KAPITEL 15

Dr. Geary, das fällt nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich. Bitte, überlassen Sie uns die Angelegenheit.« Die junge Frau bedachte ihn mit einem herablassenden Lächeln und wandte sich wieder der Tastatur des Computers zu. Warum taten sie das immer, wenn sie wollten, dass man sich aus dem Staub machte?

»Sweetheart, ich bin im Ruhestand, ich hab keinen Zuständigkeitsbereich, und das bedeutet, ich kann tun, was ich will.«

Ihre Finger erstarrten, ein Blick aus ihren dunklen Augen durchbohrte ihn. »Nennen Sie mich nicht Sweetheart.«

Gearys Hand schnellte in die Höhe, um Frieden zu signalisieren. »Hab’s nicht so gemeint, wollte nur Ihre Aufmerksamkeit gewinnen.« Er zwinkerte ihr zu und bedauerte diese Geste sofort.

Amy Cardoza seufzte und drehte sich ihren Stuhl in seine Richtung. Sie schlug die Beine übereinander und kreuzte die Arme. Ihr Blick huschte zur Wanduhr. »Fünf Minuten, nicht mehr. Nehmen Sie sich einen Stuhl.«

Geary schnappte sich den nächsten Stuhl und setzte sich.

In dem Moment kam Snow herein. Er hielt eine gelbe Karte mit einem Smiley-Gesicht und der Aufschrift Hat jemand meine Nase gesehen? in der Hand. »Das hier ist zum Unterschreiben für Suellen«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, die Feier ist morgen um fünf.«

Amy unterschrieb die Karte, ohne Snow eines Blickes zu würdigen, und reichte sie zurück. »Sie könnten gleich dableiben, Al.«

Snow setzte sich neben Amy, und Geary konnte sich ein wenig Genugtuung nicht verkneifen, als er bemerkte, dass Amy von ihm abrückte. Amy sah wieder auf die Uhr. 9.07 Uhr. »Schießen Sie los.«

Geary öffnete seinen braunen Ordner auf den Knien und holte eine Akte nach der anderen hervor.

Snow warf Amy einen skeptischen Blick zu, den sie jedoch ignorierte.

»Eine Minute«, sagte sie.

Geary zog fünf Zeitungsartikelkopien aus einer der Akten und legte sie in chronologischer Reihenfolge auf dem Tisch aus. Dann öffnete er die nächste Akte und entnahm ihr fünf Ausdrucke, auf denen in Blau die Überschrift Federal Bureau Of Investigation: VICAP prangte. Vervollständigt wurde das Ganze durch einen Stoß gelber Blätter, die in seiner eigenen Handschrift oder seinem »Gekritzel«, wie Ruth es genannt hatte, beschrieben waren. Er verteilte die gelben Blätter auf die fünf Haufen.

»Zwei Minuten«, sagte Amy.

Geary lehnte sich zurück und sah ihnen ins Gesicht. Beide gaben sich den Anschein, an seinen Papierstapeln nicht allzu interessiert zu sein. Er ließ weitere dreißig Sekunden verstreichen. Er wusste genau, dass die Überschriften der Artikel und der Ausdrucke für sich selbst sprechen würden. Als ihre Aufmerksamkeit geweckt war, ergriff er das Wort.

»3. September 1973. Roz Gregory verschwindet in Los Angeles vor einem Restaurant, in dem sie mit ihrem Freund zu Mittag gegessen hat. Er bleibt zurück, um die Rechnung zu bezahlen, sie geht hinaus zum Wagen, zwei Minuten später kommt auch er heraus, und sie ist verschwunden. Siebzehn Tage später wird in den Dünen von Santa Monica ein verwester Kopf gefunden. Es ist der Kopf von Evan, ihrem Sohn, acht Jahre alt, der fünf Tage nach seiner Mutter am 7. September verschwand. Roz Gregory kehrt nicht zurück, und eine Leiche wird nie gefunden. Der Fall bleibt ungelöst.«

»Kalifornien?«, sagte Snow. Das weiße Pulver auf seinem Uniformhemd ließ Geary vermuten, dass er es eilig hatte, zur zweiten Hälfte seines Doughnut zurückzukehren. Aber Geary hatte noch mehr zu sagen, und wenn er das überzeugend genug vortrug, würde Snow der Appetit vergehen.

