KAPITEL 3
Von außen betrachtet, war es eine der hübschesten Polizeiwachen, die John Geary je gesehen hatte, besonders im pfirsichfarbenen Licht des Sonnenaufgangs. Ein Backsteingebäude mit dem für New England so typischen weißen Fachwerk. Davor ein großer Rasen, der es von der Route 151 abtrennte, die direkt in den Sommerhimmel zu führen schien. Geary ließ seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz und ging den gepflasterten Weg zum Haupteingang hinauf. Er war erst zum zweiten Mal hier, um die Akten des Mashpee Police Department zu plündern, da konnte er den offiziellen Parkplatz hinter dem Gebäude noch nicht benutzen.
Der Empfang der Wache war so schlicht und kühl wie die Vorderfront hübsch. Geary waren die treuen hässlichen und viel benutzten Gebäude lieber. Am liebsten war ihm der Ausbildungscampus des FBI in Quantico, Virginia. Er hatte sein kleines Büro im Souterrain geschätzt. Dort hatte er all seine Bücher und die Akten, die er im Laufe von sechsundzwanzig Jahren angehäuft hatte, gesammelt. Schließlich war auch ein Computer dazugekommen, der ihn mit der ständig wachsenden Informationsbasis der Behavioral Science Unit (BSU), der Abteilung für Verhaltensforschung, verband. Er hatte als Mann mittleren Alters beim FBI angefangen, ausgebrannt vom Streifendienst in Bostons South Side, mit einem frischen Doktortitel in Psychologie in der Tasche. Die Gründung des BSU war seine Idee gewesen, er hatte Profiling zu einer Wissenschaft gemacht. Die besten Jahre seines Lebens hatte er in Quantico verbracht. Doch nun war er alt, im Ruhestand. Aber was hatte der schon zu bieten? Ohne Ruthie machten die freien Tage keinen Spaß.
Sein alter Freund Roger Bell hatte ihn auf die Idee gebracht ein Buch über Mörder zu schreiben, die nie gefasst worden waren. Dafür recherchierte er alte Fälle nach und analysierte sie. Die Arbeit würde seinen Geist beweglich halten und ihm eine Aufgabe geben. Bell hatte sich verpflichtet gefühlt, John zu helfen; schließlich hatte er die Gearys in diese Gegend gelockt, als John in den Ruhestand gegangen war. Einen Monat nachdem sie ihr neues Haus bezogen hatten, war Ruth an einem Herzschlag gestorben. Seither arbeitete John Geary von morgens bis abends an seinem Buch.
Geary nickte der Polizistin zu, die hinter der Glasscheibe an ihrem Empfangstisch saß. Ihre blaue Uniform war adrett und ordentlich, aber ihre Marke war verkehrt herum angesteckt. Das war wahrscheinlich der Grund, warum sie am Empfang gelandet war. Auf einem der braunen Kunstlederstühle saß zusammengekauert ein ungefähr vierzig Jahre alter Mann. Er wirkte nervös, und als er John sah, sprang er auf.
»Detective Snow?«
»Tut mir Leid, da haben Sie den Falschen erwischt.«
»Ich warte jetzt schon über eine Stunde. Er hat gesagt, er wäre hier.«
»Wissen Sie was«, sagte Geary. »Ich werde mal nachschauen, ob er an seinem Schreibtisch ist.«
»Vielen Dank. Sagen Sie ihm, dass Will Parker wartet. Sagen Sie ihm, dass ich schon …«
»Seit einer Stunde hier sitze. Kapiert.«
Will Parker trug blaue Jeans und ein weißes Hemd, in dem er geschlafen zu haben schien. Seinem zerfurchten Gesicht nach zu urteilen hatte er allerdings überhaupt nicht geschlafen. Obwohl sein braunes Haar extrem kurz war, wirkte es völlig zerzaust, außerdem hatte er sich seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr rasiert. Geary fragte sich, was dieser Mann wohl auf dem Herzen hatte, nahm sich aber nicht die Zeit nachzufragen.
