KAPITEL 27

Amy Cardoza stand mit brennenden Augen vor der riesigen Karte von Cape Cod, die schon immer eine Wand des Konferenzraumes bedeckt hatte, seit Amy zum Mashpee Police Department gekommen war. Die Karte stammte von 1995 und hatte bis heute für ihre Zwecke ausgereicht. Im Moment sah sie mit ihren handgezeichneten Linien, den Pastellfarben und den ins Auge fallenden Auslassungen eher dekorativ als informativ aus. Kaminer hatte sämtliche örtlichen Polizeistationen mobilisiert, in den Rathäusern herauszufinden, wo im Laufe der vergangenen sechs Jahre die Erlaubnis erteilt worden war, Anleger zu bauen.

Polizisten und Special Agents waren zu Fuß an Küstenstreifen und Stränden unterwegs, um einen flüchtigen SeaRay Sundancer namens Nimmerland zu finden. Amy fühlte, wie ihr in diesem unbelüfteten Raum mit seinem unaufhörlichen elektronischen Sirren die Luft ausging. Der Schock, dass Roger Bell Ragnatelli umgebracht und Emily Parker entführt hatte, steckte ihr noch in den Knochen. Was sie allerdings noch mehr bestürzte, war die Tatsache, dass sie, wenn sie zwölf oder auch nur acht Stunden früher von Al Snows Besuch in Fall River gewusst hätten – bevor er nach Hause gefahren war, um sein Schönheitsschläfchen zu machen –, eher die Möglichkeit gehabt hätten, Emily Parkers Leben zu retten. Und dass ihre Söhne jetzt auf dem Weg nach Hause wären und nicht ebenfalls verschwunden.

Amy kniff die Augen zusammen und verdrängte den quälenden Gedanken, dass bereits alles zu spät war. Wenn Mister White – Roger Bell – nach seinem gewohnten Zeitplan arbeitete, war Emily noch am Leben und möglicherweise sogar bei Bewusstsein, und die Jungen, oder zumindest einer von ihnen, hätten noch mindestens bis morgen zu leben.

Amy schaffte es einfach nicht, ruhig zu bleiben. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, sie ging vor der Karte auf und ab, projizierte auf die Konturen der Insel Formen, die es gar nicht gab, verzweifelt bemüht, sich ein klares Bild zu verschaffen.

Sogar Will und Sarah waren mit dem Baby losgefahren, hatten gesagt, sie müssten sich auf die Suche machen, könnten nicht einfach nur warten. Amy sah es vor sich, wie sie die Straßen abfuhren und allen Hinweisschildern auf Bootsanleger folgten. Unaufhaltsam angetrieben von Verzweiflung.

Hunderte Meilen Küste umgaben Cape Cod, mit großen und kleinen Buchten, Flussmündungen und Meeresarmen. Es gab Dutzende registrierter privater Yachthäfen und Hunderte private Anleger, ganz abgesehen von denen, die ohne Genehmigung errichtet worden waren. Und dann gab es da noch die Nachbarinseln Nantucket und Martha’s Vineyard. Die Polizeikräfte beider Inseln waren in höchste Bereitschaft versetzt, und zusätzliche VICAP Agents wurden eingeflogen, um die Bemühungen zu unterstützen, Emily, David und Sam Parker aufzuspüren.

Geary hockte mit den Special Agents Ingram und Jones sowie Sorensen, Kaminer und Tom Delay am Tisch. Amy wusste, dass Geary und Bell auf eine lange gemeinsame Geschichte zurückblickten, aber sie nahm an, dass es unter der Oberfläche auch Ungereimtheiten geben musste und dass Geary jetzt danach suchte. Und dass all sein Bestreben jetzt darauf gerichtet war, zwei Verbrechen aufzuklären: den Serienmord und den Verrat. Wer versteckte sich wirklich hinter dem Mann, der sich als sein Freund ausgegeben hatte? Amy empfand Sympathie für Geary und hoffte, dass er seine Antworten finden würde.

