KAPITEL 13
Ein Traum, in dem seine Mutter vorkam, weckte David. Draußen vor den Fenstern war es stockdunkel und totenstill. Aber in dem Zimmer, in dem er zusammen mit Sam und Maxi schlief, schimmerte eine Nachtleuchte, sodass er trotzdem etwas sehen konnte. Maxi lag auf der Seite, den Rücken gegen die Stäbe ihres Kinderbetts gepresst. Sammy hatte die Beine zu einem V gespreizt. David zog die Decke bis zum Kinn und dachte über seinen Traum nach. Teile davon waren bereits verblasst, andere sah er deutlich vor sich. Seine Mutter war nicht nach Hause zurückgekehrt, und niemand hatte einen Ton darüber verloren. Maxi war erwachsen geworden und sah genau aus wie Emily aber sie war doch eine Fremde, die ihn ermahnte, seine Hausaufgaben zu machen, obwohl er das schon längst getan hatte. Sammy warf einen Basketball gegen die Tür von Grandmas Garage, und eine Stimme, die sich anhörte wie die des Doktors, der gestern zu Besuch gekommen war, rief immer wieder Stop Stop Stop. Von diesen Worten war er wach geworden. Stop Stop Stop.
David wollte nicht wieder einschlafen, damit der Traum nicht von neuem begann. Er setzte sich auf, um nicht wieder einzunicken. Ein Wecker neben Sammys Bett zeigte in roten Ziffern die Zeit an: 5.13 Uhr.
Einmal hatte er Grandma gefragt, wann die Zeitung käme. Gegen fünf Uhr morgens, hatte sie ihm geantwortet. Das fiel ihm jetzt wieder ein. Er hatte mitbekommen, wie sein Dad am vergangenen Abend Grandma gesagt hatte, sie solle die Zeitung nicht ins Haus bringen. David schloss daraus, dass weder er noch Sammy die Zeitung sehen sollten, besonders er nicht, denn Sammy konnte sie noch nicht lesen. Wahrscheinlich stand etwas über ihre Mutter darin.
Vielleicht war sogar ihr Bild auf der Titelseite. Vielleicht war sie ja tot, und die Erwachsenen wollten nicht, dass die Kinder davon erfuhren. David war es leid, immer zu hören zu bekommen, dass alles in Ordnung sei. Er wusste, dass das nicht stimmte. Er wusste, dass seine Mutter nicht nach Hause gekommen war, dass guten Menschen böse Dinge geschahen, einfach weil es überall Monster gab und die Welt bei weitem kein so toller Ort war, wie die Erwachsenen den Kindern immer vorzumachen versuchten. Und er wusste, dass seine Eltern ihn all die Jahre Aikido hatten lernen lassen, damit er sich gegen die Bösen verteidigen konnte. Er war ja nicht blöd. Er wusste es genau.
Er hatte beobachtet, wie sein Vater am vergangenen Abend rund ums Haus gegangen war, um sich davon zu überzeugen, dass alle Türen und Fenster verschlossen waren, sogar das Dachfenster über Grandmas Loft. Alles fest verriegelt. Das Garagentor wurde sowieso jeden Abend runtergerollt, bevor sie zu Bett gingen, aber diesmal hatte Dad auch die Tür zwischen Garage und Abstellraum verschlossen. Es war genau wie in Manhattan, wo alles verschlossen sein musste und man nicht einmal im Sommer bei offenem Fenster schlafen konnte. Entweder man hatte eine Klimaanlage, oder man schwitzte, dazwischen gab es nichts, vor allem keine frische Brise. Kamen die Bösen immer nur, wenn man schlief, war das so? Waren sie wie Fledermäuse und nur des Nachts wach? Oder waren sie auch Menschen? Aber dann waren sie ja auch tagsüber böse?
David traf eine Entscheidung. Er würde nachsehen, ob Mom sich in ihrem Bett befand. Wenn nicht, würde er zur Straße hinaufgehen und selbst die Zeitung holen, bevor sie die Möglichkeit hatten, sie vor ihm zu verstecken.
Er schob die Decke beiseite und stahl sich leise aus dem Zimmer. Die Tür ließ er einen Spalt weit offen, wie es Mom und Grandma auch taten, um zu hören, wenn Maxi aufwachte. Seine Füße knirschten auf liegen gelassenen Spielsachen, als er das Wohnzimmer im Parterre durchquerte. In dem Raum dahinter schliefen seine Eltern. Die Tür war fest verschlossen. Als er den Knauf drehte, ertönte ein lautes Klicken, und als er die Tür aufschob, knarrte sie sogar. Im Zimmer war es sehr dunkel. Er blieb einen Moment stehen und wartete darauf, getadelt zu werden. Nichts geschah. Als seine Augen sich zur Genüge an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er seinen schlafenden Vater im Bett erkennen. Er war am Tag zuvor ziemlich müde gewesen, und David nahm an, dass er jetzt fest schlief. Allein. Seine Mom war nicht da.
