KAPITEL 19
Daddy, wenn ich groß bin, will ich Polizist werden!«
Sammy trug immer noch die Polizeimütze, als sie die Wache verließen und über den vorderen Weg auf den Parkplatz zugingen. David hatte seine Mütze Suellen zurückgegeben, und Will hatte den Eindruck, dass es ihm peinlich war, sie überhaupt aufgesetzt zu haben. Er war in jenem Übergangsalter, in dem er sich noch von den Vergnügungen der Kindheit hinreißen ließ, gleichzeitig aber schon wusste, dass das nicht cool war. Er spielte immer noch gern, wollte es aber nicht mehr zugeben.
Will sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwölf. Sie würden Zeit haben, um im Krankenhaus nach Maxi zu sehen und dann ins Haus zurückzufahren, um Charlie und Val zu begrüßen.
»Entschuldigung!«
Der Ruf überraschte Will. Er blieb stehen und zerrte Sam zurück, der gerade allein den Parkplatz überqueren wollte. David hielt ebenfalls inne und drehte sich nach dem Mann um, der scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war und eilig in ihre Richtung lief. Er war in den Dreißigern, hatte gewelltes blondes Haar und blasse Haut mit Sommersprossen. Seine weißen Hosen hatten scharfe Bügelfalten und der Kragen des orangefarbenen Lacrosse-Hemdes war aufgestellt, so wie es in den Achtzigern Mode gewesen war. An seinem Hals hing eine Kamera, und in der Hand hielt er einen Notizblock.
»Mister Parker!«
Die Stimme kam Will bekannt vor. »Wer sind Sie?«
Ein Lächeln überzog das fahle Gesicht des Mannes. »Eric Smith, Cape Cod Times.« Er streckte seine Hand aus, aber Will erinnerte sich nur zu gut an das Telefongespräch und verweigerte den Händedruck.
»Kommt jetzt, Jungs.« Will zog Sam mit sich und wollte mit David den Parkplatz überqueren.
»Mister Parker!«
Smith lief hinter ihnen her. Ein Auto fuhr auf den Parkplatz, und instinktiv zog Will die Jungen zurück auf den Gehweg.
»Irgendwelche Neuigkeiten von Ihrer Frau?«
Will biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass der Wagen vorbei war. Er wollte gerade weitergehen, als ihm einfiel, dass Eric Smith ihn schon beim ersten Mal dafür hatte bezahlen lassen, dass er ihn so brüsk zurückgewiesen hatte. Ihm wurde klar, dass es dieses Mal auch die Kinder treffen würde. Und Emily.
»Nichts Neues«, sagte Will.
»Ich habe gehört, dass ein Special Agent vom FBI auf den Fall angesetzt ist.«
Will zögerte. »Das stimmt nicht ganz«, sagte er. »Er ist im Ruhestand, und ich habe ihn privat beauftragt.« Eine kleine Fehlinformation, denn Geary war ja jetzt offiziell bei der Polizei, aber Will war sich unsicher, wie viel er erzählen durfte.
»Können Sie mir seinen Namen sagen?«
Konnte er das? Will wusste es nicht. »Das wär’s fürs Erste, tut mir Leid.«
»Ich verstehe, Mister Parker. Nur noch eine Frage, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Will hatte was dagegen, aber das schien den anderen sowieso nicht zu stören. Er nickte.
»Es heißt, Doktor Roger Bell sei zu dem Fall hinzugezogen worden. Warum engagiert die Polizei von Mashpee einen berühmten Kriminologen, wenn es sich nur um einen einfachen Vermisstenfall handelt?«
»Es geht um meine Frau, und sie ist nicht nur ein einfacher Vermisstenfall …« Will gebot sich Einhalt. »Hören Sie, er ist ein Freund, ein FBI-Agent im Ruhestand, und er macht hier Sommerferien, glaube ich.«
»Sommerurlauber?« Smith fing schon an zu schreiben, bevor er eine Antwort bekam.
