KAPITEL 11

Will saß auf dem Boden im Wohnzimmer und spielte mit den Jungen Monopoly. Es fiel ihm schwer, sich zu merken, welches seine Spielfigur war. David hatte es bemerkt und ihn darauf aufmerksam gemacht: »Dad, du hast den Roten.«

Wenn alles verlaufen wäre wie geplant, wäre Emily jetzt bereits mit den Kindern in New York. Überall in der Wohnung lägen Koffer und Spielsachen. Die Kinder wären übermüdet früh ins Bett gegangen, und er und Emily hätten vor dem Einschlafen noch Pläne für das neue Haus gemacht; sie hätten die Finanzen besprochen und sich alles bis hin zur Farbe der Wände ausgemalt.

Sam würfelte und jubelte, als er eine Vier hatte. Er bewegte seine Spielfigur vier Felder weiter. Dann wandte er sich Will zu und sagte: »Dad, du bist dran.«

Will nahm die Würfel in die Hand, aber er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Er kam sich vor wie eine Faust in einem viel zu engen Gummihandschuh, die trotzdem beharrlich versucht, sich zu strecken.

»Spiel du für mich«, forderte er David auf und erhob sich.

Sam lehnte sich zurück und probierte, seinem Vater ein Bein zu stellen. Will wich ihm aus.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er und blieb noch einmal stehen, um sich nach ihnen umzudrehen. »Ich hab euch lieb.«

Die Jungen sahen Will nach. Er warf noch einen Blick ins Kinderzimmer, wo Maxi friedlich ihren Mittagsschlaf machte. Dann ging er in sein und Emilys Zimmer, schloss die Tür hinter sich und wählte Dr. Gearys Telefonnummer. Nachdem es zwanzigmal vergeblich geläutet hatte, legte er auf und sah auf seine Armbanduhr: Es war kurz nach zwei. Der versprochene Anruf sollte erst in anderthalb Stunden kommen.

Er konnte nicht mehr warten. Er musste etwas tun. Er brauchte Emily.

Sarah lag wach auf dem Bett, als er in ihr Zimmer schaute. »Maxi schläft, und die Jungen sind unten. Ich würde gern für ein paar Minuten nach draußen gehen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich nicht, mein Lieber.«

»Bist du in Ordnung?«

Ihre Augen wirkten verschleiert. Sie nickte, aber er wusste, dass es ihr nicht gut ging. Dennoch sagte sie: »Geh nur.«

Er ging durch den Abstellraum und in die Garage. Die Tür war offen, doch es war trotz der Nachmittagshitze kühl und feucht.

Er dachte daran, ein bisschen herumzulaufen, doch dann sah er die Fahrräder. Sie hatten den ganzen Sommer über an derselben Stelle gestanden, zwischen Sarahs Wagen und dem Weg zur Tür. Alle drei waren alt und verrostet, Jonahs Rad sah noch am besten aus. Will nahm Jonahs Helm vom Lenker und öffnete die Schnalle. Er schüttelte den Staub ab und setzte ihn auf, befestigte den Riemen unterm Kinn. Er passte. Dann schob er das silberne Rad aus der Garage, schwang sich auf den Sattel und trat in die Pedale: die geschwungene Auffahrt hinauf, um den Vorgarten herum, dann zurück zum Haus. Nochmals. Und nochmals. Es ging ihm schon besser, aber es war noch nicht genug.

Diesmal fuhr er die Straße hinauf bis zur Abzweigung und dann wieder zurück. Über der alten Straße lag tiefe Stille, nichts war zu hören außer dem Klicken der Gangschaltung und dem Summen der Insekten. Er drehte um und fuhr zum Haus zurück, dann wieder die Straße hinauf, und wieder und wieder. Schließlich fuhr er den ganzen Weg bis zum Gooseberry Way.

Er trat stetig und fest in die Pedale.

