmans Plakate. Amy machte einen Umweg über die Küche, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken, und setzte sich dann an ihren alten Schreibtisch bei den Streifenpolizisten. Hoffentlich würde sie bald bei den Detectives einen Schreibtisch zugeteilt bekommen. Sie nahm das Telefon und wählte.

Die meisten Nachrichten waren Blindgänger. Die Informationen hatten entweder nichts mit der Sache zu tun oder waren gänzlich nichts sagend. Aber zwei Anrufer klangen interessant.

Der erste musste Kinder haben, denn Amy hörte sie im Hintergrund. Er klang wie jemand, der weitaus Besseres zu tun hatte, als seine Zeit damit zu verbringen, der örtlichen Polizeidienststelle auf die Nerven zu fallen. Er berichtete, er habe am Tag zuvor Filme zum Videoverleih zurückgebracht, und als er kurz beim Supermarkt vorbeigefahren sei, um noch schnell ein paar Dinge einzukaufen, habe er etwas bemerkt, das seine Aufmerksamkeit erregt habe. Ein Mann mit weißem Haar und bleichem Teint sei in einem Oldtimer in der Farbe Lachskoralle mit Händlernummernschildern davongefahren. Bei ihm sei eine blonde Frau gewesen, die geschlafen habe. Als er das Plakat gesehen habe, habe er sich entschlossen, bei der Polizei anzurufen. Amy schrieb es auf und las es dem Mann zur Bestätigung noch einmal vor.

Der andere Anruf kam von einem Mann, der sich weigerte, seinen Namen zu nennen. Das gefiel Amy zwar nicht, aber sie hörte ihm zu. Er beschrieb einen älteren weißhaarigen Mann, der in Begleitung einer blonden Frau zu ebendem Zeitpunkt vom Parkplatz gefahren sei, als Emily Parker verschwunden war. Aber diesmal fuhr Mister White einen Buick Skylark. Glücklicherweise war das Kennzeichen besonders auffällig gewesen und der Mann hatte es sich gemerkt.

Seltsam, dachte Amy aber sie verstand.

Es gab zwei Mister White.