Amy sah auf die Uhr. »Fahren Sie fort.«

»3. September 1980, Louisiana. Terry McDaniel verschwindet bei einem Softballspiel, an dem ihr siebenjähriger Sohn als Werfer für die Baton Rouge Bombers teilnimmt. Als er gerade auf der Auswechselbank sitzt, flüstert sie ihm zu, dass sie sich kurz einen Becher Kaffee holt. Sie kommt nicht mehr zum Spiel zurück und taucht auch sonst nicht auf. Fünf Tage später verschwindet James aus seinem Haus, während sein Vater den Rasen mäht. Weitere fünf Tage danach wird sein rechter Arm in einem zwanzig Meilen entfernten Sumpf gefunden. Der Rest seiner Leiche taucht nie auf, doch die Mutter wird tot aufgefunden, völlig unversehrt, ohne offenkundige Todesursache. Bei der Autopsie findet man Spuren von Pancuronium, aber es kann nicht nachgewiesen werden, dass diese Droge allein zum Tod geführt hätte. Der Vater begräbt den Arm, und die Zeitungen haben ihre Schlagzeilen. Die Polizei behandelt den Vater als Hauptverdächtigen, doch ihm ist nichts nachzuweisen. Fall nie gelöst.«

Die Wanduhr zeigte 9.15 Uhr. Snow wippte ungeduldig mit dem Fuß, aber Amy schenkte ihrem Kollegen keine Beachtung. Ihr Blick war auf Geary gerichtet, und sie nickte ernst. Er spürte, dass er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Genauso war es früher immer gewesen, wenn er Special Agents zum ersten Mal über einen neuen Fall informierte. Sobald ihr Blick konzentrierter wurde, wusste er, dass sie keine Ruhe mehr geben würden, bis sie den Killer gefunden hatten.

»3. September 1987, Fleetwood, New York. Marjorie Lipnor lässt ihre beiden Kinder für fünf Minuten allein in der Wohnung, um drei Treppen hinunter ins Kellergeschoss ihres Hauses zu gehen, wo sich der Waschraum befindet. Die nasse Wäsche bleibt vor dem Trockner liegen. Fünf Tage später wird der Torso von Daniel Lipnor, sechs Jahre alt, auf der Kleinkinderschaukel eines Spielplatzes gefunden, in einer anderen Stadt in der Gegend. Höchstens drei Stunden tot. Die Brust übersät von frischen Nadelstichen. Am nächsten Tag wird Mrs. Lipnor aufgefunden. Sie wandert nackt und orientierungslos in Bronxville umher. Sie kann sich nicht daran erinnern, was geschehen ist, und gewinnt ihr Gedächtnis auch nicht zurück. Ihr Mann gerät in Verdacht, erweist sich aber als unschuldig. Zwei Jahre später erhängt sie sich, während ihr älterer Sohn in der Schule ist. Der Fall wurde nie geklärt.«

Snow wirkte nach wie vor desinteressiert, aber Amy war nun ganz bei der Sache.

»Ich bin jetzt schon zwölf Minuten dabei, Detective Cardoza«, sagte Geary.

»Fahren Sie fort.«

Geary nahm den vierten Stapel zur Hand und beugte sich ein wenig vor.