Bevor die Kinder gekommen waren, hatten Emily und er häufig Fahrradausflüge unternommen, wenn sie bei Sarah und Jonah auf dem Cape zu Besuch gewesen waren. Sorglos, mit Zeit im Überfluss, waren sie hinüber nach Falmouth geradelt, hatten bei der ersten Abzweigung das Städtchen verlassen und waren der Shore Street bis zum Ozean gefolgt, zur Linken adrette New-England-Häuser mit grünen Rasenstücken im Vorgarten; zur Rechten Zäune, Strand und sonnengebleichte Ein-Zimmer-Häuser, die auf Stelzen im Sand verankert waren. Sie waren zügig bis zum Shining-See-Radweg geradelt. Dann hatten sie das Tempo gedrosselt und waren dem Asphaltstreifen in Richtung Woods Hole gefolgt, vorbei am Gischt sprühenden Ozean, an Pinienwäldern und an steinigen Stränden und Feldern voller wild wachsender Blumen. Will erinnerte sich an das Glücksgefühl, das ihn ergriffen hatte, als er hinter Emily unter einem schattigen Baldachin von Ästen herfuhr, voller Vorfreude auf ihr gemeinsames Leben, auf die Familie, die sie eines Tages haben würden.

Als Will das Haus erreichte, verblasste die Erinnerung. Er drehte noch einmal um, ohne langsamer zu werden. Schneller. Seine Beine traten, die Gedanken rasten durch seinen Kopf, er fuhr so schnell er konnte, und es war doch nicht schnell genug.

Es gab viele Dinge, die Will nicht wusste, die meisten sogar. Aber was er wusste, konnte ihm niemand nehmen; diese Erkenntnisse gehörten ihm wie der eigene Körper. Die schnelle Verfärbung von Apfelscheiben. Die allmähliche Verdunstung von Wasser. Die Heilkraft eines Pflasters auf der eingebildeten Wunde eines Kindes.

Seine Vaterschaft.

Die Stimmen seiner Kinder.

All das wusste er, weitere Fragen stellte er nur, wenn es zumindest potenziell auch Antworten darauf gab. Emily hatte das einmal eine Vermeidungsstrategie genannt, aber nur am Anfang. Später hatte sie ihn verstanden. Die Abwesenheit seiner Eltern hatte Wills Jugend geprägt, seine Verwandten hatten ihn zu trösten versucht, indem sie Schichten wohlmeinenden Schweigens über ihn gebreitet hatten. Nach dem Begräbnis war der Tod seiner Eltern nicht mehr erwähnt worden. Nur Caroline hatte darüber gesprochen, damals, als die Großeltern nicht mehr mit ihr fertig wurden und sie zu Tante Judy und Onkel Steve, die Will aufgenommen hatten, geschickt hatten.

Caroline war mit der Würde einer entthronten Prinzessin aufgetreten, so hatte es Will zumindest empfunden; er war damals zwölf. Sie war siebzehn, und es waren acht Jahre vergangen, seit sie unter einem Dach gelebt hatten. Will fand, dass sie sehr schön war: schlank und blass mit langem braunen Haar, das ihr in Locken über den Rücken fiel. Sie schenkte niemandem Beachtung außer Will, ihrem kleinen Bruder, ihrem einzigen richtigen Blutsverwandten. Die anderen mied sie, als wüsste sie, was sie von ihr dachten. Caro sei »drogensüchtig« und schlafe »in ihrem Alter schon mit diversen Jungen«, hatte Tante Judy am Abend vor Caros Ankunft beim Essen gesagt, und außerdem sei sie »eine zu große Belastung für Großvater und Großmutter«, die sie zu sich genommen hätten, weil sie damals als lieb und gehorsam gegolten hätte. »Na ja, das gilt jetzt nicht mehr!«, hatte Judy gesagt. Darum hatte Caroline das Haus ihrer Großeltern in Upstate New York verlassen und war nach Westport, Connecticut gekommen, um bei den Parkers zu wohnen, bis sie sich für einen Job oder das College entschied.

Caro saß an jenem ersten Abend beim Essen neben Will und sagte kein Wort. Die anderen unterhielten sich und ignorierten ihr Schweigen: teils weil es nicht ihre Art war, in die Privatsphäre eines anderen einzudringen, teils weil sie nicht wussten, was sie mit diesem jungen Mädchen anfangen sollten, das schreiend aus der Wohnung ihres fünfundzwanzigjährigen Freundes hatte entfernt werden müssen, als dieser wegen Drogenhandels verhaftet wurde.