»Er will, dass wir ihn kriegen«, sagte Geary, »und deswegen hat er so viele kleine Hinweise hinterlassen. Er wusste, dass uns die Spur direkt zu ihm führen würde, wenn wir sie erst einmal aufgenommen hatten.«

»Einfach«, sagte Ingram und schüttelte den Kopf.

»Zu einfach.« Sorensen trommelte mit seinem Stift auf die Tischkante.

»Genau«, sagte Geary. »Wenn er bei seinem Muster geblieben wäre, bei den fünf Tagen, dann hätten wir einen Extratag und würden ihn finden.«

»Aber er hat heute zugeschlagen«, sagte Jones. »Einen Tag zu früh, als ob er es nicht erwarten könnte …«

Ingram nickte. »Als hätte er das Gefühl, dass er dieses Spiel jetzt möglichst schnell zu Ende bringen muss.«

»Wir müssen herausfinden, was ihn zu dieser Eile veranlasst hat.« Amy löste sich von der Landkarte und schloss sich der Gruppe an. »Warum? Um zu gewinnen? Oder um ein Bedürfnis zu befriedigen, das tiefer in ihm steckt? Und warum entführt er diesmal zwei Jungen statt nur einen wie sonst?«

»War es Zufall«, fragte Tom, »oder Absicht?«

»Beides ist möglich«, sagte Amy »Aber Roger Bell lässt sich seine Vorgehensweise bestimmt nicht vom Zufall diktieren.«

»Bitte«, sagte Geary, »wir wissen noch nicht mit Sicherheit, dass es Roger ist.«

Amy nickte unwillig. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt darüber zu streiten. »Wenn Mister White die List benutzt hat, ihnen eine Spazierfahrt in der Corvette anzubieten, hätte er sie einzeln einsteigen lassen können. Er hätte nicht gleich beide mitnehmen müssen.«

»Oder er hat sich des älteren Jungen entledigt, da er es ohnehin nur auf solche im Alter von sechs, sieben Jahren abgesehen hat?« Sorensen hielt inne und schüttelte den Kopf angesichts seiner eigenen Vermutung.

»Könnte sein«, sagte Kaminer.

»Mister White hat mit der Ermordung von Ragnatelli bewiesen, dass er auch außer der Reihe tötet, um sein Ziel zu verfolgen«, sagte Amy.

»Das würde bedeuten, dass ein Junge sich auf dem Boot befindet und der andere irgendwo am Straßenrand liegt. Dann werden wir ihn früher oder später finden«, sagte Sorensen, ohne eine Miene zu verziehen.

»Nehmen wir also an, dass es so war«, Amy versuchte sich zu konzentrieren. »Und dass Mister White Sam bei sich hat und sie sich auf dem Boot befinden. Wie lange wird er warten, bis er mit dem Sezieren beginnt?«

Es folgte eine Pause, während deren anscheinend niemand etwas sagen mochte. Schließlich ergriff Geary das Wort: »Das hängt davon ab, was stärker ist: sein Drang, dem Kind Schmerzen zu bereiten, oder, die Mutter zu terrorisieren.«

»Was geschieht während dieser Zeit?«, fragte Amy.

»Missbraucht er seine Opfer sexuell?«, setzte Sorensen ihren Gedankengang fort. »Die Mutter? Die Kinder?«

Geary antwortete. »Es gibt keinen direkten Beweis für eine sexuelle Komponente.«

»Und das bedeutet?«, fragte Sorensen.

»Seine Sexualität könnte so unterdrückt sein, dass er sich auf andere Art und Weise befriedigt.«

»Zum Beispiel durch Gewalt«, schlug Amy vor.

»Das ist schon fast ein Klischee.« Sorensen schüttelte den Kopf.

Kaminer sog hörbar Luft ein und warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen seinen Zeitrahmen für heute rausbekommen.«

Kaminers Ungeduld ging Amy gewöhnlich auf die Nerven, aber diesmal gab sie ihm Recht. Jetzt in diesem Moment konnte irgendwo an der Küste von Cape Cod das Schreckliche geschehen.