»Wie bitte?«
Die Vordertür der Polizeiwache schwang auf, und heraus trat Roger Bell, ein breites Grinsen im Gesicht, als hätte er gerade drinnen mit jemandem Witze gerissen. Als er Will und Eric Smith sah, ging er, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten oder sein Grinsen zu verlieren, auf sie zu. Er begrüßte Smith mit einem Lachen. »Wie ich Ihrem Aufzug entnehme, sind Sie bestimmt von der Lokalpresse.«
»Und Sie sind?«
Roger Bell trat zwischen Will und David und legte ihnen die Arme um die Schultern. »Cheese!«, griente er.
Smith wartete nicht auf den Namen, sondern knipste sofort sein Foto. Einer von den kreativen Reportern, vermutete Will, die alle Lücken später füllen und, wenn nötig, am nächsten Tag die Richtigstellungen drucken lassen würden.
»Schönen Dank.« Roger Bell schüttelte dem Reporter heftig die Hand. »Und jetzt haben meine Freunde leider einen Termin. Wenn Sie uns entschuldigen.« Bell drehte sich um, und mit einer ausladenden Geste beider Arme sammelte er David, Will und Sam ein. Sie gingen zusammen über den Parkplatz und ließen Eric Smith stehen.
»Welches ist Ihr Wagen?«, fragte Bell.
Will deutete mit dem Kinn in Richtung des SUV. »Ein Mietwagen.«
»Natürlich.«
Als sie am Auto angelangt waren, wandte sich Roger Bell an die Jungen. Er legte die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich leicht nach vorne. »Du musst Sam sein. Erste Klasse oder zweite?«
Sam grinste. »Piraten tragen schwarze Augenklappen, keine grünen.«
»Dann bin ich vielleicht gar kein Pirat.«
»Nimm das ab.«
»Sammy!«, rief Will. »Bitte entschuldigen Sie sein Benehmen, Dr. Bell.«
Roger Bell rang sich ein Lächeln ab, das einstudiert wirkte. Will nahm an, dass er ständig Kommentare zu seiner Augenklappe zu hören bekam, aber dieses auffällige Grün forderte sie ja auch heraus.
Roger Bell richtete sein gesundes Auge auf David. »Dann bist du bestimmt David und fünfzehn, stimmt’s?«
David versuchte ein Grinsen zu unterdrücken.
Roger Bell kniff sein gesundes Auge zu. »Dreiundzwanzig?«
»Elf«, klärte David ihn auf.
»Aha, elf, ein interessantes Alter.«
Will fand das Verhalten des Mannes etwas seltsam. Er öffnete die hintere Tür, um Sam und David einsteigen zu lassen, und schlug sie hinter ihnen zu.
»Reizend, Ihre Söhne«, sagte Roger Bell.
»Finde ich auch.«
Bell blickte Will abschätzend an. »Glauben Sie daran, dass die Polizei Ihre Frau findet?«
»Mir bleibt kaum eine andere Wahl, oder?«
»Nein.« Roger Bell schüttelte den Kopf. »Ich denke, Sie haben nicht besonders viel Wahl gehabt, was diese ganze Situation betrifft.«
»Sie meinen, dass die Polizei Zeit verschwendet, was Robertson betrifft, nicht wahr?«
Roger Bell neigte den Kopf und schürzte die Lippen. »Mein alter Freund John Geary hat leider nicht ganz Unrecht, wenn er sagt, dass Mister Robertson dem Profil nicht hundertprozentig entspricht.«
»Mit anderen Worten, Sie haben schon früher mit ihm gearbeitet.«
Roger Bell nickte. »Sehr, sehr oft.«
»Wie oft haben Sie beide Recht behalten?«
Will hörte hinter sich den Kies knirschen und drehte sich um, weil er erwartete, in seinem Rücken Eric Smith mit gezücktem Notizbuch lauern zu sehen, aber es war nur ein Streifenwagen, der auf den Parkplatz fuhr.
»Fast immer«, antwortete Roger Bell.
»Also könnte es sein, dass wir nicht weiter sind, als wir es gestern schon waren.«
»Möglicherweise nicht.«
Bells einäugiger Blick wanderte zu dem SUV. »Die beiden scheinen sich ja ganz gut zu halten.«
»Nein, das täuscht«, sagte Will. »Wie sollten sie auch? Sie brauchen ihre Mutter.«
»Wenn die Dinge sich nicht bald zum Guten wenden, werden die beiden größere Probleme bekommen.« Bell schaute Will nachdenklich an und sagte dann: »Es könnte sein, dass die Kinder psychologische Betreuung brauchen.«
Will nickte, aber er wusste, dass im schlimmsten Fall seinen Kindern auch eine psychologische Betreuung nicht weiterhelfen würde.