Er ging links den Korridor hinunter, am Archiv vorbei zur Einsatzzentrale. Eine junge Frau, die noch aussah wie eine Studentin, tippte gerade etwas in ihren Computer. Sie war ihm gestern vorgestellt worden, wenn er sich recht erinnerte, sogar als Detective. Das schien ihm allerdings höchst unwahrscheinlich. Mit ihrem langen dunklen Haar und ihrer guten Figur war sie viel zu hübsch für einen Cop.
»Morgen!«
»Ihnen auch einen guten Morgen«, erwiderte die Frau knapp.
Diesen Ton gewöhnte man sich wahrscheinlich an, wenn man ständig lüsternen Blicken ausgesetzt war.
»Ich suche Detective Snow. Schon gesehen?«
»Ist wegen einer Vermisstenanzeige unterwegs.«
»Draußen am Empfang ist ein Typ, der ihn ziemlich dringend sprechen will. Wahrscheinlich ein Verwandter.«
»Ich sag ihm Bescheid, wenn ich ihn sehe.«
Geary überlegte kurz, ob er zurückgehen und Will Parker Bescheid sagen sollte, beschloss aber, sich nicht einzumischen. Al Snow würde schon auftauchen.
Er machte sich auf den Weg ins Archiv. Nur die Fälle der letzten zwanzig Jahre waren im Computer gespeichert, das hieß, dass noch eine ganze Menge ungelöster Fälle in Akten archiviert waren. Geary schaute sich jeden einzelnen ungelösten Fall an, immer auf der Suche nach Mustern und Wiederholungen. Das Mashpee Police Department war bereits seine siebte Station, angefangen hatte er in Framingham bei der Middleboro State Police.
Nach gerade einmal einer halben Stunde brauchte er einen Kaffee. Das Alter setzte ihm zu. Mittlerweile brauchte er nicht nur eine Brille, sondern auch flüssige Stimulation, um eine längere Lektüre durchzuhalten. Er räumte seine Papiere zusammen und ging den Korridor hinunter zur Küche, die sich in einem kärglich eingerichteten weißen Raum befand. Ein weißer Resopaltresen trennte die Kochnische von zwei runden Tischen. An einem davon saß Al Snow und aß Rührei mit gebuttertem Toast aus einer Styroporschale. Er führte gerade einen Becher Kaffee an seine Lippen, als Geary den Raum betrat.
»Guten Morgen, Detective.«
»Guten Morgen, Mister Geary«, entgegnete Snow und stellte den Kaffee ab.
Geary verschluckte die spitze Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. Er war es gewohnt, mit »Dr. Geary« oder »Special Agent Geary« angesprochen zu werden. An Mister Geary konnte er sich einfach nicht gewöhnen, doch das brachte der Ruhestand nun einmal mit sich.
Snow häufte Rührei auf eine angebrannte Scheibe Toast. Eine lange schwarze Strähne seines quer über den Schädel gekämmten Haars machte sich selbständig, als er sich vorbeugte, um abzubeißen. Wenn er zehn Kilo abnehmen und zu seiner Glatze stehen würde, hätte er möglicherweise größere Chancen in den Single-Bars. Er war ein Bär von einem Mann, einer dieser kumpelhaften Typen, an deren Anwesenheit niemand etwas auszusetzen hatte. Leutselig, wie ein Hutständer oder ein Handtuch mit Initialen. Und damit absolut nicht Gearys Fall.
Geary wollte sich einen Kaffee einschenken, doch die Kanne war leer. Ihm kam eine Idee.