David zog die Tür hinter sich heran, ohne sie ganz zu schließen, damit sie keinen Lärm machte. Er schlich zur Vordertür. Es gab ein lautes Geräusch, als er den Schlüssel herumdrehte und die Tür öffnete. David hielt inne und wartete darauf, dass jemand erschien und ihn ins Bett zurückschickte. Es kam niemand. Er schob die Fliegentür auf, von der er wusste, dass sie ziemlich schlimm ächzte, und ließ sie hinter sich zufallen. Dann rannte er die Straße hinauf. Er hatte es bis hierher geschafft, und wenn er nur als Erster die Zeitung in die Hand bekam, war es ihm gleichgültig, ob sie ihn erwischten.
Es war so dunkel, dass er die Straße kaum erkennen konnte.
Er hörte auf zu rennen, weil er fürchtete, vom Weg abzukommen. Stattdessen ging er schnellen Schrittes die alte Straße hinauf, vorbei an den Abzweigungen zu den beiden anderen Häusern, die am See standen. Man bekam seine Nachbarn hier draußen nicht zu Gesicht, es sei denn, man begegnete einander im Auto. Dann hielt man stets nebeneinander an und plauderte ein Weilchen. David war es immer peinlich, wenn Grandma das tat. Es war nicht wie in Manhattan, wo man in einem großen Gebäude zusammen mit Hunderten von Leuten wohnte, die man zwar ständig sah, mit denen man aber ausdrücklich kein Wort wechselte. Hier war es genau anders herum; es gab nicht besonders viele Leute, aber wenn man ihnen über den Weg lief, musste man so tun, als würde man sie kennen.
Als er sich der Hauptstraße näherte, war es bereits ein wenig heller, und er konnte die Briefkästen erkennen, drei für Post und zwei für Zeitungen. Er fing wieder an zu laufen und erreichte die Briefkästen in dem Moment, als die Sonne über den Horizont stieg. Mit einem Schlag wurde die Nacht zum Tag. Er wusste nicht genau, welcher Kasten ihrer war, und darum griff er sich einfach irgendeine Zeitung und rannte den Weg zurück.
Sobald er außer Sichtweite der Hauptstraße war, blieb er stehen, zog die weiße Plastikhülle ab und faltete die Zeitung auseinander. Mit ausgestreckten Armen hielt er sie vor sich und betrachtete die Titelseite. Kein Bild seiner Mutter.
Er blätterte um, und da war sie.
Auf dem Bild sah sie fröhlich aus, und das verwirrte ihn. Dann wurde ihm klar, dass sie natürlich ein Bild von früher benutzt hatten. Ob sie jetzt lächelte, wusste niemand. Er warf die Zeitung zu Boden, trampelte sie in den Schmutz der alten Straße, setzte sich darauf und weinte.
Nach einigen Minuten stand er auf und schüttelte den Schmutz von der Zeitung. Unter dem lächelnden Gesicht seiner Mutter stand Vermisst seit Montag. In dem kurzen Artikel wurde ihr Name erwähnt, dass sie aus New York komme, dass sie ihre Mutter auf dem Cape besucht habe, dass sie drei Kinder habe, dass sie immer dasselbe Armband trage und dass sie nicht mehr gesehen worden sei, seit sie vor zwei Tagen beim Einkaufen gewesen war. Nichts, was David nicht bereits gewusst hätte. Er las weiter.
Der Artikel schloss mit dem Satz, dass Mrs. Parkers Mann sich unkooperativ verhalten und bei einem Anruf einfach aufgelegt habe. David erinnerte sich daran, aber zu dem Zeitpunkt war es ihm nicht sonderlich wichtig vorgekommen. Andauernd riefen Leute an und stellten Fragen, die man nicht beantworten wollte. Seine Eltern nannten sie Telefonwerber und sagten, man brauche mit ihnen nicht zu sprechen. Wenn sie anriefen, bekamen sie entweder ein freundliches »Tut mir Leid, aber nein« zu hören oder ein gereiztes »Lassen Sie uns zufrieden und streichen Sie uns von Ihrer Liste«. Der Anruf gestern war etwas anders gewesen, denn sein Dad hatte etwas über seine Mom gesagt, daran konnte David sich erinnern. Aber dann hatte er ebenso gereizt reagiert, wie bei einem von diesen Anrufen. Doch offenbar war jemand von der Zeitung dran gewesen, der nun schrieb, dass Dad wütend geworden war. Dad wurde manchmal wütend, wie jeder mal wütend wurde, Mom auch und David selbst ebenso. Aber so, wie es hier stand, klang es, als hätte Dad aufgelegt, weil er wusste, wo Mom war, es aber nicht sagen wollte. Dabei hatte sein Vater keine Ahnung, wo seine Mutter war.