»Ich werde mal sehen, ob ich für Sie ein paar Adressen herausfinden kann«, schlug Bell vor. »Hier auf dem Cape und auch in New York.«
»Sehr nett. Danke.« Will öffnete die Fahrertür. Er war noch nicht so weit, Pläne für danach zu machen. Es gab gar kein Danach. Es gab nur jetzt und davor.
Bell lächelte. »Ich müsste Sie irgendwie erreichen können.«
»Natürlich.« Will zog eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse, und schrieb die Nummern seines Handys und von Sarahs Festnetz auf. »Sie können auf beiden anrufen.« Er stieg in den SUV, ließ das Fenster herunter und startete den Motor. Er wollte fort von diesem Parkplatz, fort von der Polizeiwache mit all den Menschen, die darin geschult waren, immer mit dem Schlimmsten zu rechnen, fort von dem aufdringlichen Eric Smith. Nur fort. Zurück nach Juniper Pond, wo Charlie und Val bald eintreffen würden, um die Jungen von der Insel weg und in die relative Sicherheit ihres Zuhauses zu bringen.
Roger Bell winkte. »Ich werde mich heute noch drum kümmern.«
Die Jungen schnallten sich auf der Rückbank an, und Will fuhr rückwärts aus seinem Parkplatz heraus.
»Was ist eigentlich wirklich los, Dad?«, fragte David.
Will warf einen Blick in die Rückspiegel und sah, dass seine beiden Söhne ihn anstarrten und auf eine Antwort warten. Sie wussten noch nicht, dass er sie fortschickte, und sollten es auch erst in letzter Minute erfahren. Er wollte weder eine Auseinandersetzung noch irgendwelche neunmalklugen Ideen.
Alles so einfach wie möglich halten.
»Die Polizei wird Mom finden.«
Auf Sammys Gesicht trat ein befreites Lächeln. Er lehnte sich entspannt zurück und schaute aus dem Fenster. Anders David. Er saß weiterhin nach vorne gebeugt da und sah Will über den Rückspiegel in die Augen.
»Woher weißt du das?«
Will fuhr kurz vor der Abzweigung auf die Route 151 an den Straßenrand und drehte sich um, um Sam und David anzuschauen. »Sie denken, dass Mom von jemandem …«
»Gekidnappt wurde«, vollendete David.
Will nickte.
»Wieso?« Die Erleichterung wich aus Sammys Gesicht.
»Ich weiß nicht, warum«, antwortete Will. »Irgendwann werden wir das herausfinden, aber im Moment kommt es darauf an, dass wir sie finden, stimmt’s, Jungs?«
Beide nickten, wenn auch leicht benommen.
»Sie glauben zu wissen, wer sie entführt hat, und sind dabei, ihn zu verfolgen.«
»Und wenn sie ihn verfolgen«, sagte David, »dann finden sie auch Mom?«
Will nickte. »Sie werden die State Police hinzuholen, und auch die Hilfe von anderen Behörden, wenn es notwendig wird.«
»Zum Beispiel vom FBI?«, fragte David.
»Wie im Fernsehen?« Sam machte große Augen.
Will nickte. »Wahrscheinlich das FBI. Die sind wie das Gehirn unseres ganzen Landes und versuchen, alles zu wissen, was geschieht, ob gut oder schlecht.«
»Aber das können sie doch nicht, oder, Dad?«, sagte David. »Alles wissen?«
»Sie wissen eine ganze Menge mehr als die meisten von uns«, antwortete Will. Dass es gerade die Lücken waren, in denen Emily zu verschwinden drohte, behielt er für sich.