»Wie heißt das Mädchen vorn am Empfang?«
»Suellen, und sie ist kein Mädchen mehr. Könnte meine Mutter sein.«
»Ich glaube, Sie sehen beide jünger aus, als Sie sind.«
Snow zog seine schwarzen Augenbrauen hoch und lächelte. »Am Donnerstag feiern wir ihren Geburtstag. Um fünf Uhr. Kommen Sie doch vorbei. Es gibt auch Torte.«
»Dann werde ich mal zu Suellen gehen und die Lage auf dem Kaffeesektor klären. Aber keine Sorge, ich verrate nichts.« Geary legte den Finger auf seine Lippen.
Draußen in der Halle lehnte er sich vor der Glasscheibe auf den Empfangsschalter. »Der Kaffeenachschub stockt. Snow sitzt in der Küche und hat mich hergeschickt.«
Parker sprang auf. »Detective Snow ist hier?«
»Wie bitte?« Geary tat, als hätte er Will Parkers Anwesenheit vollkommen vergessen.
»Snow ist in der Küche?« Parker war aufgesprungen.
»Ich habe ihm gesagt, dass Sie warten, aber ich vermute, er hat eine lange Nacht hinter sich. Braucht sein Tässchen Muntermacher.«
Suellen war tatsächlich ein wenig älter, als Geary auf den ersten Blick gedacht hatte. Sie hatte kurzes grau meliertes Haar und wirkte gemütlich. Zu seiner Zeit hatte er nicht allzu viele Frauen im Dienst erlebt, und daher fiel es Geary noch immer schwer, sie einzuschätzen.
»Im Schrank unter der Kaffeemaschine müssen noch mindestens fünfzig Pakete sein«, sagte Suellen. »Dann werd ich euch mal einen Kaffee aufsetzen.«
»Bleiben Sie nur, gute Frau. Lassen Sie einen alten Hasen da ran.«
Geary setzte sein charmantestes Lächeln auf. Suellen erwiderte es. Nette Lady. Er vermisste Ruth.
»Unsinn, das mach ich schon.«
Suellen stand auf, schob ihr blaues Hemd in die Hosen, rückte ihr Halfter und sogar ihre Dienstmarke zurecht. Mit dem Summer rief sie jemanden herbei, der sich um die Rezeption kümmern sollte, und machte sich auf in Richtung Küche.
Geary folgte ihr langsam. Wenn die Rezeption kurz unbesetzt war, konnte niemand Parker davon abhalten, ihm zu folgen. Und das traute er ihm zu. Parker würde nicht warten, bis Al Snow sich seiner erbarmte.
Die Küchentür stand offen. Suellen hatte bereits Wasser in die Maschine gegossen und schüttete gemahlenen Kaffee in den Filter. »Das wär’s dann, Al.«
Snow sah sie verwundert an, den Kaffeebecher noch in der Hand. »Wie bitte?«
»Hier hast du ’ne frische Kanne. Du musst ja von der Nachtschicht völlig erledigt sein. Aber wie jemand nach all dem Koffein schlafen kann, ist mir ein Rätsel.«
Suellen verließ die Küche.
Geary stellte sich vor die Maschine, um abzuwarten, bis der Kaffee durchgelaufen war. Außerdem wollte er sich Parkers Auftritt nicht entgehen lassen.
»Detective Snow?« Parker stürmte herein.
Snow stellte seinen Kaffeebecher ab und stand auf. Er war bestimmt zwei Meter groß und wog mehr als hundert Kilo. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Will Parker. Ich habe auf Sie gewartet.« Geary sah, dass Parker nur mit Mühe höflich blieb. »Hat man Ihnen nicht gesagt, dass ich hier bin?«
Snow schüttelte den Kopf. »Ich war auf der Suche nach Ihrer Frau und bin gerade erst zurückgekommen.«
»Ich sitze schon fast eine Stunde hier«, Parker schrie fast. »Ich kann nicht begreifen, wie das passieren konnte, wie sie einfach so verschwinden …«
»Mister Parker, warum setzen Sie sich nicht?« Snow bot ihm einen Stuhl an und hielt die Rückenlehne fest, bis Will Parker sich gesetzt hatte. Dann ging er um den Tresen herum und holte einen der braunen Becher aus dem Wandschrank. Geary trat einen Schritt zur Seite. Snow beachtete ihn nicht.