»Wie viel Zeit uns bleibt, hängt von Mister Whites psychischer Anspannung ab«, vermutete Geary.

»Er hat zwei Jungen entführt, und das einen Tag zu früh«, sagte Sorensen.

Amy nickte. »Er ist nervös.«

»Ich würde sagen, diese Entwicklung hat sich schon vor sieben Jahren angebahnt«, sagte Ingram.

»Daniels Torso wurde sozusagen noch warm an einem Ort abgelegt«, folgte Geary ihrem Gedanken, »wo man ihn sofort entdecken musste. Die Körperteile der anderen Kinder hat er entweder vergraben oder versenkt, sodass sie erst nach einiger Zeit entdeckt wurden.«

»Das stimmt«, sagte Amy. »Ein Kopf in den Dünen, ein Arm in einem Sumpf, ein weiterer Arm vergraben unter einem Anleger.«

»Warum der Torso auf einer Schaukel?«, fragte Sorensen. »Warum die Abkehr von der aufgeschobenen Entdeckung?«

»Er ist vor sieben Jahren aus irgendwelchen Gründen nervös geworden«, sagte Amy. »Damals begann sich das Muster zu verändern.«

»Bis dahin«, sagte Jones, »brauchte er Zeit …«

»… um seine Restitution zu vollenden«, sagte Ingram. »Er verbarg sich im allmählichen Wandel der Natur.«

Jones warf ihr einen Blick zu. »Hübsch gesagt.«

»Der Kopf ist entdeckt worden, als die Dünen erodierten«, fuhr Ingram fort, »der Arm ist an die Wasser-Oberfläche gestiegen, als die Gase, die im Fleisch gefangen waren, ihm das Gewicht nahmen, und so wurde er ans Ufer gespült …«

»Schluss mit der Poesie«, schnauzte Kaminer.

Amy fiel etwas ein. »Hat jemand mal die Gezeiten überprüft?«

Tom sprang auf und lief um den Tisch zu seinem Computer. Mit seinen schnellen, schweren Fingern bearbeitete er die Tastatur, bis er die Webseite gefunden hatte, die er suchte. »Sieht so aus, als würden die Gezeiten entlang der Küste variieren. Sie sind überall verschieden. Es kommt darauf an, wo man sich befindet.« Seine Blicke huschten über den Bildschirm. »Je nach Bucht und Meeresarm verändern sich die Verhältnisse. Dazu kommen Faktoren wie Flutströmungen, Ebbeströmungen und Stillwasserphasen.« Tom blickte hinüber zu Geary. »Für mich ist das alles Sanskrit.«

Amy stand auf und durchquerte den Raum, um einen weiteren Blick auf die Karte zu werfen. Langsam begann sie zu verstehen.

»Er ist nicht sehr weit gefahren. Emily Parker befindet sich wahrscheinlich in der Nähe des Cape, denn er muss ja den Jungen aufs Boot bringen. Er wird nur so lange an einer richtigen Anlegestelle bleiben, wie unbedingt nötig ist, und sich dann wieder in sein Versteck zurückziehen. Wahrscheinlich ankert er in einer kleinen Bucht, an einem Fluss, irgendwo, wo keine Häuser in der Nähe sind.«

Im Raum war es still; alle hörten zu.

»Ich frage mich, ob wir unsere Suche nicht effektiver gestalten könnten, wenn wir wüssten, wie die Gezeiten an den verschiedenen Küstenstreifen schwanken. Er dürfte die Orte meiden, wo die Strömungen am heftigsten sind; er sucht das Zusammenspiel, die Vorhersagbarkeit, meidet jegliche Störungen.«

Sie drehte sich um und sah auf die Karte. Die Linien, die sie so ausgiebig studiert hatte, verwandelten sich in ein klares Bild. Wo sie zuvor die Konturen von Land gesehen hatte, das in den Ozean hineinragte, erkannte sie jetzt die Umkehrung: Einkerbungen, an deren Enden geheime Orte entstanden.

