KAPITEL 5
Daisy, komm von dem Anleger runter!«
Marian hatte gedacht, dass ihre Tochter mit fünf Jahren schlau genug sein müsste, Gefahren zu erkennen. Sie irrte sich. Daisy hatte sich bis an den äußersten Rand des Anlegers vorgewagt, weil sie etwas in der Sonne hatte glitzern sehen.
»Ted, sieh mal nach, was die Kleine da aufgesammelt hat.«
Ihr Mann Ted eilte im Laufschritt zu dem kurzen Anleger und ging neben Daisy in die Hocke.
»He, Daddy«
Marian musste schmunzeln. Daisy sah genau aus wie ihr Vater. Groß, dünn, und ihrer beider braune Haut glänzte vom Sonnenschutzmittel.
»Was hast du denn da, Süße?«
»Ein Armband. Guck mal. Ist das nicht hübsch?«
Ted drehte sich zu Marian um. »Ein Armband mit Glücksanhängern.«
»Zeigt es mir mal. Und du, Daisy geh bitte da vom Rand weg.«
Daisy und Ted kamen zu Marian, die auf einer Decke am Ufer saß. Sie warteten auf Marians Cousin Henry, der sie mit seinem Boot abholen kam. Ihm gehörte eine ganze Kette von Drugstores, aber er brachte es nicht über sich, einen öffentlichen Anleger zu benutzen: Das kostete ja Geld. Er hätte von Martha’s Vineyard direkt nach Waquoit Bay tuckern können, stattdessen nahm er den langen Umweg nach Popponesset Beach. Jedes Jahr im Sommer warteten sie an diesem ungepflasterten Ende von Simon’s Narrow Road auf ihn. Hier befand sich in einer verborgenen schmalen Bucht der winzige Anleger, der von Leuten benutzt wurde, die sich selbst gern als Eingeweihte betrachteten.
»Zu reich, um Geld auszugeben«, sagte Marian über Henry. Wenn Daisy nicht so gern mit Henrys Boot gefahren wäre, hätten sie die Überfahrt einfach mit der Fähre gemacht.
Aber mit Henry war es immer lustig. Das musste Marian zugeben. Wenn sie Martha’s Vineyard erreicht hatten, würde er sie in einem alten Elektro-Car mit Baldachin und flatternden weißen Fransen zu ihren Häusern in Oak Bluffs bringen. Ziemlich albern und großspurig, aber Daisy amüsierte sich jedes Mal köstlich. Dann würden sie sich in dem orangefarbenen Knusperhäuschen einrichten, das Grandma Peet Marians Mutter hinterlassen hatte, und Henry würde in seinem eigenen rosafarbenen, von der eigenen Mutter geerbten Haus verschwinden. Man erzählte sich, dass Grandma und Grandpa Peet einmal die Hälfte aller Häuser um Wesleyan Grove gehört hatten und dass sie es gewesen waren, die alle in verschiedenen Farben gestrichen hatten. Marian wusste nur, dass die Farben zur Tradition geworden waren, ja sogar zur Touristenattraktion, und seither waren sie immer wieder in derselben Farbe gestrichen worden.
Sie hatte sämtliche Sommer ihrer Kindheit in dem orangefarbenen Haus verbracht, umgeben von afroamerikanischen Intellektuellen, die sonst niemand kannte. Es war ein Haus, in dem man redete und Bücher las. Bis heute gab es kein Fernsehen, und vor zwei Sommern war auch das Radio kaputt gegangen. Diesmal war es nur ein Dreitagesausflug, und Marian war noch total erschöpft von dem Festival, das sie zum Ende des Sommers als Direktorin eines gemeinnützigen Künstleraustauschprogramms in Boston organisiert hatte. Sie wollte sich einfach nur zurückziehen und ausruhen. Dafür hatte sie ein Exemplar von Helen Dewitts Der letzte Samurai im Koffer und war entschlossen, es bis zum Ende durchzulesen. Ted und Daisy vertrieben sich die Zeit am liebsten damit, im Teich zu angeln.
Daisys Knie waren schon wieder aufgeschürft, und das passte nicht so recht zu dem sommerlichen Rüschenkleid, das sie unbedingt tragen wollte. Nur wenn ein Kleid so weit war, dass es beim Drehen in die Höhe schwang, kam es für sie infrage. Dies bauschte sich auf und war dazu noch mit Rüschen besetzt.
Daisy streckte ihre kleine Hand vor, um Marian das Armband zu zeigen. Es war aus reinem Silber. Den Anhängern nach musste es einer Mutter mit drei Kindern gehören; einer interessanten Frau, wie Marian wegen des Cellos und des Schwimmers schloss.
»Mami, mach es mir um.«
Daisy hielt ihrer Mutter das schmale Handgelenk entgegen und gab ihr das Armband.
»Ich weiß nicht, mein Schatz. Vielleicht sollten wir es liegen lassen für den Fall, dass die Dame, die es verloren hat, herkommt, um es zu suchen.«
»Nein, es gehört mir, ich hab’s gefunden.«
»Schatz, das geht doch nicht.«
»Bitte, Mom, darf ich es nicht jetzt eine Weile tragen?«
Das Tuckern des Motors wurde lauter, und Ted winkte.
»Da ist Henry! Kommt, Mädels, macht euch fertig, er ist da!«
»Also gut«, sagte Marian, »warum behältst du es nicht erst mal. Wir überlegen uns was, wenn wir vom Vineyard zurückkommen. Vielleicht gibt es ja hier auf dem Cape ein Fundbüro.«
Ted trug ihr Gepäck zu Henrys Boot, der Everlasting Love. Sie war frisch lackiert. Ihr unterer Teil in einem glänzenden Waldgrün, die obere Hälfte gleißend weiß. Henry begrüßte Ted und breitete dann, bis über beide Ohren grinsend, die Arme für Daisy aus.
Marian hatte ihrer Tochter gerade noch das Armband anlegen können, als die auch schon dem Boot entgegenflog. Daisy sprang über den halben Meter Abstand zwischen dem Anleger und dem schmalen Steuerborddeck der Everlasting Love. Beinahe hätte sie das Boot verfehlt, aber ihre abgewetzte weiße Sandale setzte kurz vor Henry auf, und sie fiel in dessen Arme.
Das silberne Armband rutschte ihr vom Handgelenk und fiel scheppernd aufs Deck.
»Mein Armband!«, rief Daisy »Nun sieh sich das mal einer an.« Henry hob es auf. »Ich mach es dir in null Komma nichts wieder heil, sobald wir zu Hause sind.« Er steckte es in die Tasche seiner Shorts.
Marian nahm Teds Hand und kletterte vorsichtig an Bord.
»Es gehört ihr nicht«, sagte sie ihrem Cousin. »Wenn du es reparieren kannst, dann mach es sorgfältig. Sobald wir wieder auf dem Cape sind, wollen wir die Besitzerin ausfindig machen.«
»Stimmt«, sagte Daisy, »Und die einzige Besitzerin, die ihr findet, das bin ich.«