»Wie nehmen Sie Ihren Kaffee?«, fragte er.
Parker wandte sich um. Seine Miene war extrem angespannt. »Milch. Danke.«
Snow zog die Glaskanne aus der Maschine hervor und ließ den Kaffee direkt in den Becher tropfen, bis er drei viertel voll war. Dann goss er einen Schuss Milch dazu und stellte den dampfenden Kaffee vor Parker ab. Der nippte nur daran und stellte den Becher auf den Tisch zurück.
Snow schlug geschäftig sein Notizbuch auf und zog seinen Kugelschreiber hervor. Dann stellte er all die obligatorischen Fragen und notierte die Antworten. Als er bei »Ist Ihre Frau früher schon mal verschwunden?« anlangte, platzte Parker der Kragen.
»Natürlich nicht«, fuhr er auf. »Wie kann eine Person zweimal vermisst werden?«
Snow zuckte die Achseln. »Manche Leute hält es einfach nicht an einem Ort.«
Parker lehnte sich zurück. »Emily schon. Sie ist noch nie davongelaufen und würde es auch niemals tun. Sie würde niemals die Kinder im Stich lassen.«
»Erzählen Sie mir von den Kindern.« Snow drehte seinen Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Wir haben zwei Jungen im Alter von elf und sieben. Und unsere Tochter Maxi ist gerade erst ein Jahr alt.«
Snow nickte. »Die meisten Mütter lassen ihre Kinder nicht einfach zurück«, sagte er. »Aber sie laufen ihren Ehemännern davon, und manchmal bleiben die Kinder zurück.«
»Detective Snow.« Parker stand auf und schob seinen Stuhl mit einem kratzenden Geräusch unter den Tisch. »Wir vergeuden hier unsere Zeit. Bitte.«
»Tut mir Leid«, sagte Snow und lächelte. »Aber so sind die Vorschriften. Und an die bin ich gebunden.«
Vorschriften, klar doch. Diese Sorte Mann kannte Geary: ein Paragraphenreiter, dem das Schicksal der Frau vollkommen egal war. Snow hätte unterwegs sein müssen, um nach der Frau zu suchen. Er hätte dort, wo sie zuletzt gesehen worden war, Hinweise sammeln und ihnen nachgehen müssen. Er hätte nach Spuren suchen müssen. Sogar nach den unsichtbaren. Als Geary noch diese Arbeit gemacht hatte, pflegten sie zu sagen, dass nur ein Magier eine vermisste Person wieder heraufbeschwören konnte. Und für solche Fälle gab es keine Vorschriften.
»Ist Ihre Frau irgendwie gestresst?«, fragte Snow »Natürlich ist sie gestresst«, antwortete Parker. »Sie lebt schließlich im 21. Jahrhundert. Sind Sie es etwa nicht?«
»Kann man eigentlich nicht sagen.« Snow warf einen Blick auf seine Notizen. »Darf ich Sie Bill nennen?«
»Ich heiße Will.« Geary sah, dass Parker sich zu einem Lächeln zwingen wollte, aber es funktionierte nicht. Er sah aus, als sei er vollkommen am Ende seiner Kräfte.
Der Kaffee war durchgelaufen. Geary nahm sich einen Becher aus dem Wandschrank und schenkte sich ein. Während er trank, hielt er die Ohren weiter offen. Sein Interesse war geweckt, aber er wusste nicht, warum. Sicher nicht nur, weil eine Frau vermisst wurde; da war noch etwas anderes.
»Und wie gehen wir jetzt weiter vor?«, hörte er Parker fragen.