»3. September 1994, Cape Cod, Massachusetts. Janice Winfrey verschwindet vom Race Point Beach, wo sie den Tag mit ihrem Mann und ihrem sechsjährigen Sohn Chance verbringt. Sie geht auf die Damentoilette und kehrt nicht wieder zurück. Fünf Tage später verschwindet Chance, als sein Vater ihm den Rücken zukehrt, um auf der Herrentoilette bei Bradlees in der Falmouth Mall das Urinal zu benutzen. Winfrey alarmiert den Sicherheitsdienst, das Geschäft wird innerhalb von vierzig Sekunden geschlossen, doch der Junge wird nie gefunden.«

»Das weiß ich noch.« Snow beugte sich vor. »Alle Wachen auf dem Cape haben daran gearbeitet.«

»Sie auch?«, fragte ihn Amy.

Snow nickte.

»Am 12. September«, fuhr Geary fort, »wird der linke Arm von Chance unter einem Anleger in Woods Hole gefunden. Janice Winfrey taucht wieder auf …«

»Nackt«, ergänzte Snow, »auf einer Bank am Aquarium. Das werde ich nie vergessen.«

»Lebend«, vermutete Amy.

»Wenn man das so nennen will.«

Geary legte den vierten Stapel zur Seite und nahm den fünften zur Hand.

»3. September 2001«, sagte er.

Amy schloss die Augen. »Emily Parker verschwindet vom Parkplatz vor dem Stop & Shop.« Sie öffnete die Augen wieder und sah Geary an. »Heute ist der dritte Tag.«

»Das stimmt. Sie hat drei Kinder, Detective. Die beiden Jungen sind sieben und elf.«

Amy presste die Handballen gegen die Stirn. Dann sah sie Geary wieder an. Sie bemühte sich, ihre Erschütterung nicht zu zeigen. »Was haben Sie da noch für einen Stoß Papier in der Hand?«

Geary strich das oberste Blatt glatt. »Danke, dass Sie nachfragen, Detective Cardoza.« Es handelte sich um die Charakterskizze, die er nach seinem Lunch mit Bell und seinen Gesprächen mit Tom vom VICAP formuliert hatte. Er hatte fast die ganze Nacht mit deren Abfassung verbracht, damit er den Fall so vollständig wie möglich übergeben und sich später am Nachmittag mit Roger Bell zur verabredeten Runde Golf treffen konnte. Auch wenn sie nur um einen Dollar gewettet hatten – er wollte endlich einmal zuletzt lachen.

»Bitte, Dr. Geary.«

Geary räusperte sich. »Männlich, etwa Mitte fünfzig, weiß, gebildet, hält seinen Verstand wach mit Spielen und Büchern, lebt allein, arbeitet allein oder zumindest selbständig mit einem eigenen Verantwortungsbereich, keine Familie oder von der Familie entfremdet, ein Psychopath mit psychotischen Tendenzen, aber keiner voll entwickelten Psychose. Das bedeutet, dass er in seiner Umwelt funktionieren kann. Er wird alles planen und organisieren, sein Leben wird davon beherrscht. Eine gewisse Mutterfixierung, vermutlich auf Missbrauch in der Kindheit basierend, wahrscheinlich durch die Mutter selbst. Warum alle sieben Jahre?

Ich nehme an, dass der Missbrauch entweder begann oder sich schwerwiegend steigerte, als er sieben Jahre alt war. Sein erstes Verbrechen beging er vermutlich, als er achtundzwanzig war. Psychosen bei Männern weißer Hautfarbe entwickeln sich oft gegen Ende zwanzig. Und achtundzwanzig ist ein Vielfaches von sieben, daher nehme ich an, dass er in dem Alter begonnen hat. Wenn wir das kurz überschlagen, heißt das, dass er heute sechsundfünfzig Jahre alt ist. Das entspricht ungefähr dem Alter unseres Mister White aus dem Supermarkt am Montag …«

»Bobby Robertson«, unterbrach Amy.

