KAPITEL 14
Maxi hatte die Augen weit aufgerissen. Ihre Pupillen waren geweitet, ihr Blick richtete sich auf einen unsichtbaren Fleck an der Zimmerdecke. Ihre gerötete Haut schien vor Hitze zu glühen.
Er hob ihren schlaffen Körper aus dem Bett und rief: »David, hol Grandma!«
David polterte die Treppe hinauf, Sam erschien in der Tür.
»Sammy«, befahl Will, »zieh dich jetzt sofort an.«
Maxi fühlte sich in seinen Armen an wie ein Sack glühender Kohlen. Ihr Kopf pendelte wie der eines kleinen Babys, das noch keine Kontrolle über seinen Hals hat, und instinktiv hob Will den Ellbogen, um ihn zu stützen. Einzelne Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn. Sie atmete schwer. Will nahm jeweils zwei Stufen auf einmal und eilte durch den Abstellraum in die Garage. Sarah erschien, noch nicht richtig wach, aber bereits vollständig angezogen.
»Lass die Jungs schon mal in den Wagen steigen«, sagte Will. »Wir bringen Maxi ins Krankenhaus.«
»Fahr du nur«, sagte Sarah. »Ich bleib mit den Jungs hier.«
Es blieb keine Zeit für Erklärungen. »Sarah, bitte, lass sie einsteigen.«
Er drückte auf den Knopf für das Garagentor. Während es in die Höhe rollte, schloss er die hinteren Türen von Sarahs Wagen auf, damit die Jungen hineinspringen konnten. Sammy war als Erster drin und schnallte sich an. Als David in die Garage kam, hielt Will ihn an.
»Lauf schnell zum Kühlschrank und hol Maxis Medizin.«
David rannte ins Haus und war Sekunden später mit der kleinen Plastikflasche Amoxcillin zurück.
Sarah saß auf dem Rücksitz zwischen den beiden Jungen und hielt Maxi. Will setzte rückwärts aus der Garage heraus und sah für einen kurzen Moment im Rückspiegel drei in Panik erstarrte Gesichter: Davids, die Stirn von Besorgnis zerfurcht; Sarahs, in deren Augenwinkeln sich Tränen gesammelt hatten, und Sammys, der starr auf seine Schwester blickte. Will fuhr so schnell, wie es auf der alten Straße irgend ging. Die Totenstille wurde nur unterbrochen vom heiseren Keuchen Maxis, die nach Luft rang.
Die Fahrt zum Falmouth Hospital dauerte nur sieben Minuten, aber es kam Will vor wie eine Stunde. Er fuhr direkt bei der Notaufnahme vor, schnappte sich Maxi aus Sarahs Armen und rannte auf den Eingang zu. Die Jungen folgten Will ins Innere.
In der Notaufnahme herrschte Chaos. Krankenschwestern und Ärzte eilten hektisch an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Will nahm den antiseptischen Geruch wahr, den er so hasste. Zu viele Erinnerungen wurden dadurch wach. Jedes Mal, wenn er ein Krankenhaus betrat, kroch die Angst, erneut jemanden zu verlieren, in ihm hoch.
Es hatte einen Frontalzusammenstoß auf der Route 28 gegeben, und eine schwer verletzte Familie wurde auf Tragbahren hereingetragen. Vier verletzte Kinder wurden nacheinander durch die Aufnahme in den angrenzenden Raum geschoben. Die Mutter war bewusstlos, und man hatte ihr einen Schlauch in den Mund geschoben. Zwei Notaufnahmehelfer versuchten sie wiederzubeleben.
Will wollte David und Sammy beiseite scheuchen, aber es war bereits zu spät. Sie hatten alles gesehen. Will war klar, dass seine Söhne zunehmend aus dem Gleichgewicht gerieten. Aber er wusste nicht, wie er es verhindern sollte. Maxi hing regungslos an seiner Schulter, und niemand kam, um ihr zu helfen. Mit der freien Hand dirigierte er Sam und David zum Anmeldeschalter.
Der Pfleger hinter dem hohen Tresen telefonierte.