In einem Kasten neben dem Artikel stand die Anzahl aller Leute, die bis jetzt in diesem Jahr landesweit vermisst wurden und nicht wieder nach Hause gekommen waren: 515 109. In der Erläuterung hieß es, dass Vermisste fast nie gefunden würden. Dass Leute, die andere entführten, ihnen meist sehr viel Leid zufügten und sie dann töteten. Dass Kidnapper, die Geld wollten, es umgehend verlangten. Dass die Polizei zu beschäftigt sei und ohne konkrete Hinweise nicht wisse, wo sie suchen solle. David verschlang den Artikel, vielleicht hatte Dad deswegen mit dem Mann gesprochen. Vielleicht hatte er seinen eigenen Privatdetektiv beauftragt, wie sie es im Fernsehen auch manchmal machten. Vielleicht würden sie Mom ganz allein finden müssen.
David faltete die Zeitung zusammen, klemmte sie unter den Arm und lief so schnell wie möglich zum Haus zurück. Er stieß die Fliegentür und die Innentür auf und rannte zum Schlafzimmer seiner Eltern. Sein Dad schreckte hoch und starrte ihn an, als sei er ein Geist.
»Was ist passiert?« Sein Dad klang verwirrt. »Was ist los? Ist etwas Schlimmes geschehen?«
»Ich weiß es.« David marschierte mit der zerknüllten und schmutzigen Zeitung zum Bett, breitete sie aus und wies auf die Seite zwei.
Sein Vater griff nach der Zeitung und hob sie in die Höhe, um einen Blick darauf zu werfen. Dann legte er sie ganz ruhig aufs Bett. »Komm her.« Er rutschte zur Seite, um David Platz zu machen.
David blieb wie angewurzelt stehen.
»Komm her.«
David rührte sich nicht. »Du hast mich angelogen, Dad. Du hast gesagt, mit Mom ist alles in Ordnung und sie kommt bald wieder.«
»Es ist wahrscheinlich auch alles in Ordnung mit ihr, und sie kommt bald wieder.«
»Haben sie angerufen und Geld verlangt?«, fragte David.
»Wer denn? Mein Kleiner …«
»Die Kidnapper. War das der, der dich gestern auf deinem Handy angerufen hat? Denn wenn er angerufen hat und Geld wollte, dann lebt sie vielleicht noch.«
David sah, dass sein Dad sprachlos war. Er saß versteinert da, so wie Sammy, wenn er dachte, dass ein Monster unter seinem Bett wäre. Dann traute er sich nicht aufzustehen, um zur Toilette zu gehen, und machte ins Bett. Und wenn Mom das merkte, weinte er wie ein Baby. Doch Dad saß nur da und atmete tief durch. Aber es war kein Monster unter seinem Bett, und das wusste sein Vater. Er war so still, weil er dachte, dass Mom etwas Schlimmes passiert war.
»Sie haben kein Geld verlangt«, sagte David. »Oder doch?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »David, es tut mir Leid, aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«
»Was meinst du mit Hoffnung, Daddy? Ist es so wie mit dem Weihnachtsmann? Ich weiß nämlich, dass es ihn gar nicht gibt, aber die Geschenke will ich trotzdem.«
»Nimm die Geschenke, David. Und gib die Hoffnung nicht auf, ich bin sicher, dass sie wiederkommen wird.«
»Aber woher weißt du das?« David hatte die Fäuste geballt. Er wollte auf irgendetwas einschlagen und traf das Bett. Die Zeitung flog in die Höhe.
Sein Vater beugte sich zu ihm und sah ihn auf eine Weise an, die nur bedeuten konnte, dass er gut zuhören sollte: »Das hier ist wirklich wichtig, und ich brauche deine Hilfe. Ich möchte nicht, dass du die Straße hinaufrennst oder allein an den Strand gehst, obwohl du schon elf bist und der Älteste von euch dreien. Ich brauche jetzt deine Hilfe. Sam wird sich auch daran halten, wenn du es tust. Versprochen?«
David nickte.
»Und dann möchte ich nicht, dass Sammy Angst bekommt. Also darfst du ihm hiervon nichts sagen.« Er zeigte auf die Zeitung. »Du weißt, was für eine lebhafte Phantasie er hat. Versprich mir, dass du deinem Bruder nichts erzählst.«
David dachte nach. Er war bereit, es zu versprechen, fürs Erste. Er würde es so machen wie beim Weihnachtsmann: Er würde die Geschenke annehmen und dann entscheiden, wie er damit umgehen würde.
Sammy kam in seinem Flugzeugpyjama ins Zimmer geflogen und landete neben David auf dem Bett. »Was ist das?«
»Eine Zeitung, Blödmann.«
David warf sich auf Sammy, zerrte ihn vom Bett. Und kitzelte ihn durch. Sam lachte und versuchte zurückzuschlagen, doch David war zu schnell. In Windeseile hatte er sich neben seinem Vater unter der Bettdecke versteckt.
Sammy stand auf und rang nach Atem. »Maxi ist auch schon wach.«
»Ich hab sie gar nicht gehört«, sagte Dad.
»Sie hat aber die Augen offen. Sie ist ganz rot und sieht richtig komisch aus.«
Dad sprang auf und rannte aus dem Zimmer.