»Um acht fängt die nächste Schicht an«, sagte Snow. »Ich habe dann Dienstschluss, aber der Fall Ihrer Frau wird weiterbearbeitet. Wir brauchen ein Foto, Will. Eins, auf dem Ihre Frau möglichst natürlich aussieht. Das Foto faxen wir dann an alle Wachen auf dem Cape und nach Middleboro, ins Präsidium.«
»Und dann?«
»Wir halten die Augen offen. Manchmal bekommen wir einen telefonischen Hinweis. Vielleicht hat jemand etwas gesehen.«
»Was hat man Ihnen denn im Supermarkt gesagt?«
Snow dachte zu lange nach, Geary merkte auf Anhieb, dass er sich gar nicht erst die Mühe gemacht hatte hinzufahren. Offenbar hatte Snow beschlossen abzuwarten, ob die Frau von selbst wieder auftauchte. Geary hatte so ein Verhalten schon oft erlebt. Zu oft. Denn dann war es auf einmal zu spät.
»Nichts Ungewöhnliches«, antwortete Snow. »Niemand konnte sich an sie erinnern.«
»Ich rufe meine Schwiegermutter an und bitte sie, ein Bild von Emily zu faxen«, sagte Parker. »An welche Nummer soll sie es schicken?«
Snow ging zum Empfang, um sich zu erkundigen. Als er fort war, konnte Geary sich nicht mehr zurückhalten: »Ich will ja nicht neugierig sein …«
»Ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen?« Parkers Ton war unverschämt. Geary seufzte. Die jungen Leute verhielten sich oft so, sie hielten einen für zu alt, um die Beleidigung zu merken, oder rechneten damit, dass man sie schnell vergaß. Sie brauchten einen Punchingball, und da kam man gerade richtig.
»Doktor John Geary, Special Agent des FBI im Ruhestand.« Geary hoffte, dass sein Titel Eindruck machen würde. Doch Will Parker ließ sich nicht so leicht beeindrucken.
»Entschuldigen Sie, Dr. Geary aber wenn Sie im Ruhestand sind, was machen Sie dann hier?«
»Ich bin aus demselben Grund hier wie Sie. Ich suche nach Menschen, die verschwunden sind. Ich schreibe ein Buch darüber.«
Parker nickte. Er stand auf und fischte in seiner Tasche nach dem Handy. »Wohin ist er gegangen?«
»Snow ist nicht der Schnellste. Geben Sie ihm ein paar Minuten.«
Nervös ging Parker zum Fenster. Die Jalousie war ganz nach oben gezogen, und man sah, dass der Verkehr auf der Route 151 zugenommen hatte. Die blasse Morgensonne stieg an dem hellblauen Himmel in die Höhe.
»Wenn ich Sie wäre«, versuchte Geary Parkers Eigeninitiative zu wecken, »würde ich selbst zu dem Supermarkt fahren. Ich würde nicht warten, bis ein Polizist seine Einkaufsliste geschrieben hat.«
Parker lachte.
Langsam wurde der Mann Geary sympathisch. Er beschloss, ihm seinen unverschämten Ton von vorher nicht übel zu nehmen.
Snow kehrte zurück und brachte die junge Frau mit dem langen dunklen Haar mit. Geary schnaufte, aber glücklicherweise hörte es niemand. Er ging zurück zur Kaffeemaschine, schenkte sich noch einen Becher ein und blieb, um mit anzuhören, wie Snow seine Kollegin vorstellte.
»Das hier ist Detective Amy Cardoza. Sie übernimmt die Ermittlungen für den Rest Tages. Amy wird sich um das Foto kümmern und den Fall Ihrer Frau beim Appell präsentieren.«
Amy trat vor, um Parker die Hand zu schütteln. Sie war jünger als er, vielleicht dreißig, helle Haut und hübsche Augen.