Obwohl es ein warmer Sommerabend war, trug Caro ein schwarzes Sweatshirt mit langem Arm. Will bemerkte, wie Tante Judy diese Tatsache registrierte. Caro wurde bei Will im Zimmer einquartiert, und er war glücklich, sie wieder in seiner Nähe zu haben. Er machte sich in seinem grünen Sommerpyjama bettfertig und fand sie auf dem Rand des von ihrem Cousin geborgten Betts vor. Sie hatte auf ihn gewartet. Will zog seine Bettdecke zurück, setzte sich mit überkreuzten Beinen auf sein kariertes Laken, sah hinüber zu seiner großen Schwester und lächelte. Caro nickte und erzählte ihm dann etwas, was er nie erfahren hatte.

»Sie waren nicht sofort tot, Willie.« Sie hatte braune Augen, ein klares Braun, das ihn an etwas erinnerte.

»Aber Judy und Steve haben doch gesagt …«

»Ich weiß, dass sie dir das gesagt haben.«

Will zuckte die Achseln. Er hatte das Gefühl, in Caros Augen noch ein Kleinkind zu sein, und wusste nicht genau, ob er wirklich wissen wollte, was sie ihm zu erzählen hatte. Sein Leben war bisher nicht schlecht gelaufen, ihres jedoch schon, und vielleicht wäre es besser für ihn, wenn er nicht alles wusste.

»Sie wollten es dir nicht erzählen«, fuhr Caro fort. »Aber du warst doch dabei, also weißt du es doch im Grunde selbst.«

Sie hatte diese vertrauten Augen, und als sie den Blick abwandte und zum Fenster hinausschaute, überkam Will ein Anflug von Panik.

»Was?«, fragte er seine Schwester.

»Mrs. Simon brachte uns am nächsten Tag ins Krankenhaus, um Mom zu besuchen«, sagte Caro leise. »Weißt du das nicht mehr? Daddy war an dem Morgen im Krankenhaus gestorben.«

Will schüttelte den Kopf; er konnte sich nicht erinnern.

»Ich bin zuerst hineingegangen. Du hast mit der Krankenschwester auf dem Flur gewartet. Dann brachte Mrs. Simon mich hinaus, und du durftest.«

Caro wartete. Doch Will konnte sich nur an die so oft wiederholte Information, dass seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, erinnern. Sie hatten Caroline für ein Sommerlager anmelden und danach zu Mittag essen wollen. Alles war so schnell gegangen, dass sie nichts gefühlt und nichts gedacht haben konnten. »Es war, als hätte man ein Licht gelöscht«, hatte Tante Judy ihm gesagt und ihm über die Wange gestrichen. »Sie haben keine Schmerzen gespürt.« Das hatte ihn stets beruhigt.

»Was hat Mom zu dir gesagt?«, fragte Caro ihren Bruder. Ihre dünnen Beine baumelten über der Kante des anderen Betts, und ihr Blick ruhte wieder auf ihm.

»Nichts«, sagte Will. »Ich war nicht bei ihr.«

Caro presste die Lippen zusammen, und er fürchtete, dass sie seinetwegen verärgert war. Ihre Augen wurden schmal. »Sie hat mir gesagt, dass es meine Aufgabe sein würde, mich um dich zu kümmern, weil du ja noch ein Baby warst.«

»Ich war vier.«

»Fast vier. Sie starb am Tag vor deinem Geburtstag. Hast du das auch vergessen?«

Nein, daran erinnerte sich Will, hatte aber immer angenommen, sein Zeitgefühl wäre falsch. Es hatte eine Schokoladentorte vom Konditor gegeben, mit einem Cowboy, der über seinem Hut ein Lasso schwang. Sein Geschenk war ein kleines rotes Fahrrad mit Stützrädern gewesen, an dessen Lenkrad nicht nur ein Windschutz aus Plastik angebracht gewesen war, sondern auch ein Halfter für seine Spielzeugpistole. Alle waren erschienen, so viele Familienmitglieder waren noch nie zu einer Geburtsparty gekommen. Keine Freunde. Seine Großmutter hatte geweint, als sie ihn mitten im Wohnzimmer auf sein neues Fahrrad gesetzt hatte. Die Verwandten hatten ihn still umringt. Er hatte nicht verstehen können, warum seine Großmutter weinte. Es war wirklich ein schönes Fahrrad gewesen, und er hatte es sich so sehr gewünscht. Genau das Fahrrad, das er seiner Mutter im Geschäft gezeigt hatte.