Er drehte sich wieder um und fuhr los. Panik durchflutete ihn plötzlich, und er rang nach Luft. Emily und er waren so stolz darauf gewesen, dass sie ihre Kinder vor den Fährnissen der Großstadt bewahrt hatten. Ihr Ziel war es gewesen, ihr Selbstbewusstsein so zu fördern, dass sie über einen inneren Schutzwall verfügten, wenn die Zeit kam, sich der Welt zu stellen. Sie hatten die Wärme ihres Heims einer zynischen Gesellschaft entgegengesetzt. Mit alledem waren sie erfolgreicher gewesen, als sie gehofft hatten. Bis jetzt.
»Wohin fahren wir?«, fragte Sammy.
Will spürte, wie Emilys Hand in seinen Nacken griff, wie die sanfte Wärme ihrer Fingerspitzen ihn beruhigte, während er am Steuer saß. Sie war fort, aber auch präsent, denn sie lebte unter seiner Haut.
»Zum Krankenhaus.« Will fuhr atmete tief durch. »Um nach Maxi zu sehen.«
Sarah saß im Wartebereich der Kinderabteilung und las in einem Magazin. Will bemerkte, dass sie elend aussah. Wie viel Schlaf sie in der vergangenen Nacht auch immer gefunden haben mochte, nennenswerte Erholung hatte er ihr offenbar nicht gebracht. Ihr Gesicht schien vor lauter Kummer in sich zusammengefallen zu sein. Als sie Will mit den Jungen auf dem gebohnerten Linoleumboden näher kommen hörte und den Blick hob, überkamen ihn Schuldgefühle, als wäre sie sein eigenes Kind, das er zurückgelassen hatte und zu dem er nun verspätet zurückkehrte.
Will beugte sich vor und küsste ihre Wange. »Wie geht es Maxi?«
»Sie schläft. Der Tropf wirkt schon. Die Ärztin hat gesagt, es wird alles gut.« Tränen traten in ihre Augen, die sie mit einem Blinzeln zu vertreiben versuchte. »Sieh sich einer die Polizeimütze an!«
Sammy machte einen Satz und nahm eine Pose ein, die er anscheinend für offiziell hielt: Beine gespreizt, die Fäuste abwehrbereit unter dem Kinn.
»Meine Güte.« Sarah versuchte ein Lächeln. Dann sah sie David an und streckte ihm die Hand entgegen. Er schob seine kleine Hand in ihre, und sie hielt sie fest gedrückt.
»Können wir zu ihr?«, fragte Will.
»Ja«, sagte Sarah. »Ich zeig euch den Weg.«
Will, David und Sammy folgten Sarah den Korridor hinunter zu dem Zimmer, in dem Maxi mit zwei weiteren Babys lag. Die Wände waren gelb gestrichen und mit Postern geschmückt, die Gestalten aus der Sesamstraße zeigten: Elmo, Sina, Bibo, Krümelmonster. Heliumballons waren an den Geländern aller drei Kinderbetten befestigt, und auf den Nachttischen standen dicht gedrängt bunte Stofftiere. Sogar auf Maxis Tisch lagen ein paar Geschenke: eine gelbe Stoffpuppe, ein flauschiges weißes Kätzchen und eine orangefarbene Handpuppe aus Velours, die aussah wie ein Krebs. Sarah hatte während der Wartezeit den Geschenkladen besucht. Auf Maxis Ballons, einer grün, der andere rosa, stand Ich liebe dich und Gute Besserung.
Maxi schlief fest, zusammengerollt in der oberen Ecke ihres Krankenhausbettchens. Eine winzige Kanüle ging unter einem Pflaster in ihren Unterarm, und ein langer biegsamer Schlauch führte zwischen den Gitterstäben hinauf zu einem hohen Ständer mit dem Tropf, der sich langsam leerte. Will legte ihr die Hand auf die Stirn, auf die Wange und in den Nacken. Überall fühlte sie sich trocken und weich und warm an, aber nicht heiß. Ihr Fieber war abgeklungen. Ihre Gesichtsfarbe war rosig, aber nicht rot. Die Lider wölbten sich friedlich über ihren Augen. Sie sah aus wie ein gesundes schlafendes Baby. Behutsam und ganz leise senkte Will das Geländer ab und beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss zu geben.
»Ich muss kurz mit Doktor Lao sprechen«, flüsterte Will Sarah zu. »Bleibst du hier bei den Jungs?«
»Natürlich.«
Er schob das Seitenteil des Kinderbetts vorsichtig wieder zurück, verließ seine Familie und suchte Doktor Lao auf.