»Entschuldigung«, unterbrach Will. »Meine Tochter ist krank und braucht dringend einen Arzt.«
Der Pfleger quetschte einen Anflug von Mitgefühl in sein Lächeln. »Ich seh schon. Aber wir hatten gerade einen Autounfall, und da sind alle beschäftigt. Ich sage auf der Kinderstation Bescheid, dass die jemanden runterschicken.« Er drückte einen roten Knopf, und gleich darauf ertönte seine routinierte Stimme über die Lautsprecheranlage und rief einen Kinderarzt in die Notaufnahme.
Will schob die Jungen auf zwei der orangefarbenen Schalenstühle, die entlang der Wand des Warteraumes befestigt waren. David und Sammy ließen ihren Vater nicht aus den Augen, während er mit Maxi auf und ab ging und ihr ein Wiegenlied ins Ohr flüsterte. David hielt krampfhaft die Arzneiflasche mit dem Antibiotikum fest.
Plötzlich wurde Will bewusst, dass er Maxi seit seiner Ankunft auf dem Cape keine Medizin gegeben hatte. Ob Sarah wohl tatsächlich daran gedacht hatte? Behauptet hatte sie es jedenfalls.
»Lass mich mal die Flasche sehen.«
David gab sie ihm.
Will studierte sorgfältig das Etikett. Es war auf den 1. September datiert, jenen Samstag, als Emily zu ihm in die Stadt gekommen war und Maxi zum Arzt gebracht hatte. An jenem Tag hatte Maxi mit der Einnahme der Medizin begonnen. Montag wäre der dritte Tag gewesen; der Tag, an dem Emily nachmittags verschwunden war. Hatte Maxi seither noch das Antibiotikum bekommen? Jetzt war Mittwoch. Die Einnahme war für zehn Tage vorgeschrieben, heute sollte Maxis fünfter Tag gewesen sein, und doch war die Flasche noch mehr als drei Viertel voll. Will drehte sich der Magen um. Seit gestern Morgen war er selbst vor Ort gewesen. Er hätte sich der Sache annehmen sollen; er hätte es nicht Sarah überlassen sollen, denn er wusste doch, dass sie schon unter normalen Umständen manchmal etwas vergaß. Es war seine Schuld, dass sie jetzt hier waren. Ganz allein seine Schuld.
Und plötzlich erinnerte er sich. Am Morgen bevor seine Eltern verunglückt waren, hatte er gequengelt, damit sein Vater ihn beim Rasenmähen helfen ließe. Seinem Vater war der Geduldsfaden gerissen. »Es ist zu gefährlich«, hatte er gesagt. »Wenn du älter bist, kannst du mir helfen.« Er hatte sich die Zeit genommen, Will auf die Vordertreppe zurückzutragen, von wo aus er seinem Vater zum letzten Mal zugeschaut hatte. Die Ärmel hochgekrempelt, sehnige Arme, ein schweißnasser Hals. Wenn sein Vater nicht von ihm abgelenkt worden wäre, hätten seine Eltern dann ihre Fahrt früher angetreten? Hätten sie die Gefahrenzone auf dem Highway unbeschadet passiert?
Will blickte zu seinen Söhnen und wusste, dass er sie niemals für einen so schicksalsschweren Fehler verantwortlich machen würde. Alle Ablenkungen durch sie waren ihm willkommen, und er hatte ihnen bereits im Voraus alle Fehler vergeben, die sie in ihrem Leben begehen würden. Er versuchte sich an das Gesicht seines Vaters zu erinnern, als er mit dem Mähen fertig gewesen war, aber es gelang ihm nicht, es war wie ausradiert durch die Anstrengung seines Gedächtnisses. Wenn er sich nur erinnern könnte, dann könnte er sich selbst vergeben.
»Dad«, sagte David, »dein Telefon klingelt.«
Will fragte sich, wie lange es wohl schon geklingelt haben mochte. Er zog das Telefon aus der Tasche.
»Ich bin’s, Charlie.« Er klang leicht gehetzt.