Gearys Blick forschte in ihrem Gesicht. »Sie haben ihn gefunden?«

Sie nickte langsam. »Fahren Sie fort.«

»Gute Arbeit, Detective.«

Sie ließ das Kompliment an sich abprallen. »Bitte weiter.«

Geary schaute in seine Aufzeichnungen. »Warum immer am 3. September? Das ist schwer zu beantworten. Meine Vermutung ist, dass ihm etwas geschah, als er sieben Jahre alt war, und zwar am 3. September. Und deswegen setzt er alle sieben Jahre seinen Verbrechenszyklus fort. Dieser Mann versucht etwas zu bewältigen, das mit seiner Mutter zu tun hat. Vielleicht hat sie ihn nicht genug geliebt, aber er liebt sie. Er will sie nicht umbringen. Die ersten beiden Frauen hat er aus Versehen getötet, aber er arbeitet daran, sein Vorgehen zu perfektionieren, und ist von Mal zu Mal erfolgreicher damit. Deswegen haben die letzten beiden Mütter überlebt, zumindest hat er sie nicht selbst getötet. Eine hat sich selbst umgebracht, und die andere wurde ins Taunton State Hospital eingewiesen, kurz nachdem man sie gefunden hatte.«

Amy nickte und machte sich eine Notiz.

»Sein Ziel ist es, die Mütter am Leben zu lassen, sie aber zu zerstören. Die Kinder hingegen tötet er, zerstückelt sie und lässt uns dann eins ihrer Körperteile entdecken. Er präsentiert uns sozusagen ein Puzzle in Form einer Leiche, ein Teil nach dem anderen. Obwohl er noch zwei weitere Verbrechen geplant hat und das erste davon im Augenblick begeht, will er, dass wir ihn aufhalten. Er ist sich bewusst, wie barbarisch seine Taten sind, aber er kann sich nicht bremsen.«

»Aber er wartet sieben Jahre zwischen den einzelnen Taten«, warf Amy ein. »Wie kann er mit sich selbst leben, wenn er sich wirklich dessen bewusst ist, was er tut?«

»Das ist der Trick«, antwortete Geary. »Wir nennen es Restitution.«

»Er vergisst, was er getan hat? Das ist schwer zu glauben.«

»Zweifellos. Aber so ist es. Die Psyche dieser Menschen pendelt zwischen ungeheuren Extremen, Detective. Sie finden eine Art Ausweg für sich, der es ihnen erlaubt, abwegigen Impulsen nachzugehen, und wenn sie es zu Ende gebracht haben, verschließen sie die Tür dazu. Für sie ist es wie eine Urlaubsreise an einen exotischen Ort. Sobald sie wieder heimgekehrt sind, verblasst die Erinnerung. Während der Intervalle sammeln sie unbewusst Energien für ihren nächsten Ausflug.«

Snow, der still zugehört hatte, sog geräuschvoll Luft ein, als habe er sich plötzlich daran erinnert, atmen zu müssen.

»Seine ganze Persönlichkeit ist durchorganisiert«, fuhr Geary fort. »Sein Leben und seine Verbrechen sind es ebenfalls in hohem Maße. Er ist der am besten organisierte Wiederholungstäter, der mir je untergekommen ist. Dieser Mann entführt Menschen am helllichten Tag und hinterlässt nicht eine einzige Spur. Außer einmal einen Fußabdruck in Woods Hole. Aber er ist natürlich nicht der Einzige mit nagelneuen Nikes, Größe 12. Aber falls wir ihn fassen …«

»Wenn wir ihn fassen«, sagte Amy mit aller Bestimmtheit.

»Wenn wir ihn fassen, ist so ein Fußabdruck zumindest ein starkes Indiz. Er wiederholt überdies sein fünftes Verbrechen in demselben Staat wie das davor, wodurch er sein Muster durchbricht. Dadurch fallen die jüngsten Fälle in denselben polizeilichen Zuständigkeitsbereich, und es ist leichter, sie miteinander in Verbindung zu bringen.«

»Bobby Robertson.« Amy schüttelte den Kopf.

»Wird er beschattet?«, fragte Geary.