»Ihr Baby macht sich gut, Mister Parker«, beruhigte sie ihn. »Die Kleine hat sofort auf die Antibiotika angesprochen, das Fieber ist schnell gesunken. Haben Sie schon bei ihr reingeschaut?«
»Sie sieht großartig aus, Doktor Lao. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Sie berührte seinen Arm. »Sarah hat mir erzählt, was los ist. Ich möchte mich für meine Reaktion Ihnen gegenüber in der Notaufnahme entschuldigen. Ich bin voreilig gewesen. Das war ein Fehler.«
»Nein, es war schon richtig, wenn auch aus den falschen Gründen. Maxi hätte niemals so krank werden dürfen. Ich war nicht bei der Sache.«
»Sie sind auch nur ein Mensch, oder?« Sie lächelte. »Unter Stress versagt das Gedächtnis. Für den Fall, dass Sie mit jemandem sprechen möchten …« Sie lehnte sich über den Tresen, um einen Namen und eine Telefonnummer auf ihren Rezeptblock zu schreiben. Dann riss sie das oberste Blatt ab und reichte es Will. »Das ist die Psychologin hier am Krankenhaus, die aber auch eine private Praxis hat. Sie kennt sich sehr gut mit posttraumatischen Belastungsreaktionen aus. Rufen Sie sie an.«
Will faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche.
»Sie kann Ihnen bestimmt auch jemanden empfehlen, der mit Kindern arbeitet.«
»Danke Ihnen, Doktor. Sie sind heute Morgen bereits die zweite Person, die mich darauf angesprochen hat.« Will zuckte die Achseln. Er wollte keine solchen Empfehlungen, er wollte seine Familie. Und er wollte seinen hart erarbeiteten Glauben wiedergewinnen, dass ein Happy End immer möglich war.
»Nehmen Sie sich Zeit, das alles zu verarbeiten«, sagte Doktor Lao. »Und was Maxi betrifft, sollten Sie und Sarah sich ein System ausdenken, um ihre Medizin nicht zu vergessen. Hängen Sie sich Merkzettel auf oder so etwas. Okay?«
»Okay.«
Ihr Pager meldete sich, und sie blickte nach unten auf das Gerät.
»Ich möchte Maxi heute Nacht noch hier behalten, aber wenn ihr Zustand so bleibt, können Sie Ihre Tochter morgen früh abholen. Der Sicherheitsdienst ist informiert, und man wird jemanden vor ihrer Tür postieren, für alle Fälle. Sie ist hier in Sicherheit, Mister Parker.« Doktor Lao schickte sich an zu gehen, blickte aber nochmal zurück. »Bleiben Sie nicht allzu lange hier, sondern unternehmen Sie etwas mit Ihren älteren Kindern, damit Sie alle ein bisschen entspannen, wenn Sie können.«
Als sie um die Ecke verschwand, hallten ihre Worte nach: damit Sie alle ein bisschen entspannen, wenn Sie können. Wie? Es war schwierig genug nach einem harten Arbeitstag oder wenn die Kinder sich zankten. Aber wie sollte man sich entspannen, wenn diejenige, die man liebte, deren Leben auch noch die kleinsten Winkel der eigenen Existenz mit Bedeutung ausfüllte, diejenige, mit deren Identität man verschmolzen war, plötzlich verschwunden war? Wenn einem gesagt wurde, dass sie sich in den Händen eines Wahnsinnigen befände, der einem noch die Kinder rauben und sie verstümmeln wollte? Aber Ihre Frau wird er wieder freilassen! Ja, als leere Hülle. Und dein Leben ist dann vorbei. Endgültig. Alles, was du mit ihr geteilt hast und geplant hast, ist zerstört.
Außer den Kindern. Er hatte noch immer seine Kinder.
Chief Kaminer hatte ihm versprochen, dass das »Spiel« jetzt darin bestand, die fünf Tage hinter sich zu bringen. Darauf zu warten, dass das Monster sie entweder zu seinem Versteck führte oder versuchte, ihm einen seiner Söhne zu stehlen. Sie hatten also bis Freitag Zeit. Und dann?