»Hat Mom dir gesagt, dass sie dich lieb hat?«, fragte Will seine Schwester.

Caro nickte.

»Sie starb im Auto«, sagte Will, »an Ort und Stelle, genau wie Daddy. Sie hat nichts gefühlt, es war, als hätte man ein Licht ausgeknipst.«

Caro schüttelte den Kopf, legte sich immer noch angezogen aufs Bett und starrte an die Decke, bis Will sich hinüberbeugte und die Lampe ausschaltete. Keinen Monat später kam man überein, dass Caro nach Upstate New York zurückkehren, sich einen Job suchen und bei ihren Großeltern wohnen würde, bis sie im Winter achtzehn wurde. Dann wäre sie volljährig und konnte tun, was sie wollte. Über den Tod ihrer Eltern redeten sie nie wieder.

Will trat schnell und fest in die Pedale. Schweiß tropfte ihm von der Stirn auf die Handrücken, aber er fuhr unbeirrt weiter, bis er das Haus erreichte. Erst da wurde ihm bewusst, dass er sein Handy auf Vibrationsalarm gestellt hatte. Er war immer noch außer Atem vom schnellen Radeln, als er sich meldete: »Ja?«

»Mein Gott, Will«, sagte Sarah. »Wo bist du denn?«

»Direkt vorm Haus.«

»Jemand hat für dich angerufen, ein Dr. Geary. Will?«

Er schob Jonahs Rad in die Garage, stellte es auf seinen Ständer und setzte den Helm ab. Die Fliegentür knarrte, als er sie öffnete. Er ging durch den Abstellraum und in die Küche, wo er Sarah fand, die am Telefon noch immer mit ihm sprach.

»Er hat gesagt, dass er auf dem Weg hierher ist. Will, wer ist das?«

»Sarah, ich bin hier.«

Verblüfft drehte sie sich um, das Telefon noch immer am Ohr. »Er hat gesagt, er wäre in zwanzig Minuten hier«, sagte sie und legte auf.

Will duschte in Windeseile und zog sich trockene Sachen an. Dabei versuchte er sich zu wappnen. Geary kam nicht, um ihm mitzuteilen, dass man Emily gefunden hatte. Das hätte er am Telefon gesagt. Er kam, um ihm etwas anderes zu erzählen – oder auch gar nichts. Will war sich nicht sicher, was schlimmer war.

Er war gerade fertig, als Geary in einem zerbeulten braunen Wagen vorfuhr. Will stieß die Fliegentür auf, um den alten Mann einzulassen. Geary nickte ihm zu und gab Sarah die Hand. Sie erwiderte seinen Händedruck, als würden sie einander schon lange kennen.

»Sagen Sie schon«, forderte Will ihn auf. »Bitte.«

Gearys Blick schweifte zu Sarah hin und wieder zurück. Die Verzweiflung in ihrem Gesicht hätte einen Geist erschreckt, schien aber Geary nicht zu beeindrucken. Er sagte nur: »Herrlicher Tag heute.«

Sam kam die Treppe heruntergepoltert. »Dad! Ich hab gewonnen!« David war direkt hinter ihm, Maxi in den Armen. Sie sah angeschlagen aus, presste verschlafen die kleinen Fäuste gegen die Augen. Als sie Will sah, streckte sie ihm die Arme entgegen. Er nahm sie, und sie schmiegte sich an ihn.

»Sarah, Dr. Geary und ich müssen uns unterhalten.« Will küsste die zarte Beuge an Maxis Hals und reichte sie ihrer Großmutter.