»Aber ja.« Sie wandte sich an Snow. »Al, holen Sie Chief Kaminer.«

Snow tat wie gewünscht und verließ den Raum.

»Wie man sieht, hat Kaminer das Ass des Departments zu Ihrem Partner gemacht.« Geary zwinkerte ihr zu.

»Ich komm damit zurecht.«

»Auch das sieht man.«

»Wir müssen die State Police und das FBI mit einbeziehen«, sagte Amy in jenem steifen Tonfall, der in Gearys Ohren immer mehr nach guter Ausbildung klang. »Wir haben nur noch zwei Tage.«

»Vielleicht«, sagte Geary.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wenn das FBI erst einmal hier auftaucht, dann werden sich die Medien auf diese Sache stürzen. Ich hab das Gefühl, dass das ihn erschrecken könnte. Es könnte sein, dass er eventuell gar nicht handelt oder vielleicht schon früher. Und selbst wenn er das Kind in Ruhe lässt, Mrs. Parker wird er bestimmt umbringen.«

»Ein großes Risiko also«, sagte Amy nachdenklich. »Aber das muss Kaminer entscheiden.«

Snow kehrte mit dem Chief zurück. Kaminer war ein kleiner drahtiger Mann mit gelocktem blonden Haar, das nicht echt aussah. Aber trotz dieser unnötigen Eitelkeit merkte Geary an der unverblümten Art, wie Kaminer ihn ansah, dass er jemand war, mit dem man gut arbeiten konnte.

»Wie ich höre, haben Sie ein paar Hausaufgaben gemacht, Dr. Geary«, sagte Kaminer.

Geary legte Kaminer die Lage dar, und dieser sog die Worte auf wie ein Schwamm. Alle paar Sekunden nickte er. Amy fing währenddessen an zu telefonieren, um sich über den Stand der Ermittlungen gegen Bobby Robertson zu informieren.

Schließlich knallte sie den Hörer auf und fuhr auf ihrem Stuhl herum. »Robertson ist die ganze Nacht über zu Hause geblieben, hat aber vor fünf Minuten das Haus verlassen. Er fährt auf der 28 nach Süden, und sie sind direkt hinter ihm.«

»Bringen Sie mich auf den letzten Stand«, forderte Kaminer sie auf.

Sie berichtete ihm von Bobby Robertson alias Mister White Nr. 1. »Ich habe heute Morgen einen interessanten Rückruf von der staatlichen psychiatrischen Klinik in Hyannis bekommen. Sie haben dort einen Robert R. Robertson in Behandlung, der seit drei Jahren zweimal die Woche kommt, und zwar auf gerichtliche Anordnung. Man hat ihn beim Diebstahl von Kinderkleidung erwischt und herausgefunden, dass er zwar aktenkundig ist, aber nicht verurteilt. Er hat alle seine Termine in der Klinik eingehalten. Ich habe den Namen seiner Betreuerin – Sally Harmon – und bereits versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber bisher erfolglos.«

»Versuchen Sie es weiter.«

»Ja, Sir.«

Kaminer warf einen Blick auf Snow, der noch am Telefon hing. Er hatte einen Anruf für Amy entgegengenommen. Snow nickte zerstreut und schrak dann auf: »Moment mal.« Er legte den Hörer auf die Schulter und fragte Amy: »Wie hieß noch dieser Autohändler?«

»Sal Ragnatelli.«

Snows Gesicht wurde lang.

»Wann?«, fragte er den Anrufer. Er lauschte der Antwort und legte auf. »Also, Amy das war die Reaktion auf deinen Anruf bei Ragnatellis Pager.«

»Das war er?« Snows Verhalten ärgerte sie.

»Das war Detective Martino oben in Fall River. Er beantwortet alle Anrufe, die auf Ragnatellis Pager aufgelaufen sind. Der Mann ist tot.«

»Was?« Amy stand auf. »Wann?«

»Irgendwann gestern. Man hat ihn vor einer Textilfabrik in der Nähe der Main Street gefunden, angelehnt, als würde er sitzen. Leute hatten ihn schon gestern Abend gesehen, aber gedacht, es handele sich um einen Obdachlosen.«

»Todesursache?«, fragte Kaminer.