Will merkte, dass er mitten auf dem Korridor stand, von seinem Schweigen wie von einer Hülle umgeben, die Augen fest zusammengekniffen, die Fäuste in den Hosentaschen geballt. Er sah sich um, und die blauen Wände der Kinderstation riefen ihm ins Bewusstsein, wo er war. Seine Kinder. Er schreckte auf. Sie brauchten ihn. Sie würden ihn von nun an mehr brauchen als je zuvor.
Wie Doktor Lao versprochen hatte, war jemand vom Sicherheitsdienst vor Maxis Zimmer postiert, und sie schlief noch immer ganz fest. Sarah und die Jungen standen am Fenster und sahen hinaus. Eine solche Stille umgab sie, dass es den Anschein hatte, als horchten sie auf etwas. Aber sie genossen nur die Atempause, die solch ein Augenblick bot.
Will küsste Maxi auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich, meine Süße. Bis später.«
Sarah, David und Sam blieben am Bett stehen und warfen ihr Kusshände zu. Ohne zu reden, gingen sie am Wachtposten vorbei und verließen das Krankenhaus. Die Jungen fuhren mit Will zum Haus zurück. Sarah folgte ihnen in ihrem eigenen Wagen.
Von Charlie und Val war nichts zu sehen, als sie am Haus ankamen. Sobald sie geparkt hatten und ausgestiegen waren, zog Will sein Handy hervor. Wo blieben sie bloß? Er musste herausfinden, was los war. Sarah blieb mit den Jungen vorne im Garten und begann mit ihrer »Tour«, wie Emily es nannte, wenn ihre Mutter sowohl die lateinischen wie die gebräuchlichen Namen aller Pflanzen vortrug. Es war wie ein nervöser Tick von Sarah, und es war das erste Mal, dass Will dankbar dafür war. Solange die Aufmerksamkeit der Jungen von etwas Kleinem und Gewöhnlichem gefesselt war, war es gut. Solange sie nur die Bäume sahen und nicht den Wald.
Will nahm die Gelegenheit wahr, allein ins Haus zu gehen. Er eilte in das Schlafzimmer. Emilys Adressbuch lag auf der Kommode, auf dem Roman, den sie angefangen hatte.
Kaum hatte er den roten Ledereinband geöffnet, roch er sie. Er hatte sie seit drei Tagen nicht mehr gesehen, und er wusste, dass er sie vielleicht nie mehr Wiedersehen würde. Das Adressbuch war voll geschrieben, in verschiedenen Farben, mit Kugelschreiber und Bleistift, und er hob es ans Gesicht, um ihren Duft einzuatmen. Dann legte er es aufs Bett, und mit zitternden Fingern fand er die Telefonnummer.
Charlies Voice-Mail antwortete auf seinem Handy, und bei Val war es dasselbe. Bei ihnen zu Hause reagierte nur der Anrufbeantworter. Will hinterließ überall Nachrichten, legte dann das Telefon auf und lief in die Küche. Vielleicht hatten sie ja hier eine Nachricht hinterlassen.
Auf dem Anrufbeantworter blinkte eine rote Eins. Er drückte auf Play und hörte Charlies Stimme.
»Hör mal, Will, wir mussten umkehren. Der Arzt meint, bei Val hätten schon die Wehen eingesetzt. Er will, dass sie ins Krankenhaus geht, denn wenn es Wehen sind, muss er sie stoppen. Es ist zu früh, Will, zweieinhalb Monate zu früh. Es tut mir Leid, es tut mir so Leid. Sie ist unglaublich durcheinander, seit du angerufen hast. Ich muss jetzt auflegen. Sie sagt, sobald alles in Ordnung ist, soll ich allein zu euch fahren. Das mach ich auch. Ich rufe …«
Der Anrufbeantworter hatte ihm das Wort abgeschnitten.
Will drehte sich der Magen um. Er ging wieder ins Schlafzimmer, nahm Emilys Adressbuch zur Hand und blätterte darin. Die Namen ihrer Freunde und Familienmitglieder verschwammen vor seinen Augen, als er nach der richtigen Person suchte, die kommen könnte, um seine Kinder zu retten. Aber schließlich sah er ein, dass es nur eine einzige solche Person gab, dass Gearys erster Vorschlag der richtige gewesen war.