Sam starrte Geary an. »Sie sind ein Doktor?«

»Das ist meine Verkleidung.« Geary zwinkerte. »Unter meinem Cape bin ich ein ganz normaler Bursche.«

»Was für ein Cape?«, fragte Sam.

»Jungs, zieht eure Badehosen an«, sagte Sarah.

»Ich will aber nicht schwimmen.« David rückte näher an Will heran.

»Dann pass zumindest unten am Strand auf Maxi auf.« Wills strenger Ton verfehlte seine Wirkung nicht. Die beiden Jungen schossen aus dem Raum. Sarah kümmerte sich gar nicht erst um Badesachen für sich selbst oder Maxi. Sie griff nach einer Strandtasche, die auf dem Fußboden an der Wand stand, und steuerte auf die Tür zu. Aber bevor sie hinausging, wandte sie sich an Geary.

»Wenn Sie irgendetwas tun können, um meine Tochter zu finden …«

»… werde ich es tun.« Geary blickte Sarah direkt in die Augen.

Maxi gähnte und ließ den Kopf auf Sarahs Schulter sinken. Sarah nickte und folgte den Jungen in Richtung See.

Will führte Geary durchs Wohnzimmer auf die Veranda, von der aus man einen schönen Blick auf Sarahs Rosengarten hatte. Die Jungen tollten bereits im Wasser, und konnten ihre Stimmen in der Ferne hören. Die beiden Männer setzten sich in den Schatten der Markise.

»Wie werden die Kinder damit fertig?«, fragte Geary.

Will sah ihn nachdenklich an. »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich ihnen überhaupt sagen soll.«

»Bis wir Näheres wissen, sollten Sie davon ausgehen, dass Ihre Frau wieder nach Hause kommt.«

»Wieso?«

Geary antwortete nicht sofort. Anscheinend wollte er etwas sagen, das ihm nicht leicht fiel.

»Ich habe einige Informationen«, begann er. Als Will sich zu ihm hinüberbeugte, wich er zurück. »Nichts Konkretes, aber einen Hinweis.«

»Sagen Sie schon.«

Geary stützte die Ellbogen auf die Knie und presste die Hände zusammen.

»Etwas, was Sie heute Morgen Detective Snow erzählt haben, hat mich an einen alten Fall erinnert.«

»Ihre Recherche?«

»Ja.«

»Aber da geht es doch nur um ungeklärte Verbrechen?«

»Ja.«

»Ich verstehe nicht.«

»Das Entscheidende ist das Datum«, antwortete Geary. »Es geschieht immer am selben Tag. Ich sag es Ihnen nicht gerne, aber es wäre das fünfte Mal. Immer am dritten September. Alle sieben Jahre.«

Wills fühlte sich, als sei von irgendwo eine unsichtbare Hand gekommen und habe auf seinen Brustkorb geschlagen. Was Geary ihm sagte, war schlimmer als alles, was er sich vorgestellt hatte. Er hatte sich vorgestellt, dass sie fort war. Aber nicht, dass sie in den Händen eines Wahnsinnigen war und dessen Zwangshandlungen ausgeliefert war. Will schloss die Augen. Geary fuhr fort.

»Ich habe mit meinem alten Freund Tom vom FBI gesprochen. Er arbeitet beim VICAP, die spüren Serienverbrechen nach.«

Hinter seinen geschlossenen Lidern sah Will nur noch Rot.

»Hören Sie mir zu, Will, das war noch nicht alles.«

Will öffnete die Augen und er sah, dass Geary ihn eindringlich fixierte.

»Es geht um Mütter.«

»Mütter? Die Frau muss eine Mutter sein? Wieso?«

Wieder zögerte Geary.

»Es geht ihm nicht darum, sie umzubringen. Er hält sie fünf Tage lang gefangen.«

»Und dann?«

Schließlich sprach Geary es aus: »Er entführt das Kind der Frau.«

Eine Hitzewelle schwappte durch Wills Körper.