»Zahlreiche Stiche in den Rücken. Er saß in einer ziemlich großen Blutlache, aber erst am Morgen ist das jemandem aufgefallen.«

Kaminer sah Amy an. »Steht der Mann in einem Zusammenhang mit dem Fall Ihrer Vermissten?«

»Ja, Sir, das könnte sein. Ragnatelli handelte mit Oldtimern, und eines seiner Fahrzeuge ist zu dem Zeitpunkt, als Mrs. Parker verschwand, vom Parkplatz des Stop & Shop gefahren. Der Zeuge berichtete, dass ein älterer Mann mit weißem Haar am Steuer gesessen habe und dass seine Begleitung, eine Frau mit blondem Haar, geschlafen habe.«

»Und Mrs. Parker ist blond?«, fragte Kaminer.

»Ja, Sir. Ein weiterer Wagen wurde beobachtet, wie er ungefähr zur selben Zeit den Parkplatz verließ, ebenfalls mit einem weißhaarigen Fahrer und einer blonden Mitfahrerin. Dieser zweite Wagen gehört Robertson, Sir. Aber er ist bis gerade noch zu Hause gewesen, Caruso und Miles haben ihn beschattet.«

»Also kann er nicht in Fall River gewesen sein und Ragnatelli umgebracht haben«, stellte Kaminer fest.

»Nein, Sir.«

»Was ist mit Ihrem anderen Mister White, der Nummer 2?«

»Wir haben ihn noch nicht gefunden, Chief. Ich weiß nicht, wieso er Ragnatelli töten sollte. Das würde sein Muster durchbrechen, und wenn man Dr. Gearys Profil glaubt, wäre das höchst untypisch.«

»Es sei denn, er bekommt es mit der Angst zu tun«, sagte Kaminer.

»Dafür scheint er nicht gerade der Typ zu sein«, warf Snow ein.

Geary schüttelte den Kopf. »Jeder hat vor etwas Angst.«

»Nebenbei gesagt, Detective Cardoza, Ihre Durchsuchungsbeschlüsse sind da, und zwar beide.«

»Ausgezeichnet, Sir, danke.«

»Ich teile Ihnen Unterstützung für das Robertson-Haus zu. Werden Sie auch die zweite, die am Gooseberry Way, selbst durchführen?«

Geary spitzte die Ohren. »Das Haus der Parkers?«

Amy sagte: »Ich will mich nur mal umschauen, reine Routine. Na ja, nicht ganz. Da gab es einen zusammengerollten Teppich, den ich mir näher ansehen möchte.«

»Detective«, unterbrach Geary »Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«

Amy schaute ein wenig mitleidig drein, als sie zu ihm sagte: »Will Parker hat Sie angeheuert, Doktor. Ich glaube nicht, dass Sie sich in der Position befinden, ihn in Schutz zu nehmen.«

»Sie arbeiten für ihn?« Kaminers Augenbrauen zogen sich zu einem Minuszeichen zusammen.

Geary schüttelte heftig den Kopf. »Er bezahlt mich nicht. Ich habe ihm meine Dienste gratis angeboten.«

»Wieso das?«, fragte Kaminer.

»Mein Buch über ungelöste Kriminalfälle, Chief. Das war alles, woran ich Interesse hatte, als ich darauf gestoßen bin.«

»Aber jetzt ist es anders«, stellte Amy fest.

Geary enttäuschte ihre Skepsis. Gleichzeitig war er von sich selbst überrascht: »Ich mag diese Familie«, gab er zu und wusste im selben Moment, dass er die Wette verloren hatte. »Ich will Emily Parker finden, bevor dieser Zerstücklungskünstler ihren Sohn entführt.«

Kaminer sah ihn nachdenklich an. Dieser Geary konnte ihnen vielleicht wirklich helfen.