»Bist du schon am Haus?«, fragte Will. »Ich musste nämlich …«
»Ich wollte dir nur sagen, dass wir spät losgekommen sind. Val fühlte sich gestern Abend nicht recht wohl, und sie macht sich Sorgen um das Baby. Der Gynäkologe hat ihr geraten, lange zu schlafen, bevor wir losfahren würden, aber jetzt sind wir auf dem Weg.«
»Ist alles okay mit ihr?« Weitere Stunden des Wartens klafften vor Will auf. War es ein Fehler gewesen, trotz Vals Schwangerschaft die Hilfe der beiden in Anspruch zu nehmen? Aber es war ihr doch gut gegangen, und das Baby sollte erst in drei Monaten kommen. »Vielleicht sollte sie besser zu Hause bleiben, Charlie. Du könntest doch allein kommen.«
»Jetzt sitzen wir schon im Auto«, sagte Charlie. »Um die Mittagszeit müssten wir bei euch sein.«
Eine Frau in einem weißen Kittel eilte auf Will zu. Sie trug ein Schild mit der Aufschrift Dr. Mary Lao, Kinderärztin.
»Also schön«, sagte Will. »Bis dann.«
Bevor er das Handy zuklappen konnte, griff Doktor Lao nach Maxi, die an Wills Schulter eingeschlafen war. »Kommen Sie mit«, forderte sie Will auf. Er nahm David und Sammy an die Hand und folgte ihr durch die Schwingtüren, die auch die verletzte Familie geschluckt hatten. Unter hellem Neonlicht war ein ganzes Team von Ärzten mit der blutüberströmten Mutter beschäftigt.
Doktor Lao eilte weiter, bis sie einen freien Untersuchungstisch gefunden hatte. Sie legte Maxi sanft ab, zog sich ein Paar Gummihandschuhe über, drückte Maxis rechtes Auge auf und leuchtete mit einer kleinen Stablampe direkt hinein. Die Pupille verengte sich in einem schnellen Reflex. Doktor Lao wiederholte die Prozedur mit dem linken Auge. Mit dem Finger prüfte sie Maxis Puls. Als sie dann die Spitze eines elektronischen Thermometers in Maxis Ohr schob, schrie die Kleine auf.
Doktor Lao nickte. »Seit wann hat sie schon diese Ohrenentzündung?«
»Meine Frau war am Samstag mit ihr beim Arzt.« Will reichte Doktor Lao die Flasche mit dem Antibiotikum. Sie sah sich das Etikett an und kam schnell zu demselben Schluss wie Will kurz zuvor.
»Sie hat ihre Medizin nicht bekommen«, sagte Doktor Lao. »Die Entzündung hat sich in die Nebenhöhlen ausgebreitet. Sie hat über vierzig Fieber, und das ist zu hoch. Ich muss sie einweisen und sofort intravenös mit Medizin versorgen. Danach dürfte es ihr besser gehen, aber zu Hause muss sie unbedingt ihr Antibiotikum nehmen, und zwar über den gesamten Zeitraum. Ist das ein Problem?«
»Nein«, antwortete er. »Ich kann erklären, was geschehen ist.«
»Gleich. Erst müssen wir uns um sie kümmern.« Doktor Lao winkte eine Krankenschwester heran. »Bringen Sie dieses Baby hinauf in die Drei. Ich bin gleich da.«
Als die Krankenschwester mit Maxi verschwand, stürzte Sarah herein. Doktor Lao musterte sie kurz. Erst jetzt schien sie David und Sammy zu bemerken. »Sind das auch Ihre Kinder?«, fragte sie Will.
»Ja.«
»Manchmal gehen die Kleinen im Trubel unter, was?« Doktor Lao lächelte nicht. »Sorgen Sie dafür, dass Ihre Tochter sämtliche Dosen der Medizin bekommt, nachdem wir sie entlassen haben. Das hier hätte sehr ernst ausgehen können.«
»Es ist meine Schuld«, sagte Sarah.
»Nein.« Will drückte sanft Sarahs Arm. »Ich übernehme die volle Verantwortung. Sie ist mein Kind.«
»Wo ist die Mutter?«, fragte Doktor Lao. »Ich würde auch gern kurz mit ihr sprechen.«
Will hatte nicht die geringste Ahnung, wie er die Frage beantworten sollte. Er fühlte sich auf einmal wieder wie damals, als er vier war und mit seinen Cousins das Jack Sprat Funhouse besucht hatte. Seine drei Cousins tobten um ihn herum und schauten sich lachend ihre Zerrbilder in der Vielzahl gebogener Spiegel an. Er stand wie angewurzelt auf einem Fleck. An der Decke über ihm befand sich ein gewölbter Spiegel, und als er nach oben blickte, sah er sich selbst, ganz allein, platt gedrückt. Als er zu weinen anfing, schienen seine Tränen riesengroß.