»Wir werden unser Bestes tun, Ihre Frau zu finden«, sagte Amy. Ihr Blick huschte zu Snow und dann zurück zu Parker. »Ich weiß, wie frustrierend das alles für Sie ist.«
Parker schien das Verständnis zu schätzen. »Können Sie mir die Faxnummer geben?«
Amy händigte ihm ein kleines Post-it aus. »Hinterher würde ich Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen.«
Parker drehte sich um und klappte sein Handy auf, um zu telefonieren.
Keiner von ihnen bemerkte, wie Geary mit schnellen Schritten den Raum verließ. Er hatte sich an etwas erinnert.
Die Fahrt zurück zu seinem Haus in Cotuit Bay Shores dauerte nur siebzehn Minuten. Es war ein hübsches kleines Fertighaus, wie geschaffen für ein Ehepaar im Ruhestand. Das hatte jedenfalls der Makler gesagt. Nicht zu groß, nicht zu klein. Gemütlich, mit einer Veranda für den Sommer. Rundherum winterfest. Jeder Komfort, den man sich wünschen konnte. Was ihn und Ruthie schlussendlich überzeugt hatte, war jedoch, dass es einen Hausmeister gab, der sich um alles kümmerte. John und Ruth wollten nicht mehr Schnee schaufeln oder Gullys säubern. Außerdem lag Roger Bells Haus nur zwei Straßen weiter.
Geary parkte in der Auffahrt, statt in die Garage zu fahren. Er würde nur ein paar Minuten bleiben. Dann schloss er die Vordertür auf und ging direkt zu seinem Schreibtisch im Wohnzimmer. Das Chaos darauf war Geary vertraut, er wusste genau, wo er suchen musste. Die Akte, die ihn interessierte, lag auf der linken Seite, zwischen einem übergroßen Straßenatlas und Ruths letztem Tagebuch, in dem so viele Seiten frei geblieben waren. Auf den blassgrünen Umschlag hatte sie einen Zweig Dill gezeichnet, ihr Lieblingsgewürz. Er hatte noch nie in ihrem Tagebuch gelesen und würde es auch niemals tun. Doch er hatte es gern in Reichweite.
Die Akte kam aus der Wache in Woods Hole, sie enthielt nicht viel, nur ein paar Fälle aus den zurückliegenden Jahren. Doch einer von ihnen war ihm im Zusammenhang mit Emily Parkers Verschwinden in den Sinn gekommen. Obenauf lag die vergilbte Kopie eines Artikels aus der Lokalzeitung.
Schrecklicher Fund unter dem Anleger
Woods Hole, Massachusetts, 13. September 1994
Am Montag entdeckten drei Jungen, die nahe Stony Beach Entenmuscheln sammeln wollten, einen abgetrennten Arm unter dem Anlegesteg. Einer von ihnen, Brian Lee, meinte einen Kreis von schwarzen Muscheln im feuchten Sand erkannt zu haben. Als er den Fund näher untersuchen wollte, wurde ihm klar, dass es sich um fünf Fingerspitzen handelte, die aus dem Sand ragten. Die Jungen informierten unverzüglich die Polizei. Die Beamten sperrten den Bereich um den Anleger und gruben den Arm aus. Nach bisher unbestätigten Angaben könnte es der Arm von Chance Winfrey sein, einem siebenjährigen Einwohner von Brewster. Chance wird seit Freitag vermisst, seine Mutter Janice seit Montag letzter Woche.
Geary blätterte weiter. Der Arm des Jungen war mit einem Messer am Gelenk abgetrennt worden. Am Tag nach diesem Fund war Janice Winfrey wieder aufgetaucht. Man fand sie auf einer Bank vor dem Woods Hole Aquarium. Sie war dehydriert und im Delirium. Nach mehreren Wochen im Krankenhaus hatte sie sich körperlich erholt, doch ihr Geist war für immer verloren. Janice Winfrey war nicht mehr in der Lage, etwas zum Schicksal ihres Sohnes zu sagen. Der Fall war zwei Jahre später zu den Akten gelegt worden, ohne ein Ergebnis. Die Leiche des Jungen war nie aufgetaucht. Die einzige Spur war ein Fußabdruck im Sand gewesen, der die Flut überstanden hatte. Die Cops hatten zwar einen Abdruck genommen, waren damit aber nicht weitergekommen.