»Ich stelle Sie als Berater an und betraue Sie mit diesem Fall«, sagte er streng zu Geary. »Sie können nicht für Parker und für uns arbeiten, ob mit oder ohne Bezahlung. Sind Ihre Papiere in Ordnung?«

»Sollten im Hauptquartier in D. C. bei den Akten sein. Ich war Special Agent, Chief, und zwar in den obersten Rängen.«

Kaminer beäugte ihn scharf. Anscheinend musste man Geary zeigen, wer der Chef war. »Ich kenne Ihre Laufbahn, Dr. Geary. Hier stehen Sie im Rang eines Detective der Polizei von Mashpee. Höher hinaus geht es nicht.«

Geary verschluckte einen Begeisterungsruf. Erst jetzt merkte er, wie froh er war, wieder gebraucht zu werden. »Danke Ihnen, Sir. Darf ich jetzt, da ich hier arbeite, eine Empfehlung aussprechen?«

»Aber schnell.«

»Lassen Sie mich Will Parker für eine Befragung herbringen. Ich bin überzeugt, dass die Familie nicht in den Fall verwickelt ist, und wenn wir ihn schnell von jedem Verdacht befreien, sparen wir Zeit. Ich kann Doktor Roger Bell zur Unterstützung hinzuziehen, denn er wird sich noch ein paar Tage auf dem Cape aufhalten.«

»Der Roger Bell?« Kaminer wirkte durchaus beeindruckt, als Geary den berühmten Kriminologen erwähnte.

»Ja. Ich kenne ihn seit Jahren. Er hat die Behavioral Science Unit beraten. Ich habe ihn bereits über den Fall informiert.«

»Und er hat geholfen, unserem Wiederholungstäter Konturen zu geben?«

»Wir haben die Grundzüge des Profils zusammen erarbeitet.«

»Ich hoffe, er erwartet nicht, von uns bezahlt zu werden«, sagte Kaminer barsch. »Wir haben nicht so ein Budget wie das FBI.«

»Nein, Sir, er ist aus alter Gewohnheit dabei, genau wie ich.«

»Also schön, tun Sie es.« Kaminer wandte sich an Amy und Snow. »Amy, Sie nehmen den Durchsuchungsbeschluss und ein paar Leute zur Unterstützung mit zu Robertson und sehen sich dort mal um.«

»Noch etwas, Sir.«

Kaminer schnippte mit den Fingern und ließ die Hand rotieren, um Amy zu veranlassen, schneller zu sprechen. Eine solche Geste hatte Geary noch nie gesehen.

»Ich würde gern die überlebende Mutter, Janice Winfrey, befragen.«

»Nachdem Sie bei der Befragung des Ehemanns dabei waren und nachdem Sie mit dieser Harmon gesprochen haben.« Kaminer wandte sich um, und Geary hatte den Eindruck, dass der kleine Mann mit den Augen zwinkerte. Ob er belustigt war oder ob eine Herausforderung dahinter steckte, war nicht ganz klar. Ein leichtes Lächeln trat auf Kaminers Gesicht. »Nehmen Sie Geary mit zu Janice Winfrey. Mal sehen, was unser neuer FBI-Seelenklempner herausbekommt. Ja, und bei der Durchsuchung der Robertson-Wohnung sollte er eigentlich auch dabei sein. Sie können Snows Wagen benutzen.«

»Meinen Wagen?«, fragte Snow.

»Sie fahren nach Fall River und befragen Detective Martino. Nehmen Sie den Streifenwagen, der vorne steht.«

Geary konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es war nicht seine Absicht gewesen, Snow bei dieser Ermittlung zu ersetzen, aber es war doch ein befriedigendes Gefühl. Er lächelte Amy zu und griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch hinter sich.

»Muss eine Golf-Verabredung für heute Nachmittag absagen.«