»Und dann was?«

Geary seufzte. »Wir werden dieses Arschloch kriegen.«

»Sie werden ihn kriegen? Wo er Ihnen doch so lange entwischt ist?«

»Wir haben erst jetzt den Zusammenhang zwischen den einzelnen Fällen erkannt.«

»Was geschieht mit den Müttern?«, fragte Will.

»Sie werden freigelassen«, sagte Geary, »sobald er mit dem Kind fertig ist.«

Will starrte dem alten Mann ins Gesicht und zwang sich dazu, die nächste Frage zu stellen.

»Was macht er mit dem Kind?«

Geary antwortete nicht.

Will stand auf. »Was macht er mit dem Kind?«

»Behalten Sie die Kinder immer bei sich. Lassen Sie sie nicht aus den Augen.«

Die Stimmen der Jungen drangen vom Ufer herauf. Will kämpfte gegen den Impuls, zu ihnen zu laufen.

»Ich glaube das einfach nicht.«

»Das kann ich mir vorstellen. Es wäre auch besser, wenn sie keinen Anlass dazu hätten. Sie genauso wenig wie jemand anderes.«

Emily. Seine Kinder. Die Panik, die er auf dem Fahrrad hatte abschütteln wollen, sprang ihm wieder an die Kehle. Seine Stimme krächzte, als er fragte: »Welches?«

Geary schaute auf die Bäume. »Einer der Jungen.«

Eine schrille Stimme verhallte über dem See, aber Will vermochte nicht zu sagen, ob Vergnügen oder Ärger in ihr lag.

Geary wandte sich zu Will. »Ich habe diese Sache bereits mit dem Kriminologen durchgesprochen, von dem ich Ihnen erzählt habe. Ich verspreche Ihnen, Will, wir erstellen ein Profil von diesem Unmenschen, und dann setze ich die örtliche Polizei und, wenn es sein muss, auch das FBI in Bewegung. Das ist mir in der Vergangenheit auch schon gelungen. Uns bleiben noch drei Tage, und wir werden ihn kriegen.«

»Wie soll ich sie schützen?« Will konnte seine eigene Stimme kaum hören. »Was ist, wenn ich es nicht kann?«

Aus dem Augenwinkel sah Will, dass David vom See heraufkam. Er blieb stehen, als er seinen Vater sah. Will versuchte zu lächeln, und es gelang ihm sogar zu winken, aber David nahm es nicht wahr.

David. Als er geboren wurde, so klein und so vollkommen, hatte Emily ihn ihr Kunstwerk genannt. Er war mit solcher Macht in ihr Leben eingebrochen, dass danach nichts war wie zuvor. Er hatte sie gelehrt, Eltern zu sein, und sie auf die jüngeren Kinder vorbereitet.

»Warum lassen Sie die Kinder nicht von Ihrer Schwiegermutter nach New York zurückbringen?«, fragte Geary.

»Sie würde die lange Fahrt allein mit den Kindern nicht schaffen.«

»Und wenn Sie selbst fahren?«

Das war durchaus eine gute Idee, aber er konnte sich nicht vorstellen, Emily hier zurückzulassen. Ohne sie würde Will das Cape nicht verlassen.

»Dad!«, rief David.

»Ich komme!« Will wandte sich zu Geary. »Ich rufe meine Schwester an.«

»Gut.« Geary stand auf. »Ich bleibe in Kontakt mit Ihnen. Und mit der Polizei.«

»Vielen Dank, Dr. Geary.«

»John.«

Will nickte.

»Ich finde schon selbst hinaus. Gehen Sie und kümmern Sie sich um Ihre Jungs.«

Will lief die Verandastufen hinunter und gesellte sich zu David.

»Wetten, dass ich schneller bin«, sagte er zu seinem Sohn, und sie rannten los in Richtung See.

»Dad.« Als sie die Lichtung kurz vor dem Strand erreicht hatten, hielt David inne. »Warum war dieser Mann da?«

Will legte David die Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, wir mussten nur etwas besprechen. Mach dir keine Sorgen.«

David entzog sich mit einem Ruck der Hand seines Vaters. »Was soll das heißen, mach dir keine Sorgen? Ich bin doch nicht blöd, Dad. Wo ist Mom?« David blinzelte in die Sonne. Will sah das Misstrauen in seinen Augen. Er wollte etwas erwidern, wusste aber nicht, was. Wie konnte er es David sagen? Wie konnte er es verschweigen? Der Junge war zu klug, um belogen zu werden, aber zu unschuldig, um die Wahrheit zu vertragen.