Geary las den Artikel noch einmal durch. Dann wusste er, wonach er gesucht hatte. Der Arm des kleinen Chance Winfrey war am zehnten September gefunden worden. Seine Mutter war eine Woche zuvor verschwunden, an einem Montag.
Am Montag, dem dritten September.
Geary öffnete Ruths Tischkalender mit den Gartenbildern von Monet – die jüngsten Monatsblätter waren auffällig leer – und prüfte das Datum. Heute war der vierte September. Es passte auf den Tag genau.
Janice Winfrey war gestern vor sieben Jahren verschwunden. Exakt sieben Jahre bevor Emily Parker sich scheinbar in Luft aufgelöst hatte.
Und Emily Parker hatte zwei junge Söhne.
Geary zählte eins und eins zusammen.
Er griff nach dem schnurlosen Telefon, aber als er wählen wollte, passierte nichts. Verdammter Akku. Er stellte das Telefon in seine Ladestation und ging in die Küche. Das cremefarbene Telefon auf dem Frühstückstresen benutzte er nicht gerne, weil es ihn an Ruth erinnerte. Sie hatte eine extra lange Schnur anbringen lassen, damit sie auch während des Kochens telefonieren konnte. Einen schnurlosen Apparat hatte sie nicht gewollt. Geary nahm den Hörer ab und wählte Roger Bells Nummer.
»Guten Morgen, John, das kannst nur du sein.«
»Du hast meine Nummer erkannt. Gib’s zu, Bell.«
Roger Bell lachte heiser.
»Ich habe da eine ziemlich wichtige Sache, die ich gerne mit dir besprechen würde«, sage Geary ungeduldig.
»Hast du dir beim Aufstehen deinen großen Zeh verstaucht?«
»Ha ha ha. Bring mich so früh nicht schon zum Lachen, sonst platzen mir noch die Hämorrhoiden, und du bist der einzige Arzt, den ich dahinten ranlassen würde.«
»Nana, John, du weißt, meine Kenntnisse beschränken sich auf die Eingeweide des Verstandes.«
»Ja, und meiner ist eine Klärgrube. Aber Spaß beiseite, können wir mal einen Moment ernst sein?«
»Natürlich.«
»Hör mir zu, Roger. Ich bin an einem interessanten Fall dran. Handelt sich vielleicht um einen Wiederholungstäter.«
»Ach ja?«
»Ungelöster Fall. Passt eventuell zu einer aktuellen Vermisstenanzeige. Ich habe da einen starken Verdacht und würde gerne deine Meinung hören.«
»Ohne dass jemand was dafür zahlt, wenn ich mich nicht irre?«
»Roger, ich habe dich jahrelang bei meinen Fällen als Berater eingeschaltet.«
»Du kannst auf mich zählen«, erwiderte Bell. »Hast du schon gefrühstückt?«
»Um fünf Uhr. Ich muss noch etwas erledigen, lass uns zum Lunch treffen. Punkt zwölf, Lizzy’s Diner.«
»Bis heute Mittag dann.«
Geary legte auf, öffnete den Kühlschrank und trank einen großen Schluck Orangensaft. Mit den Handflächen wischte er sich ein paar Tropfen vom Kinn und stellte den Saft zurück. Viel zu essen war nicht mehr im Kühlschrank.
Ein paar Lebensmittel wären nicht schlecht. Vielleicht sollte er mal den neuen Stop & Shop gegenüber von Mashpee Commons ausprobieren. Wenn Emily Parker dort einkaufte, sollte der Laden doch auch für ihn gut genug sein.