Am nächsten Morgen würde Will Maxi aus dem Krankenhaus abholen und Sarah mit den Kindern nach New York bringen. Er würde es heute Abend Sarah sagen.
Er hob das Adressbuch seiner Frau an die Nase, schloss die Augen und verlor sich ganz in Emilys Duft. Er musste sie finden. Er würde sie finden. Ganz bestimmt.
»Halt! Halt!«
Den zweiten Ruf hörte er zuerst.
»Aufhören!!«
Will hetzte zur Vordertür hinaus. Die Jungen spielten Fangen. Dabei wirbelten sie so viel Staub auf, dass man sie kaum mehr sah. Sarah stand am Rand ihres Kaktusbeets und versuchte vergebens, sie zur Ordnung zu rufen. Lachend rannte Sam hinter seinem Bruder her, streckte den Arm aus, um ihn am Hemd zu packen, und hätte es auch beinahe geschafft, bevor die Entfernung zwischen ihnen wieder zu groß wurde. David war pfeilschnell und entschlossen. Er wollte beweisen, dass er niemals einzuholen war. Sams Rücken war weiß von Staub, seine Knie waren aufgeschürft und blutig. Er war offenbar hingefallen.
»Jetzt reicht es!«, rief Will. »Jungs, kommt wieder ins Haus!«
David warf einen Blick über die Schulter. Ein Grinsen huschte so schnell über sein Gesicht, dass Will nicht wusste, ob er richtig gesehen hatte. Dann bog David am Ende der Auffahrt in den Schotterweg ein, der zur Hauptstraße führte. Sam beugte sich vor und stützte die Arme auf die Oberschenkel, um zu Atem zu kommen, und nahm dann die Verfolgung wieder auf. Er rannte David hinterher ins flimmernde Nachmittagslicht.
Will sprintete an Sarah vorbei und holte Sam ein.
»Komm, Dad. Wir müssen ihn fangen!«
Will rannte. Er konnte hören, wie Sammy hinter ihm aufhörte zu laufen und wie ein Staffelläufer, der das Holz übergeben hatte, dem weiteren Wettlauf zuschaute. Aber es war kein Wettlauf und auch kein Spiel, aber das konnten seine Söhne nicht wissen. Für sie ging es darum, ihre Mutter zu finden, und zwar so schnell wie möglich.
»Halt!«, rief er David zu. »Halt!«
Das Sonnenlicht schlug eine Bresche in den Schatten, und gerade als David hindurchlief und man seinen Schweiß glitzern sehen konnte, holte Will ihn ein. Er spürte den Kampfgeist, der sich in David regte, als dieser merkte, wie nahe sein Vater ihm schon war. Er war stolz auf die Entschlossenheit, die seinen Sohn vorantrieb. Stolz, aber auch erschreckt darüber.
»Bleib stehen!«
David wandte sich nach links und sprang über einen gefällten Baumstamm hinweg in den Wald. Für einen Sekundenbruchteil blickte er zurück, um zu sehen, ob sein Vater den Sprung ebenfalls geschafft hatte. Will war direkt hinter ihm. Er streckte die Hand aus und bekam Davids Arm zu fassen.
Will liebte David. Hatte ihn gleich und immer geliebt. Hatte ihn hartnäckiger geliebt, als er es je für möglich gehalten hätte.
Ein kurzer Blick zu Boden versicherte Will, dass eine Landung nicht zu hart sein würde.
Er zog an Davids Handgelenk und stoppte ihn dadurch. Der Junge taumelte rückwärts. Aber Will hatte nicht damit gerechnet, wie behände David reagieren würde. Er schwang seinen Körper unter Wills Arm hindurch und kehrte so die Kraft um, die auf ihn wirkte. Will stürzte und verspürte dabei den verblüfften Stolz, den nur ein Vater für sein Kind empfinden kann, dessen Fertigkeiten größer sind, als er sich vorgestellt hat. Der Körper, der auf den Boden schlug, war nicht Davids. Und die Landung war härter, als Will angenommen hatte.
Aber dennoch: Will hatte gewonnen.
Er hatte David aufgehalten.