»Sie werden Mom finden.« Wills Magen verkrampfte sich. »Dr. Geary hilft uns, sie zu finden.«

»Wie denn?«

Bevor Will versuchen konnte zu antworten, vibrierte sein Handy. Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche, zog es hervor und klappte es auf. Eine Frauenstimme fragte nach Mister Parker.

»Am Apparat.«

»Hi, hier ist Pam. Aus dem Stop & Shop. Ich hab Ihre Nachricht bekommen.«

»Ja.« Will sah David an, hob das Kinn und wies auf den Strand. »Los«, flüsterte er. »Ich komm gleich nach.«

David blieb stehen.

Obwohl er es höchst ungern tat, drehte er sich um, ging ein paar Schritte zur Seite und senkte die Stimme. Er spürte die erwartungsvolle Unruhe des Jungen hinter sich und erklärte Pam, so gut er konnte, die Lage.

»Haben Sie etwas gesehen?«, fragte er Pam.

»Ich nehme an, meine Freundin hat Ihnen schon das meiste erzählt. Ich wollte Ihnen nur sagen, mir kommt der Kerl immer fies vor. Er ist immer mit der Frau da, die ihn angeschrien hat. Ich glaube, sie ist vielleicht seine Mutter oder so.«

»Wieso?«, flüsterte Will.

»Die beiden erinnern mich irgendwie an diese Mutter-Sohn-Sache aus New York, wissen Sie? Wo sie eine reiche Lady umgebracht haben, um an ihr Haus zu kommen. Ich hab das in Most Wanted gesehen.«

Will wusste nicht, was er von diesen Informationen halten sollte. Es konnte etwas daran sein oder auch nicht. Er würde es Geary gegenüber erwähnen.

»Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern?«, fragte er. »Irgendetwas?«

»Eigentlich nicht.«

»Nun, sollte Ihnen aber doch …«

»Ich rufe an, versprochen.«

»Danke.«

»Sir, ich hoffe, Sie finden sie. Sie wirkte so nett.«

»Danke für den Anruf.« Will klappte sein Handy zu.

»Wer war das, Dad?«

Will schüttelte den Kopf. Er brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, was er seinen Kindern sagen sollte. Wie er ihnen helfen konnte, mit der Situation umzugehen, ohne ihnen Angst einzujagen.

»Komm«, sagte Will, »fragen wir Grandma, was sie zum Abendessen möchte.«

David folgte Will hinunter zum See. Sarah saß auf einem Klappstuhl neben Maxi, die im Sand spielte. Ein paar Meter entfernt von ihnen planschte Sam im Wasser. Sarahs Haut sah in der Sonne fast durchsichtig aus.

Will konnte es seiner Schwiegermutter nicht sagen, noch nicht. Er würde sie drängen, diese Nacht eine Schlaftablette zu nehmen und so tief zu schlafen, wie es ging. Dann würde er alles genau planen und ihr am nächsten Morgen davon erzählen.

Sarah schlug Spaghetti Bolognese zum Abendessen vor, und Will ging zurück ins Haus, um zu kochen – und um zu telefonieren. Er wollte Caroline um Hilfe bitten, doch nachdem er eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, fiel ihm ein, dass sie und Harry ihre Anwaltspraxis in den Wochen um Labor Day schlossen und eine Reise machten. Dieses Jahr waren sie in Italien. Vor dem späten Sonntagabend würden sie nicht wieder zurück sein, und bis dahin würde sowieso alles vorbei sein. Auf die eine oder andere Weise. Dann fielen ihm Charlie und Val ein, alte Freunde von Emily. Innerhalb von Minuten war alles geregelt: Sie würden über Nacht zum Cape fahren und gleich am frühen Morgen alle drei Kinder mit zurück nach New York nehmen.