KAPITEL 18

Emily spürte nichts als das sanfte Schaukeln. Hunger und Durst hatte sie schon lange hinter sich gelassen. Sie hatte keinen Körper mehr, sie war nur noch ein Kopf, durch den verzerrte Töne geisterten. Ein stampfender Motor. Das Gekreisch von Möwen, die sich sammeln. Das Säuseln einer Meeresbrise und das Kratzen von Schilf am Rumpf des Bootes.

Die Geräusche und die Gerüche.

Sie stank. Das Boot stank. Aber den Maismann konnte sie nicht riechen, denn er war sauber. Er beobachtete sie, und sie konnte seine Blicke fühlen. Sie war sein Retortenbaby, etwas, das man betrachtet, bevor man sich angeekelt davon abwendet. Sie war ein Ding auf dem Boden. »Ignorier ihn einfach«, sagte Sarah über den Jungen in der Schule, der Emily geschlagen hatte, als sie versucht hatte, ihn zu küssen. »Er wird sich schon besinnen.«

Sie war sechs Jahre alt und unfähig, jemanden zu ignorieren.

Sie hatte drei glatt geschliffene Nickel in der Tasche getragen, um sich stets daran zu erinnern, dass sie besser war als er. Sie war fünfzehn Cent reicher und würde ihren Kuss für jemanden bewahren, der ihn wollte.

Drei Münzen:

David, der schon so erwachsen war.

Sam, der ihre Hilfe noch so brauchte.

Maxi, die bald anfangen würde zu laufen.

»Betüttel Sammy nicht«, hatte Sarah gesagt, »lass es ihn selbst lernen.«

Noch mit sieben bestand Sam darauf, dass sie die Schnürsenkel seiner Turnschuhe band. David hatte es schon mit fünf allein gekonnt.

»Trag Maxi nicht so viel auf dem Arm. So lernt sie nie laufen.«

Maxi zog sich an einem Stuhlbein in die Höhe, fand ein wackliges Gleichgewicht, streckte die Arme aus und quengelte: »Hoch, hoch, hoch.« Emily hob Maxi auf Augenhöhe. Sie küssten sich.

Schritte, Metall rieb auf Metall. Er schloss den Wasserschlauch wieder an.

»Vergiss niemals, dass ich dich liebe«, hatte Sarah gesagt.

Schritte, das Schlurfen des Schlauchs über den Boden und die Attacke des eiskalten Wassers. Emilys Muskeln verhärteten sich. Ihre Augenbinde war völlig durchnässt. Er spritzte sie von Kopf bis Fuß ab wie einen schmutzigen Gehsteig.

Er sprach nie.

Die Schritte entfernten sich, und das Wasser wurde abgestellt. Sie sah den Maismann in seinem weißen Jackett vor sich, wie er den Schlauch zusammenrollte. Dann hörte sie das Öffnen und Schließen einer Schranktür. Er hatte den Schlauch verstaut.

Schritte.

Er ließ etwas Weiches auf den Boden neben sie fallen, und sie fühlte, wie sich sein schwerer Körper langsam neben ihr niederließ. Sie versuchte, ihren Köper aus seiner Reichweite zu winden, aber seine dicke Hand fiel auf ihre Taille und hielt sie zurück.

Sarah hatte ein Studio in der Stadt, damit sie in Ruhe malen konnte, ohne sich um Emily zu kümmern.

»Justine wird dir das Abendessen machen, Emily. Und jetzt beschwer dich nicht.«

»Ich hasse Justine. Ich will, dass du bei mir zu Hause bleibst.«

»Ich gehe in mein Studio. Ich bin später wieder zurück. Vergiss nie, dass ich dich liebe.«

»Wenn du mich lieben würdest, würdest du mich nicht allein lassen.«

»Unsinn. Ich liebe dich über alles.«

Sarah nahm Emilys Gesicht in die Hände und küsste sie mit weichen Lippen auf die Stirn. Emily glaubte ihr.

Seine Hand bewegte sich langsam über ihren Bauch. Er steckte einen Finger in ihren Bauchnabel und bohrte darin. Dann machte er die Hand wieder flach und fuhr hinunter in ihren Schritt, wobei er über ihr Schamhaar strich.

Das Gemälde zeigte ein kleines Mädchen, das nackt durch ein Feld mit Butterblumen lief. Man sah nur ihren Rücken. Sie sah fröhlich aus.

Die Finger krümmten sich, aber stocherten nicht. Die Hand bewegte sich an ihren Beinen hinunter.

Das kleine Mädchen drehte sich um. Sie lachte nicht.

Die Finger betasteten ihre Kniescheibe und wanderten dann ihr Schienbein hinunter, über ihren Spann bis zu den Zehen. Er nahm die kleine Zehe zwischen zwei Finger und drückte fest zu. Fasste dann nach der nächsten Zehe und der übernächsten, bis er sie systematisch alle gequetscht hatte. Sie wartete darauf, dass er sein bizarres Ritual am anderen Fuß wiederholte, aber das tat er nicht. Seine Hand bewegte sich wieder an ihrem Bein hinauf, verweilte kurz auf ihrem Schamhaar und kroch über ihre Rippen nach oben.

»Daddy kommt rechtzeitig nach Hause, um dir noch etwas vorzulesen, Em, mein Liebes.«

»Geh jetzt ins Bett, Sammy, dann liest David dir noch etwas vor. Ich muss Maxi baden. Ich komm dann gleich und geb dir noch einen Kuss.«

Seine Handflächen kreisten über ihren Brüsten. Schließlich kniffen zwei Finger ihre Brustwarze.

»Ignorier ihn, dann lässt er dich schon in Ruhe.«

»Aber es ist doch nicht fair, Mommy!«

»Nein, es ist nicht fair.«

Es war eines ihrer Familienrezepte, aber niemand hatte es jemals aufgeschrieben. Etwas Öl erhitzen und die gewürfelten Zwiebeln darin anbraten, bis sie glasig sind. Currypulver zusammen mit den Zwiebeln köcheln lassen. Ein Huhn dazu und einen ganzen Liter Joghurt obendrauf kippen. Einen Schuss Essig. Zehn Kardamomkapseln aufbrechen und die Samen in den Topf geben. Ein paar Karottenscheiben und, falls gewünscht, Kartoffeln beigeben. Später kamen noch tief gefrorene Erbsen und Rosinen hinzu. Es war ganz einfach. Wenn man es einmal gelernt hatte, konnte man es immer wieder je nach Geschmack variieren.