»Interessant«, sagte Geary, und Amy spürte, wie gut ihr diese Bestätigung tat. Sie wirkte besser als Kaffee oder auch Schlaf.

Sorensen stand auf und sah auf die Karte. Sie erkannte, dass er es ebenfalls sah.

Amy blickte zu Kaminer, der zufrieden nickte. Sie wusste, dass er einen Teil seiner Freizeit auf dem Wasser verbrachte. »Wie oft und wann wechseln die Gezeiten?«

»Ich hab mein Leben lang am Cape gefischt«, sagte Snow. Er stand im Türrahmen und hielt ein Tablett in den Händen. Darauf befanden sich ein Dutzend Kaffeebecher sowie ein Karton Donuts. »Man kann sagen, dass durchschnittlich jeden Tag zweimal die Flut kommt und zweimal die Ebbe einsetzt, mit geringen Abweichungen.«

Der Anblick von Snow, wie er dort stand, aufgeräumt und ausgeruht, dass Tablett mit den Donuts in den Händen, für deren Beschaffung er abermals ihre kostbare Zeit geopfert hatte, entfachte in Amy kaum zu zügelnden Zorn. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten, Al?«

Snow schenkte ihr keine Beachtung und ging zu dem langen Tisch, an dessen Ende er den Kaffee und die Donuts abstellte. Amys hitziger Zorn bestimmte die Atmosphäre im Raum, und niemand machte Anstalten, sich dem Tablett zu nähern.

Sie spürte, dass sie kurz davor war, den schlimmsten Fehler ihrer Karriere zu begehen und vor Kaminer, Sorensen, Geary die Beherrschung zu verlieren. Und das genau in dem Moment, als sie Mister White auf den Fersen war. Alle würden denken, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen sei. Nun, sie war ihr gewachsen, aber darum ging es auch nicht. Snow hatte die Ermittlung von Anfang an sabotiert und tat es immer noch. In dieser Phase brauchten sie alle, jeden Einzelnen, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, und das galt auch für die schwächsten Mitglieder aus ihren Reihen.

Kaffee. Donuts.

Sie ging hinüber zu dem Tablett und fegte es mit einer schnellen Geste vom Tisch.

»Das reicht, Detective!« Kaminer stand auf. »Ich hätte nichts gegen einen Donut gehabt.«

Nervöses Gelächter erfüllte den Raum.

Amy wartete auf ihr Verdikt: abgezogen von diesem Fall; vom Dienst suspendiert; oder, schlimmer noch, degradiert zum Dienst im Streifenwagen. Sie hätte vor zwei Tagen mit Kaminer über Snow sprechen sollen, bevor sie derart die Fassung verlieren konnte. Hätte sollen, könnte, würde. Jetzt war es zu spät.

»Wir sind alle ein wenig durcheinander«, sagte Kaminer. »Ich hab zu Hause zwei Stunden geschlafen und seh jetzt klarer.« Er blickte hinüber zu Sorensen, der ganz dicht an der Karte stand und sie intensiv studierte.

Sorensen drehte sich zu den anderen um. »Alarmiert die Küstenwache.« Er wandte sich an Amy, und sie kam sich vor wie ein Ballon, aus dem die Luft gelassen wurde. »Detective, fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.«

Amy konnte es nicht glauben. Das war alles? Kein Tadel? Nur eine Auszeit, um in ihrem eigenen Bett ein wenig Schlaf zu finden? Sie wollte nicht gehen, wusste aber genau, dass es besser war, keinen Einwand zu erheben.

»Danke Ihnen, Sir.«

»Ich möchte nicht, dass Sie selbst fahren, Detective«, sagte Kaminer.

»Es ist kein Problem, Sir.«

»Snow, fahren Sie sie nach Hause. Und auf dem Rückweg« – Kaminer zwinkerte Snow zu – »holen Sie noch ein paar von diesen Donuts.«

Amy spürte Unmut in sich aufsteigen, aber hielt den Blick gesenkt, als sie den Raum durchquerte und zur Tür hinausging. Al Snow folgte ihr.